Liliane Gross
Schweiz

Liliane Gross über Kölner Missbrauchs-Entscheid: «Das kann auch in der Schweiz passieren»

Das Bistum Köln muss 300’000 Euro Schmerzensgeld in einem Missbrauchsfall bezahlen. Das Besondere: der Fall ist verjährt. In der Schweiz schaut man mit besonderem Interesse auf Köln. Am 12. September wird die nationale Vorstudie zu Missbräuchen in der Schweizer Kirche veröffentlicht. Obwohl die Juristin Liliane Gross keine Klagewelle erwartet, sagt sie, dass das Kölner Urteil durchaus Signalwirkung für die Schweiz haben könnte.

Annalena Müller

Das Bistum Köln wurde zu Schadensersatzzahlung von 300’000 Euro verurteilt. Die Besonderheit an dem Fall: er war lange verjährt – Könnte dies in der Schweiz prinzipiell auch passieren?

Liliane Gross*: Ich kenne den Fall nur aus den Medien. Eine Urteilsbegründung des Gerichts liegt noch nicht vor, weshalb ich nur unter Vorbehalt antworten kann. Was ich sagen kann: Auch im schweizerischen Zivilprozessrecht muss ein sogenannter Verjährungsverzicht ausdrücklich erklärt werden. Das heisst also, wenn die beklagte Partei darauf verzichtet, sich auf die Verjährung zu berufen, kann sie auch für eine bereits verjährte unerlaubte Handlung verurteilt werden. Grundsätzlich kann so ein Fall also auch in der Schweiz passieren.

«Grundsätzlich kann so ein Fall also auch in der Schweiz passieren.»

Das Bistum Köln hat wegen der Schwere des Missbrauchs darauf verzichtet, Einspruch wegen Verjährung zu erheben – hat dieser Verzicht den Prozess erst möglich gemacht?

Gross: Wenn das deutsche Recht die gleiche Regelung in Bezug auf den Verjährungsverzicht kennt, dann trifft das wohl zu.

Woelki konnte es sich nicht leisten, auf die Verjährung zu pochen: Der Imageverlust wäre nicht wieder gut zu machen.
Woelki konnte es sich nicht leisten, auf die Verjährung zu pochen: Der Imageverlust wäre nicht wieder gut zu machen.

Das Bistum befand sich in einem moralischen Dilemma. Hätte es rechtlich auf der Verjährung bestanden, dann hätte kein Prozess stattfinden können. Aber der Rufverlust für das Bistum wäre enorm gewesen. Auch weil der Missbrauchsfall besonders grausam war und weil frühere Bistumsleitungen um diesen wussten. Welche Rolle können solche moralischen Fragen bei möglichen Prozessen in der Schweiz spielen?

Gross: Grundsätzlich werden Zivilprozesse nicht unter dem Gesichtspunkt von Moral beurteilt, sondern danach, ob die Voraussetzungen für eine Klage gegeben sind oder nicht. Ob man aus moralischen Gründen einen Verjährungsverzicht erklärt, ist daher die Entscheidung der beklagten Körperschaft. Wobei in der Schweiz hier Unterschiede gelten, je nachdem, ob ein Bistum oder eine Kantonalkirche verklagt würde.

«Ein Bistum ist als juristische Person des kirchlichen Rechts freier.»

Inwiefern?

Gross: Ein Bistum ist eine juristische Person des kirchlichen Rechts. Als solche ist sie freier, sich aus einer moralischen Verpflichtung zu einem juristisch nicht mehr durchsetzbaren Anspruch zu bekennen.

Und die Kantonalkirchen?

Gross: Die Kantonalkirchen sind öffentlich-rechtliche Körperschaften. Als solche sind zu einem sorgsamen Umgang mit Steuergeldern verpflichtet. Nach meiner Einschätzung dürften sie daher nicht ohne Weiteres rein aus moralischen Gründen einen Verjährungsverzicht erklären. Auch in Deutschland scheint die Steuergeldfrage eine Rolle zu spielen. Interessanterweise betont das Erzbistum Köln, dass die Summe von 300’000 Euro nicht aus Kirchensteuergeldern bezahlt werde, sondern aus einem besonderen Fonds.

«Eine Klagewelle erwarte ich nicht.»

Eine weitere Besonderheit – nicht das Bistum Köln, sondern die Kirche wurde in Deutschland verklagt – warum ist das juristisch wichtig? Und wie sieht die Schweizer Rechtslage aus?

Gross: Gemäss meinen Informationen aus den Medien wurde sehr wohl das Erzbistum Köln beklagt – als juristische Person des kirchlichen Recht, bei welcher der Täter im konkreten Fall zum damaligen Tatzeitpunkt angestellt war. Die Kirche als Gemeinschaft aller Gläubigen kann meines Erachtens mangels Rechtspersönlichkeit nicht verklagt werden.

«Das in Köln zugesprochene Schmerzensgeld von 300’000 Euro ist sehr hoch.»

Am 12. September wird die Vorstudie veröffentlicht. Erwarten Sie eine Klagewelle nach dem Kölner Vorbild?

Gross: Wir kennen die Ergebnisse der Studie noch nicht. Eine Klagewelle erwarte ich nicht, weil sich die Zahlungen der Genugtuungskommission, die sich in der Spanne zwischen 10’000 und 20’000 Franken in einem Bereich bewegen, welche auch Schweizer Gerichte in Sexualstraffällen als Genugtuung zusprechen. Das in Köln zugesprochene Schmerzensgeld von 300’000 Euro ist gegenüber den Summen, welche Schweizer Gerichte in der Regel zusprechen, sehr hoch.

«Grundsätzlich kann aber keine noch so grosse Geldzahlung einen sexuellen Missbrauch wiedergutmachen.»

In Deutschland waren Zahlungen in ähnlicher Höhe bisher Usus – aber besonders bei mehrjährigen Missbrauchsfällen scheint die Summe vielen als zu gering …

Gross: Es ist durchaus denkbar, dass vor dem Hintergrund des Kölner Urteils generell die Höhe von Genugtuungszahlungen in solchen Fällen zum Thema wird. Grundsätzlich kann aber keine noch so grosse Geldzahlung einen sexuellen Missbrauch «wiedergutmachen». Sie kann gegenüber der geschädigten Person nur eine Anerkennung der Schuld und die Übernahme von Verantwortung zum Ausdruck bringen.

*Liliane Gross ist Juristin und stellvertretende Generalsekretärin des Synodalrats der Katholischen Kirche im Kanton Zürich. Sie hat sich schriftlich zu den Fragen geäussert.


Liliane Gross | © zVg
24. Juni 2023 | 12:00
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