Die Bruderschaft an einer Gegendemonstration.
Religion anders

Hanka Nobis: «Ich wollte den wahren Ritter hinter der Rüstung finden»

Zurzeit läuft der Film «Polish Prayers» in unseren Kinos. Der Dokumentarfilm erzählt vom 22-jährigen Antek, der einer konservativ-katholischen und zölibatär lebenden Bruderschaft angehört. Dann bricht er plötzlich aus dieser Welt aus. Die polnische Regisseurin Hanka Nobis erzählt warum und wie sie den jungen Mann auf seiner Reise ins Ich begleitet hat.

Sarah Stutte

Was war die Grundidee zu «Polish Prayers»? Wollten Sie einen Film über eine konservative Bruderschaft machen und wenn ja, warum?

Hanka Nobis*: Ja, das war meine erste Intention. Ich komme aus einer sehr konservativen Stadt und war dort das einzige Scheidungskind – das war dort eine grosse Sache. Mit 23 Jahren bin ich auf Kundgebungen gegangen, um für Frauenrechte zu kämpfen. Irgendwann sah ich auf einer Demonstration einen Mann, der mich anlächelte. In dem Moment, als ich zurück lächeln wollte, merkte ich, dass er vermutlich eine andere politische Gesinnung hatte als ich, weil er Teil einer Gegenbewegung war.

Pyros an einer Demonstration.
Pyros an einer Demonstration.

Mir gefiel diese Emotion nicht, die mich dazu gebracht hat, ihn direkt zu verurteilen. Wir sind doch alle Menschen, warum versuchen wir einander nicht besser zu verstehen?

«Ich wollte diesen Menschen unvoreingenommen und nicht aus investigativem Interesse begegnen.»

In Polen gibt es oft nur dieses Schwarz-Weiss-Denken, was macht eine gute Polin, einen guten Polen aus? Ich wollte begreifen, wie diese Radikalität – ob links oder rechts – entsteht. Ein investigativer Dokumentarfilm kam für mich aber nicht in Frage, ich wollte mich offen zeigen und nicht verstecken.

Antek und die Bruderschaft

Wie haben Sie den Kontakt zu dieser spezifischen Bruderschaft hergestellt?

Nobis: Ich habe sie angeschrieben und gefragt, ob ich sie filmen dürfte und dann begleitete ich sie ein Jahr lang mit der Kamera. Ich versuchte mich dabei auf einige Mitglieder der Bruderschaft zu konzentrieren und die Freundschaft der Gruppe in den Vordergrund zu stellen. Als ich mir dann das erste Material anschaute, war ich nicht zufrieden. Obwohl ich versucht hatte, nah an das Geschehen heranzukommen, fühlte sich trotzdem alles noch sehr distanziert an. Ich war frustriert.

Antek ist Mitglied einer konservativ-katholischen Bruderschaft.
Antek ist Mitglied einer konservativ-katholischen Bruderschaft.

Wie sind Sie dann auf Antek gestossen und konnten sein Vertrauen gewinnen?

Nobis: Ich traf Antek in einem Trainingscamp der Bruderschaft in der Ukraine.

«Antek wollte seine Sorgen abladen.»

Während des Camps erzählten mir die anderen Mitglieder, dass er privat mit einigen Problemen kämpfte und deshalb eine Pause von der Bruderschaft genommen hatte. Das interessierte mich. Zudem wollte er sich auch mitteilen und sich seine Sorgen von der Seele reden. Also lud uns Antek nach dem Camp in seine Heimatstadt Breslau ein und wir beschlossen bald, den Fokus mehr auf ihn zu legen, als einen allgemeinen Blick auf die Gemeinschaft zu werfen.

Veränderung auf Zelluloid gebannt

Sie haben ihn fast fünf Jahre lang begleitet. Was war dabei das Schwerste für Sie?

Nobis: Ich wusste von Anfang an, dass es eine Veränderung in Anteks Leben geben würde. Ich spürte, dass er emotional nicht stabil war und nach etwas anderem suchte. Doch ich ahnte nicht, dass dieser Wechsel so drastisch und sichtbar sein würde. Als ich das mitbekommen habe, machte ich mir Gedanken. Was ist, wenn ich seine Reise irgendwie durch meinen Film beeinflusse?

Wohin führt mich mein Weg? Antek in Gedanken.
Wohin führt mich mein Weg? Antek in Gedanken.

Aber dann dachte ich, ich atme ein und betrachte das alles aus der Ferne.

«Es muss so ausgesehen haben, als hätte die Filmerei Antek verändert.»

Antek wird sich so oder so verändern, entweder mit Kamera oder ohne. Für die Bruderschaft oder auch Anteks Eltern muss es jedoch so ausgesehen haben, als wäre der Film schuld an seinem Wandel. Weil er ihnen lange nicht die Wahrheit darüber sagte, dass er erstens mit einem Mädchen zusammen ist und dieses auch noch moderne Ansichten vertritt.

Hätte er sich denn tatsächlich so schnell so radikal geändert, wenn er dabei nicht gefilmt worden wäre?

Nobis: Filmisch sieht es so aus, als wäre seine Veränderung schnell passiert, aber wir sprechen hier von einem Zeitraum von fünf Jahren. Am Anfang kam mir Antek ein bisschen wie ein Ritter vor – ein junger Mann, der aus der Zeit gefallen war. Der sich in der Gegenwart von Frauen zu benehmen weiss, der denkt, mutig sein zu müssen oder was auch immer. Ich wollte den wahren Ritter hinter der Rüstung finden. Einen Ritter, an den ich glauben konnte.

Schwierige Dreharbeiten

Wie war es für Sie als Frau, in dieser rein männlichen Gruppe einen Zugang zu finden?

Nobis: Das war schwierig. Ich hatte oft das Gefühl, dass alles als Mann zehnmal einfacher wäre. Ich musste also mehr Zeit investieren und mehr Arbeit leisten.

«Einige Menschen aus Anteks Umfeld sahen in mir Satan höchstpersönlich.»

Zudem wurde ich von Anteks Vater und seinen Kollegen von der Bruderschaft beobachtet. Sie waren ja schliesslich der Meinung, der Film würde ihn verändern und einige von ihnen dachten, dass ich Satan höchstpersönlich wäre, der ihn zu so einem Projekt verführt. Das war am schmerzhaftesten für mich, weil ich so viel in diesen Film hineingegeben habe und mich gleichzeitig mit dieser Ablehnung konfrontiert sah.

Vermummt an einer Demonstration.
Vermummt an einer Demonstration.

Sie und der Kameramann Miłosz Kasiura sind immer sehr nah bei Antek gewesen. Auch mitten in den rechtskonservativen Demonstrationen. Wie haben Sie dort die Stimmung erlebt? Hatten Sie auch einmal Angst?

Nobis: Nein, zumindest war mir das in den Momenten nicht bewusst. Als Kind habe ich selbst Erfahrungen gemacht mit häuslicher Gewalt und deshalb schon einiges gesehen. Auf den Demonstrationen war ich sehr adrenalingepeitscht, ich hatte keine Zeit mir Gedanken darüber zu machen, was passieren kann.

Gewalt als Mittel zur Überzeugung.
Gewalt als Mittel zur Überzeugung.

Es gab aber eine Frau in unserer Crew, die lesbisch ist und in dieser Umgebung natürlich nicht offen sein konnte. Sie musste sich sieben Stunden lang die ganzen hasserfüllten Parolen über ihre Kopfhörer anhören. So lange dauerte der Dreh dieser Szenen. Um sie habe ich mir Sorgen gemacht, wie sie das verkraftet. Aber sie hat das am Ende gut weggesteckt.

Der Hauptakteur mag den Film nicht

Wie war diese Zeit für Antek? Gab es irgendwann einen Moment, in dem er nicht mehr weitermachen wollte?

Nobis: Mit Sicherheit. Viele – auch aus der Bruderschaft – haben nicht daran geglaubt, dass wir den Film beenden können. Schliesslich hatten wir mit finanziellen Problemen zu kämpfen und die Handlung mag für Aussenstehende vielleicht auch zu kryptisch gewesen sein.

«Antek selbst wollte nicht, dass wir zu filmen aufhören.»

Wir waren die ganze Zeit mit den Dreharbeiten beschäftigt und so im Prozess drin, wir konnten nicht gut beschreiben, was wir gerade machen und wohin der Weg uns führt. Antek selbst hat mir aber nie gesagt, dass er aufhören möchte. Ihm hat nur der fertige Film nicht gefallen.

Krasse Veränderung: Antek hat plötzlich lackierte Fingernägel.
Krasse Veränderung: Antek hat plötzlich lackierte Fingernägel.

Warum nicht?

Nobis: Weil er sich so nicht gesehen hat. Er wusste nicht, dass seine Veränderung so extrem wirkt. Antek ist jemand, der ganz im Moment ist und in diesem sehr wahrhaftig. Er ist zu 100 % in diesen Gefühlen. Und dann sieht er sich plötzlich von aussen und konnte nicht glauben, dass er das war in diesen Szenen. Aber dann sprach er mit seiner Mutter und seiner Exfreundin und beide waren der Meinung, dass das ganz Antek war, sein Humor und sein Charakter.

Was hat Sie gerade an Antek gereizt? Seine Entwicklung hätte ja auch in eine ganz andere Richtung gehen können.

Nobis:Als ich ihn zum ersten Mal sah, dachte ich, er hat ein filmisches Gesicht. Mir gefiel die Art, wie er sich bewegte, und er schämte sich nicht, vor der Kamera zu stehen. Miłosz Kasiura und ich dachten, es wäre eine gute Idee, in ihn zu investieren. Er war anders als die anderen Jungs; er war sehr ehrlich. Wir waren sehr geduldig, da wir wirklich viel gefilmt haben, bevor wir entschieden haben, wie wir die Geschichte erzählen wollen.

Haben Sie jetzt noch Kontakt zu Antek? Wie geht es ihm?

Nobis: Ja, er begleitet unsere Filmpromotion und ist an diversen Q&A’s dabei.

«Politisch steht Antek heute weder links noch rechts.»

Er ist wieder in einer Beziehung, die beiden unterstützen sich gegenseitig – Antek studiert auch wieder. Politisch steht er momentan weder links noch rechts. Kontakt zu seiner alten Bruderschaft hat er nur sporadisch. Manchmal ruft ihn jemand aus seinem alten Freundeskreis an, aber das ist unproblematisch für ihn.

Antek scheint zufrieden.
Antek scheint zufrieden.

Sie meinten anfangs, Sie hätten den Film gemacht, um Antworten zu finden. Haben Sie diese gefunden oder sind Sie weiter auf der Suche danach?

Nobis: Ich glaube, mein Protagonist Antek ist derjenige, der alle Antworten verloren hat. Ich selbst habe nach Antworten gesucht, die als gesetzt galten und als ich sie gefunden habe, war alles ganz anders, als ich es erwartet hatte. Heute bin ich weit davon entfernt, andere Menschen vorzuverurteilen, weil ich versuche, die Dinge in einem grösseren Zusammenhang zu sehen. Ich bin weniger wütend als früher. Ich schreie nicht mehr einfach nur naiv Parolen, ich bin überzeugter davon, für was ich kämpfe. Und – Die Arbeit an diesem Film hat mir Zuversicht gegeben, dass es zwischen konservativ eingestellten und liberal denkenden Menschen Raum für Dialog gibt.

*Hanka Nobis (33) ist eine polnische Regisseurin und Drehbuchautorin. Mit ihrem Debütfilm, der gleichzeitig ihre Masterarbeit an der Warschauer «Wajda Master School of Film Directing» war, gewann sie kürzlich den Zürcher Filmpreis 2023. «Polish Prayers» ist eine Schweizer Co-Produktion und läuft seit Donnerstag in den Schweizer Kinos. (sas)


Die Bruderschaft an einer Gegendemonstration. | © First Hand Films
11. November 2023 | 06:30
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