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Story der Woche

Kirche vor Gericht: Warum das Kölner Missbrauchsurteil für die Schweiz wichtig ist

Das Erzbistum Köln muss 300’000 Euro Schmerzensgeld für einen verjährten Missbrauch zahlen. Hans-Walter Wegmann ist einer der beiden Anwälte, die das Kölner Urteil erwirkt haben. Der praktizierende Katholik will Missbrauchsopfern und der Kirche helfen. Ist der Kölner Fall auf die Schweiz übertragbar?

Annalena Müller

Hans-Walter Wegmann (77) ist Rheinländer. Das verraten sein Dialekt und sein katholisches Selbstverständnis. Wegmann ist ausserdem einer der beiden Anwälte, die vom Erzbistum Köln 300’000 Euro Schmerzensgeld erstritten haben. Für Missbräuche, die zwischen 1970 und 1979 geschahen und deswegen lange verjährt sind.

Das Kölner Urteil, das seit letzter Woche rechtskräftig ist, ist auch in der Schweiz auf mediales Interesse gestossen. Wenn die Verjährung umgehbar ist, könnte es im Rahmen der beginnenden Missbrauchsaufarbeitung auch vor Schweizer Gerichten zu ähnlichen Klagen kommen. Grund genug, um Hans-Walter Wegmann für ein Interview anzufragen.

Praktizierender Katholik

Das Gespräch mit Wegmann dauert eine gute Stunde. Wegmann ist praktizierender Katholik, aber der «bodenständigen» Art. Das heisst: katholisch: ja; klerikal: nein. Die Skandale der Kirche haben ihn erschüttert. Sein sanfter rheinischer Singsang bekommt eine gewisse Schärfe, wenn er über das lebensprägende Leid von Missbrauchsbetroffenen spricht.

Der Anwalt Hans-Walter Wegmann begrüsst die Entscheidung der UKA.
Der Anwalt Hans-Walter Wegmann begrüsst die Entscheidung der UKA.

Auf die Frage, was ihn und seinen Kompagnon Eberhard Luetjohann (85) motiviere, antwortet Wegmann: Er wolle den Opfern helfen, Genugtuung zu erhalten. Auch der Kirche will Wegmann helfen. Rechtsprozesse zwängen die Kirche, Verantwortung zu übernehmen. Dies sei die Voraussetzung, damit sie «wieder eine ernstzunehmende moralische Institution werden kann.»

Doppelte Präzedenz

Eigentlich könnten Hans-Walter Wegmann und Eberhard Luetjohann ihren Lebensabend geniessen. Als Juristen müssen sie niemandem etwas beweisen. Dass sie dennoch Gesetzestexte, Fachliteratur und Akten wälzen, um Präzedenzen zu schaffen, zeugt von einem Eifer, der auch auf Überzeugungen gründet.

Seit Januar 2021 leistet die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) der Deutschen Bischofskonferenz freiwillige Entschädigungszahlungen. Im Mittel liegen diese bei ungefähr 22’000 Euro, wie das ZDF berichtet. Die Beiträge der UKA orientieren sich an den üblichen Schmerzensgeldansätzen, die deutsche Gerichte zusprechen. Aber diese stünden in keinem Verhältnis zum erlittenen Leid und den «nachhaltig zerstörten Leben» der Betroffenen, findet Wegmann.

Bischof Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz (DBK)
Bischof Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz (DBK)

In der Schmerzensgeldhöhe liegt eine weitere Besonderheit des Kölner Urteils. Die gesprochene Summe von 300’000 Euro ist ausserordentlich hoch verglichen mit früheren Urteilen in nicht-klerikalen Missbrauchsprozessen. Das Kölner Urteil habe die bestehende Rechtsprechung «der Höhe nach pulverisiert», sagt Wegmann.

Der Fall Menne

Der Missbrauch, den das Kölner Landgericht verhandelte, ist in seinem Ausmass nur schwer zu begreifen. Mehr als 200-mal wurde Georg Menne (64) als Minderjähriger vergewaltigt. Der Täter war der mittlerweile verstorbene Erich Jansen, Priester des Erzbistums Köln. Jansen wurde nie zur Rechenschaft gezogen. Die Bistumsoberen haben seine Taten über Jahrzehnte hinweg vertuscht.

Georg Menne erhält 300'000 Euro Schmerzensgeld vom Bistum Köln. Nun will die UKA ihre Zahlungen nach oben korrigieren.
Georg Menne erhält 300'000 Euro Schmerzensgeld vom Bistum Köln. Nun will die UKA ihre Zahlungen nach oben korrigieren.

Georg Mennes Leid und sein Kampf um Anerkennung sind gut dokumentiert. Deshalb eignete sich der Fall für das Vorhaben von Luetjohann und Wegmann: eine Präzedenz zu schaffen, um die katholische Kirche auch für Fälle zur Verantwortung zu ziehen, die rechtlich verjährt sind. Und um Schmerzensgeldhöhen zu erwirken, welche die lebenslangen Folgekosten, die durch Missbrauch entstehen, begleichen. Gleichzeitig soll die Summe auch eine Anerkennung des erfahrenen Leids sein. Die 22’000 Euro, welche die UKA im Mittel an Opfer auszahlt, sei dies nicht.

Rechte können verwirkt werden

Im Interview mit kath.ch erläutert Wegmann, wie er und Luetjohann das juristische Problem der Verjährung angegangen sind. Laut Wegmann gibt es in Deutschland verschiedene Möglichkeiten, die Verjährung zu kippen. Man könne sein Recht auf Verjährung zum Beispiel verwirken, wenn man eine Straftat vertuscht hat. Denn durch Vertuschung «verhindert man ja – aktiv und bewusst –, dass eine juristische Aufklärung im dafür vorgesehenen Verjährungszeitraum überhaupt möglich wäre».

Das Urteil des Richters
Das Urteil des Richters

Luetjohann und Wegmann hatten diese sowie andere Argumentationen minutiös ausgearbeitet, um die Verjährung im Fall Menne auszuhebeln. Schlussendlich mussten sie diese allerdings nicht anwenden. Denn Kardinal Woelki entschied in letzter Minute «in diesem besonderen Fall» auf den Einspruch der Verjährung zu verzichten. Eventuell wollte Woelki derart die Schaffung eines Präzedenzfalls vermeiden.

Weitere Fälle vor Gericht

Wegmann geht davon aus, dass sich früher oder später ein Bistum auf Verjährung berufen wird. Denn auf das Kölner Präzedenzurteil folgen nun weitere Klagen, auch in anderen Bistümern. Wie diese Woche bekannt wurde, muss sich der Aachener Bischof Helmut Diesen mit der Frage auseinandersetzen. Ein Missbrauchsopfer fordert 600’000 Euro vom Bistum. Der Mann wurde über mehrere Jahre hinweg von kirchlichen Angestellten missbraucht.

In Traunstein geht es auch um sein Erbe: Papst Benedikt XVI.
In Traunstein geht es auch um sein Erbe: Papst Benedikt XVI.

Vor dem Landgericht Traunstein ist ebenfalls ein Fall hängig, der sich gegen das Bistum München-Freising und mittelbar auch gegen den verstorbenen Papst Benedikt XVI. richtet. «Im Herbst werden weitere Klagen vor deutschen Gerichten landen», sagt Wegmann gegenüber kath.ch. Dabei dürften sich die Rechtsvertreter und Rechtsvertreterinnen an den Argumentationen von Luetjohann und Wegmann orientieren.

Anspruchsgrundlage identifizieren

Das Schweizer und das deutsche Recht haben viele Ähnlichkeiten. Daher interessiert auch hierzulande, was beim nördlichen Nachbarn geschieht. Im Interview erläutert Wegmann die juristische Herangehensweise bei Fällen, die juristisches Neuland betreten. In dem konkreten Fall: die Haftbarmachung der Kirche für Missbrauchsfälle, die ihre Vertreter begangenen haben.

Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki muss 300 000 Euro an Georg Menne zahlen. Die nächste Klage steht schon an.
Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Woelki muss 300 000 Euro an Georg Menne zahlen. Die nächste Klage steht schon an.

Zunächst müsse man eine «gesetzliche Anspruchsgrundlage» identifizieren. In Deutschland seien die Haftungsgesetze im Bürgerlichen Gesetzbuch und in der Verfassung festgeschrieben. Wenn ein Amtsträger seine Amtspflicht verletzt, dann haftet der Dienstherr dafür. Auf die Kirche übertragen heisst das: Wenn ein Priester ein ihm anvertrautes Kind missbraucht, kann die Kirche als Institution haftbar gemacht werden. In Deutschland sind die haftbaren Körperschaften die Bistümer. In der Schweiz ist die Lage wegen des dualen Systems etwas anders.

In der Schweiz müssten wohl die Kantone haften

Urs Brosi, Kirchenrechtler und Generalsekretär der RKZ, geht davon aus, dass in der Schweiz Kirchgemeinden und Landeskirchen für Missbrauchstaten ihrer Mitarbeitenden haftbar gemacht werden können. Denn bei ihnen würde die sogenannte Staatshaftung greifen. Das heisst, der Grundsatz, wonach öffentlich-rechtliche Körperschaften für Schäden haften, die Behörden oder Personen in ihrem Dienst «durch rechtswidrige amtliche Tätigkeit oder Unterlassung verursacht haben.»

RKZ-Generalsekretär Urs Brosi ist Kirchenrechtler.
RKZ-Generalsekretär Urs Brosi ist Kirchenrechtler.

«Das schliesst in zahlreichen Kantonen auch die Kirchgemeinden und Landeskirchen ein», sagt Brosi. So seien im Kanton Luzern die Landeskirchen ausdrücklich dem Haftungsgesetz unterstellt. In anderen Kantonen seien sie mitgemeint, wenn alle «Organisationen des öffentlichen Rechts» für ihre Mitarbeitenden haften. Der Kanton Bern müsste laut Brosi gar selbst geradestehen, wenn eine Organisation des kantonalen Rechts nicht für ihren Schaden aufzukommen vermag.

Haftung der Bischöfe denkbar

Laut Brosi dürften die Schweizer Bistümer nicht unter die Staatshaftung fallen: «Sie sind in der Regel keine öffentlich-rechtlichen Körperschaften, und sie sind nicht Arbeitgeber für die Mitarbeitenden in den Pfarreien.»

Felix Gmür ist Präsident der Schweizer Bischofskonferenz. Er muss sich auf einen heissen Herbst einstellen.
Felix Gmür ist Präsident der Schweizer Bischofskonferenz. Er muss sich auf einen heissen Herbst einstellen.

Denkbar sei jedoch, dass Landeskirchen und Kirchgemeinden im Fall von Genugtuungszahlungen nicht nur Rückgriff auf den Täter nähmen, sondern auch auf die Verantwortlichen des Bistums. «Falls diese ihre Personalverantwortung grobfahrlässig oder rechtswidrig ausgeübt haben, beispielsweise indem sie eine anstellende Behörde nicht über bekannte Risiken eines Seelsorgers informiert haben.» Allerdings verweist Brosi bei diesen Fragen darauf, dass es sich in der Schweiz um Neuland handle und daher die «juristischen Klippen noch nicht ausgelotet» seien.

Juristische Hürde Verjährung

Wie in Deutschland dürfte auch in der Schweiz die Verjährung eine grosse juristische Hürde darstellen. Brosi bezweifelt, dass sie hierzulande mittels «Verwirkung» geknackt werden könne. Schlicht, weil die Bestimmungen zur Unterbrechung oder zur Hemmung der Verjährung im Schweizer Recht anders seien als im deutschen. Auch verweist Brosi darauf, dass die Frage für Deutschland bisher eine theoretische sei, da sie in Köln nicht zur Anwendung kam.

Für Hans-Walter Wegmann ist die juristische Auseinandersetzung nur ein Schritt im Aufarbeitungsprozess. «Ein Schritt, der erlaubt, den Opfern zu helfen und ihnen Genugtuung zu geben.» Auch für die Kirche sei es ein wichtiger Schritt. Denn sie müsse auch juristisch Verantwortung übernehmen. Das sei die Voraussetzung «um wieder eine moralische Institution zu werden, die bereit ist, nach den eigenen Grundsätzen zu handeln.»

Das vollständige Interview mit Hans-Walter Wegmann erscheint am Sonntag, den 13. August um 17.00 Uhr.


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11. August 2023 | 17:00
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