Die Kirche hat Missbrauchbetroffene lange allein gelassen.
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Hans-Walter Wegmann: «Bei Missbrauch gibt es keinen Mengenrabatt»

Wegen Hans-Walter Wegmann (77) und Eberhard Luetjohann (85) muss das Erzbistum Köln einem Missbrauchsopfer 300’000 Euro Schmerzensgeld zahlen. Die Anwälte haben damit einen Präzedenzfall geschaffen, der auch für die juristische Missbrauchsaufarbeitung in der Schweiz relevant ist. Das Interview.

Annalena Müller

Herr Wegmann, gegen das Erzbistum Köln haben Sie ein wegweisendes Urteil erwirkt. Das Bistum muss dem Missbrauchsopfer Georg Menne 300’000 Euro Schmerzensgeld zahlen. Sie bereiten aktuell eine weitere Klage vor – wollen Sie die Kirche zerstören?

Hans-Walter Wegmann*: Im Gegenteil. Ich bin Katholik und tief besorgt um meine Kirche, die einen Exodus der Menschen erlebt. Im Erzbistum Köln sind wir jetzt im August 2023 schon sehr nahe an den Austrittszahlen von 2022 dran. Die Leute rennen der Kirche davon – und sie kommen auch nicht zurück.

Und wie sollen der Kirche ausgerechnet kostspielige Schmerzensgeldverurteilungen «helfen»?

«Opfern wurde nicht geholfen, sondern gedroht.»

Wegmann: Weil die Kirche damit zur Verantwortung gezogen wird. Und sie begegnet den Opfern auf Augenhöhe. Besonders letzteres ist nicht zu unterschätzen.

Wie meinen Sie das?

Wegmann: Die Opfer berichten uns immer wieder Ähnliches. Die Amtskirche hat sie über Jahrzehnte für dumm verkauft. Wenn sie sich mit ihren Missbrauchserfahrungen hilfesuchend an die Kirche gewandt haben, wurde ihnen nicht geholfen, sondern gedroht. Man hiess sie schweigen und sagte ihnen, dass ihnen sowieso niemand glauben würde – das Wort eines Kindes gegen das eines Gottesmannes und so weiter.

Rosenkranz auf einem zerstörten Kinderfoto.
Rosenkranz auf einem zerstörten Kinderfoto.

Die Kirche hat die Opfer kleingehalten…

Wegmann: Genau. Da stehen die Opfer und auf der anderen Seite die Kirche, deren Vertreter Moral predigen, und die gleichzeig ihre eigenen Verbrechen vertuscht und die Opfer eingeschüchtert hat. Ein Gerichtsprozess hat auch eine Genugtuungsfunktion.

Im Gerichtssaal begegnen sich die ehedem schwachen Opfer und die übermächtige Institution auf Augenhöhe. Hier muss die Kirche von ihrem hohen Ross. Das ist ein Genugtuungsfaktor, der nicht zu unterschätzen ist. Für die Opfer, aber auch für die Millionen Katholiken und Katholikinnen, die wütend sind auf ihre Kirche, da sie sich nicht angemessen um die Opfer kümmert.

«Wir haben versucht, mit dem Erzbistum Köln ins Gespräch zu kommen und einen aussergerichtlichen Weg einzuschlagen.»

Um diese Genugtuung und Anerkennung zu erhalten, ist eine öffentliche Gerichtsverhandlung nötig?

Wegmann: Nicht unbedingt. Wir haben versucht, mit dem Erzbistum Köln ins Gespräch zu kommen und einen aussergerichtlichen Weg einzuschlagen. Aber das wurde abgelehnt. Wir wurden auf die UKA** verwiesen. Aber dort gibt es keine Begegnung auf Augenhöhe. Der Verweis auf die UKA ist ein Abschieben – sowohl der Opfer als auch der Verantwortung. Die UKA ist das Zahlbüro der Deutschen Bischofskonferenz.

Inwiefern?

Wegmann: Bei der UKA heisst es dann: «Ah, Sie wurden 240-mal vergewaltigt. Ja, schlimm. Hier, wir geben Ihnen 25’000 Euro. Nun seien Sie schön dankbar und vor allem: seien Sie still.» Das einzelne Bistum, in unserem Fall das Erzbistum Köln, wird nicht zur Rechenschaft gezogen.

Sie beziehen sich auf den Fall Menne. Die UKA hat Herrn Menne 25’000 Euro bezahlt. Aber die Summe erschien Ihnen und Herrn Luetjohann zu gering. Gibt es einen Preis für erfahrenes Leid?

Wegmann: Nein. Aber es gibt auch keinen Mengenrabatt. 50 Vergewaltigungen à 500 und 100 à 250 Euro? Das habe ich dem Richter hier in Köln übrigens auch so gesagt. Allerdings geht es auch im Fall Menne nicht allein um die Höhe der Entschädigung, sondern um Genugtuung auf Augenhöhe.

«Man kann sein Recht – zum Beispiel das auf juristische Verjährung – verwirken.»

Wir wollten erreichen, dass das Erzbistum Köln gegenüber Herrn Menne anerkennt, dass die Bistumsführung von dem Leid wusste, das ihm angetan wurde. Und dass sie dieses systematisch vertuscht hat. Und weil Kardinal Woelki dazu nicht bereit war, haben wir den Fall schliesslich vor ein Gericht gebracht.

Eine Besonderheit im Fall Menne ist, dass er rechtlich verjährt war. Wie haben Sie Kardinal Woelki dazu gebracht, auf den Einspruch der Verjährung zu verzichten?

Wegmann: Wir waren selbst überrascht, dass Woelki auf den Einspruch verzichtet hat. Das hat er übrigens erst wenige Stunden vor dem Prozessbeginn bekanntgegeben. Wir haben es aus den Medien erfahren. «In diesem besonderen Fall», waren seine Worte.

In der Schweiz liegen Genugtuungszahlungen niedriger als in anderen europäischen Ländern.
In der Schweiz liegen Genugtuungszahlungen niedriger als in anderen europäischen Ländern.

Auch in der Schweiz muss ein Verjährungsverzicht ausdrücklich erklärt werden. Was hätten Sie gemacht, wenn sich Kardinal Woelki auf die Verjährung berufen hätte?

Wegmann: In diesem Fall hätten wir mit dem Rechtsinstitut der Verwirkung argumentiert. Man kann sein Recht – zum Beispiel das auf juristische Verjährung –  verwirken, wenn man aktiv vertuscht. Damit verhindert man ja – aktiv und bewusst – dass eine juristische Aufklärung im dafür vorgesehenen Zeitraum überhaupt möglich wäre. Es widerspräche also dem Rechtsbegriff der guten Sitten…

… welches in der Schweiz das Obligationsrecht regelt…

Wegmann: … sich auf Verjährung zu berufen. Meines Erachtens wären wir bereits mit dieser Argumentation vor Gericht erfolgreich gewesen. Ansonsten gäbe es noch andere juristische Argumente, um die Verjährungseinrede auszuhebeln.

Wollte Kardinal Woelki mit seinem Verzicht der Aushebelung zuvorkommen und so einen Präzedenzfall vermeiden?

Wegmann: Das kann sehr gut sein. Wir werden sehen, wie sich Kardinal Woelki im aktuellen Fall um Melanie F. verhält – da steht er ja wieder vor der gleichen Frage.

«Das Bistum hat Melanie F. einfach ihrem Schicksal überlassen.»

Worum geht es in dem Fall?

Wegmann: Melanie F. wurde von ihrem Pflegevater, dem früheren Priester Hans-Bernhard U. in den 1970er und 80er Jahren missbraucht. Er hat auch eine erzwungene und ihr verheimlichte Abtreibung vornehmen lassen. Hans-Bernhard U. wurde letztes Jahr wegen 110 Missbrauchstaten an anderen Kindern zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Wie im Fall Menne trägt hier neben dem Täter auch die Institution Kirche – genauer, das Erzbistum Köln – grosse Schuld.

Weil es vertuscht hat?

Wegmann: Ja. Und im Fall Melanie F. wiegt die Schuld des Bistums noch schwerer als im Fall Menne. Der damalige Erzbischof Kardinal Höffner (†1987) hatte Hans-Bernhard U. ausdrücklich gestattet, Melanie F. als Pflegetochter aufzunehmen und dies sogar mit dem «Wohle des Kindes» begründet. Zu keinem Zeitpunkt wurde das Verhalten des Pflegevaters kontrolliert. Es wurde nie geschaut, wie es dem Mädchen im Pfarrhaus ergeht. Das Bistum hat Melanie F. einfach ihrem Schicksal überlassen.

Sie fordern 850’000 Euro Schmerzensgeld. Wie kommen Sie auf die Summe?

Wegmann: Das ist sehr schwierig, weil man einen Preis auf menschliches Leid setzen muss. Wir sind uns natürlich bewusst, dass ein zerstörtes Leben auch durch eine hohe Summe nicht wieder ganz gemacht wird. Und Hans-Bernhard U. hat das Leben von Melanie F. nachhaltig zerstört.

«Dem Gericht stellt sich nun die fürchterliche Frage, was das zerstörte Leben der Melanie F. und das des ungeborene ihres Kindes wert sind.»

Melanie F. war magersüchtig. Sie wog als Fünfzehnjährige nur 30 Kilo und sie fügte sich Verletzungen zu, um überhaupt etwas von ihrem geschundenen Körper zu spüren. Hinzu kommt die dem Opfer verheimlichte Abtreibung – also ein Eingriff, den der Papst selbst als Mord bezeichnet. Dem Gericht stellt sich nun die fürchterliche Frage, was die zerstörten Leben von Melanie F. und ihres ungeborenen Kindes wert sind.

Melanie F. wusste nichts von der Abtreibung.
Melanie F. wusste nichts von der Abtreibung.

Eberhard Luetjohann und Sie sind die ersten Anwälte in Deutschland, welche die Kirche vor einem staatlichen Gericht zur Rechenschaft ziehen – wie kommt das?

Wegmann: Wir sind die ersten, aber werden nicht die einzigen bleiben. Im Herbst werden weitere Klagen, auch gegen andere Bistümer, vor deutschen Gerichten landen. Warum es vor uns niemand gemacht hat, ist keine ganz einfache Frage – ich vermute vor allem zwei Gründe.

Welche?

Wegmann: Zum einen haben die Staatsanwaltschaften in Deutschland sich lange nicht zuständig gefühlt. Man hat schlicht nicht genau hingeschaut und auch nicht hinschauen wollen. Hausdurchsuchungen –  wie kürzlich in München oder Köln –  waren bis vor einigen Jahren schlicht undenkbar. Rechtlich war es schon immer möglich, aber faktisch hat man sich an die Kirche nicht herangetraut.

«Ich will, dass sich meine Kirche ihren Problemen stellt und Verantwortung übernimmt.»

Und der zweite Grund?

Wegmann: Es gab bisher keine vergleichbaren Fälle, auf die man sich hätte beziehen können. Wenn es keine Präzedenz gibt, ist es sehr viel Arbeit, eine Klage vorzubereiten. Auch das finanzielle Risiko darf man nicht vergessen. Anwälte verdienen nur, wenn sie gewinnen. Wenn unklar ist, ob ein Prozess überhaupt Erfolgsaussichten hat und dessen Vorbereitung dazu noch so komplex und langwierig ist, weil es keine Präzedenzfälle gibt, dann kann das abschreckend wirken.

Sie und Eberhard Luetjohann hat das nicht abgeschreckt – warum?

Wegmann: Es mag eine Rolle spielen, dass wir beide schon deutlich jenseits der siebzig sind. Wir haben eventuell mehr Zeit, Erfahrung und weniger Druck als jüngere Kollegen und Kolleginnen. Aber natürlich kommt hier auch eine persönliche Motivation hinzu.

Inwiefern?

Wegmann: Ich bin Katholik und ich will, dass sich meine Kirche ihren Problemen stellt und Verantwortung übernimmt. Es ist der einzige Weg, damit es der Kirche wieder besser gehen kann. Die Menschen müssen sehen, dass die moralpredigende Kirche selbst moralisch handelt.

«Klerikaler Missbrauch ist ein systemisches Problem der Kirche.»

Die Kirche kann den Menschen nicht den moralischen Weg weisen, ohne selbst bereit zu sein, diesen Weg zu gehen. Nur so kann die Kirche wieder Glaubwürdigkeit gewinnen.

In der Kirche tobt aktuell ein Kultur-Kampf zu den Ursachen des Missbrauchs. Die einen sagen, er sei systemisch, die anderen, er sei das Resultat des Liberalismus der 1968er. Was sagen Sie dazu?

Wegmann: Das ist kompletter Unsinn, den die Erzkonservativen verzapfen. Kardinal Müller zum Beispiel…

… oder Georg Gänswein…

Wegmann: Kompletter Unsinn. Klerikaler Missbrauch ist ein systemisches Problem der Kirche. Sie sind doch Historikerin, oder?

Ja.

Wegmann: Dann wissen Sie sicher, dass der Kirchenlehrer Petrus Damiani schon im 11. Jahrhundert die «Knabenliebe» der Priester kritisiert hat. So zu tun, als hätte die Liberalisierung der Sexualmoral seit den 1968ern zur Verderbtheit einer zuvor unschuldigen Priesterschaft geführt, ist hanebüchen. Und es ist geschichtsvergessen.

In seinen Memoiren gibt Georg Gänswein den '68ern die Schuld am klerikalen Missbrauch.
In seinen Memoiren gibt Georg Gänswein den '68ern die Schuld am klerikalen Missbrauch.

Die Schweiz steht noch an den Anfängen einer systematischen Aufklärung. Am 12. September wird eine nationale Vorstudie veröffentlicht. Welche Tipps haben Sie für Ihre Schweizer Kollegen?

Wegmann: Rein rechtlich muss man eine gesetzliche Anspruchsgrundlage haben. In Deutschland haben wir diese gemäss § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuches und mit Artikel 34 des Grundgesetzes. Dort ist festgehalten, dass, wenn ein Amtsträger einem Dritten gegenüber seine Amtspflicht verletzt, die Verantwortlichkeit grundsätzlich bei der Körperschaft liegt, in dessen Dienst die Person steht. Hier also der Kirche, die nach ständiger Rechtsprechung voll für ihre Priester haftet, sogar für deren Missbrauchstaten. Wenn man die entsprechende Anspruchsgrundlage im Schweizer Recht identifiziert hat, kann man davon ausgehend den Anspruch des Opfers aufbauen.

«Verantwortung zu übernehmen ist die Voraussetzung, um wieder eine ernstzunehmende moralische Institution zu werden.»

Das kantonale Verwaltungsrecht kennt ähnliche Regelungen. Ihm unterstehen die Landeskirchen, bei den Bistümern dürfte es im dualen System anders aussehen als in Deutschland.

Wegmann: Die genauen Modalitäten und Zuständigkeiten müssen Schweizer Rechtsexperten prüfen. So oder so ist die juristische Auseinandersetzung nur ein Schritt im Aufarbeitungsprozess. Aber sie kann ein Schritt in Richtung Gerechtigkeit sein. Ein Schritt, der erlaubt, den Opfern zu helfen und ihnen endlich Genugtuung zu geben. Gleichzeitig erlaubt dies der Kirche, Verantwortung zu übernehmen. Und das ist die Voraussetzung, um wieder eine moralische Institution zu werden, die bereit ist, nach den eigenen Grundsätzen zu handeln.

*Hans-Walter Wegmann ist Jahrgang 1946 und stammt aus Bonn. Er ist praktizierender Katholik und verheiratet. Zusammen mit Eberhard Luetjohann (85) prozessiert er für Schmerzensgeldzahlungen von der katholischen Kirche an Missbrauchsopfer. Die Arbeit wird den beiden Anwälten so schnell nicht ausgehen – bisher haben rund 300 Menschen sie um Hilfe gebeten. Laut Wegmann wächst deren Zahl beständig.

**UKA steht für «Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen»

Die Deutsche Bischofskonferenz hat die Kommission zum 1. Januar 2021 ins Leben gerufen. Die UKA entscheidet darüber, wie viel Geld Missbrauchsbetroffenen in Anerkennung des ihnen zugefügten Leids erhalten.

Bis zum 31. Dezember 2022 hat die UKA in 1839 Fällen auf Anerkennungsleistung entschieden. Im Mittel wurde jedem Opfer 22’150 Euro zugesprochen.


Die Kirche hat Missbrauchbetroffene lange allein gelassen. | © Harald Oppitz/KNA
13. August 2023 | 17:00
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