Filmstill zu "Foudre": Der Blick geht hinaus in die Weite
Religion anders

Zwei Filmpreise für «Foudre»: Ein Hauch von Freiheit im Glauben

Am Freitag wurde in Genf der Schweizer Filmpreis verliehen. Ein Heimspiel für die Genfer Regisseurin Carmen Jaquier. Ihr Film «Foudre» gewann zwei der Quartz-Trophäen. Die Geschichte handelt von einer Novizin, die sowohl ihren Glauben als auch ihren Hunger nach Freiheit nicht aufgeben will.

Sarah Stutte

Was hat Sie zu dieser Geschichte inspiriert? Ich habe gelesen, dass ihre Urgrossmutter den Film beeinflusst hat. Inwiefern?

Carmen Jaquier*: Es gab zwei starke Einflüsse. Der eigentliche Auslöser für die Geschichte war eine kurze Meldung in der Zeitung, dass sich zwei junge Menschen in einem Vorort von Berlin selbst verbrannt haben. Das schockierte mich.

Filmstill zu "Foudre": Die Jugendlichen müssen sich selbst finden.
Filmstill zu "Foudre": Die Jugendlichen müssen sich selbst finden.

Die Pubertät ist eine intensive Zeit, in der sich Teenager entweder selbst zerstören können oder etwas ganz Wichtiges für ihr Leben entdecken.

Ich wollte also über eine Gruppe von jungen Menschen schreiben, die für ihre Rechte kämpfen, für die Möglichkeit, zu experimentieren und herauszufinden, wer sie sind.

«Meine Urgrossmutter schrieb Gott über 30 Jahre lang fast täglich.»

Während dieses Prozesses stiess ich dann auf das Tagebuch meiner Urgrossmutter. Darin schrieb sie Gott über 30 Jahre lang täglich und fand in dieser Beziehung zu ihm etwas sehr Wertvolles. Es sah so aus, als hätte sie niemanden in ihrem Leben, dem sie ihre tiefen Empfindungen anvertrauen konnte.

Damals war es nicht üblich, sich darüber auszutauschen, was einen im Inneren bewegte. Meine Urgrossmutter suchte also wahrscheinlich einen anderen Weg, ihre eigene Spiritualität zu leben.  

Die Genfer Regisseurin Carmen Jaquier
Die Genfer Regisseurin Carmen Jaquier

Der Film spielt um 1900 im Oberwallis. Wie Sind Sie bei der Recherche vorgegangen? Haben Sie auch zur Klostergeschichte geforscht, zum Leben von Novizinnen in jener Zeit?

Jaquier: Ich habe einige Bücher über Mystik gelesen und darüber, dass Klöster zur damaligen Zeit oftmals fast die einzige Möglichkeit für Frauen und Mädchen waren, eine Ausbildung zu erhalten.

«Die Arbeitskraft meiner Urgrossmutter war wichtiger als ihre Ausbildung.»

Um 1848 wurde die Schule im Wallis für alle Kinder obligatorisch und meine Urgrossmutter war sehr gut in der Schule. Aber nach der obligatorischen Schulzeit musste sie wieder zurück, um ihrem Vater bei der Arbeit zu helfen.

Recherchiert habe ich unter anderem auch in den Büchern, die der Kanton Wallis anlässlich seiner Feier zum 200-jährigen Beitritt zur Schweiz im Jahr 2015 herausgegeben hat.

Das war eine Fülle an historischem Material mit Hintergründen zur Situation von Frauen, Schule, Arbeit, Religion und Sexualität sowie sehr vielen alten Bildern.

Filmstill zu "Foudre": Das Tagebuch von Innocente
Filmstill zu "Foudre": Das Tagebuch von Innocente

Es gibt viel wissenschaftliche Texte aus dieser Zeit, doch fast keine biografischen. Deshalb war das Tagebuch meiner Urgrossmutter ein wichtiges Zeitdokument.

Daraufhin suchte ich mündliche Überlieferungen aus den Dörfern. Fragte die Menschen dort, was sie noch von ihren Eltern oder Grosseltern erfahren haben und sammelte diese Informationen.

Es gibt gleich zu Beginn des Films ein eindrückliches Bild, als Elisabeth von ihren Mitschwestern aus dem Kloster getragen wird. Was sagt es aus und warum haben Sie gerade dieses Bild gewählt?

Jaquier: Elisabeth möchte das sie schützende Kloster nicht verlassen. Sie will nicht zurückkehren zu einer Familie, die ihr fremd geworden ist. Ihre einzige Verbündete war ihre Schwester, die nun tot ist.

Sie klammert sich deshalb an das, was sie kennt und ihre Mitschwestern müssen ihr helfen, loszulassen. Während sie Elisabeth tragen, geben sie ihr Kraft und Mut mit auf den Weg.

Junge Novizin von Nonnen getragen – Szene aus "Foudre"
Junge Novizin von Nonnen getragen – Szene aus "Foudre"

Wo wurde diese Szene gedreht?

Jaquier: Im Stockalperschloss in Brig. Das Gebäude hat einen grossen Innenhof mit Bögen, die von der italienischen Renaissance-Kunst inspiriert sind.

In welcher Relation steht das klösterliche Leben zum bäuerlich-familiären?

Jaquier: Elisabeths Entwicklung unterscheidet sich von demjenigen ihrer Familie und der Dorfbewohnerinnen und Bewohner. Deshalb war es wichtig, am Anfang das Kloster zu zeigen, von dem aus sie ihre Reise beginnt. Auch ihre verstorbene Schwester hat ihre eigenen Erfahrungen gemacht.

Diese sind zwar mehr körperlich, doch irgendwann verbindet die beiden Schwestern wieder dieses gemeinsame Wissen um eine andere Welt, die dort draussen existiert. Um eine eigene Freiheit innerhalb der festgesteckten Grenzen.

Filmstill zu "Foudre": Die beiden kleinen Schwestern von Elisabeth: Paule und Adele.
Filmstill zu "Foudre": Die beiden kleinen Schwestern von Elisabeth: Paule und Adele.

Der Glaube hat sowohl im Klosterleben wie auch in der Dorfgemeinde seinen Platz. Worin liegen die Unterschiede, wie dieser Glaube hier wie dort gelebt wird?

Jaquier: Im Kloster musste sich Elisabeth zwar ebenfalls an Regeln halten, beispielsweise an feste Gebetszeiten, sie hatte aber auch Zeit für sich. Zurück auf dem elterlichen Hof ist das nicht der Fall.

«Im Dorf wird die Religion dazu benutzt, die Menschen zu kontrollieren.»

Dort zählt die Produktivität, das Dorf muss weiterbestehen. Dafür ist Kontrolle wichtig. Die Religion kann hier dazu benutzt werden, um den Menschen Angst einzujagen. Um sicherzugehen, dass sie das tun, was von ihnen verlangt wird.

Die religiöse Autorität dient dem System und ist nicht freiwillig gewählt. Die Möglichkeit, allein zu sein, sich als Individuum finden zu können, lässt eine ganz andere Verbindung zu Gott zu.

Filmstill zu "Foudre": Der Alltag auf dem Hof ist von Arbeit und katholischer Strenge geprägt.
Filmstill zu "Foudre": Der Alltag auf dem Hof ist von Arbeit und katholischer Strenge geprägt.

«Foudre» zeigt, dass eine gelebte Sexualität einen tiefen Glauben nicht ausschliesst. Ist das auch eine Kritik an der katholischen Kirche und ihrer zweifelhaften Sexualmoral, den Missbrauchsfällen, am Zölibat?

Jaquier: Es war nicht meine Absicht. Ich wollte einen Film über den Glauben machen, auf der Suche nach Transzendenz. Aber sicher, ich bin in einer religiösen Kultur aufgewachsen, in der mir suggeriert wurde, mich für meinen Körper zu schämen. Lange wusste ich nicht, was ich damit machen soll. Mich in Schweigen hüllen? Meine Gedanken mitteilen?

«Man sollte nicht gezwungen sein, zwischen Glauben und Sexualität entscheiden zu müssen.»

Letztendlich habe ich mich irgendwann dafür entschieden, mit diesem Schamgefühl nicht einverstanden zu sein. Junge Frauen und Männer sollten sich nicht für ihr Verlangen schämen.

Sie sollten nicht zwischen Sinnlichkeit und Sexualität auf der einen Seite und dem Glauben auf der anderen wählen müssen, sondern sich frei entscheiden können. Es gibt in der Religion so viele Verbindungen zur Sinnlichkeit und zum Körper.

Der Körper ist das Zentrum unseres Lebens. Wir sollten also nicht so tun, als gäbe es ihn nicht. Wir können uns dafür entscheiden, eine physische Verbindung zu jemandem zu haben oder nicht. Aber wir sollten in der Lage sein, darüber zu reden.

Sind Sie selbst katholisch erzogen worden? 

Jaquier: Ich wurde mit zwölf Jahren nach meinem eigenen Willen getauft. Meine Eltern haben mir nichts über Religion vermittelt. Dafür war meine Grossmutter väterlicherseits zuständig.

Sie wollte unbedingt, dass ich mich damit beschäftige und war sehr hartnäckig. So nutzte sie jeden Moment, in dem meine Eltern nicht da waren, um mit mir darüber zu reden. Damals fand ich es interessant, was sie mir erzählte.

Filmstill aus "Foudre": Elisabeth sucht Antworten.
Filmstill aus "Foudre": Elisabeth sucht Antworten.

Ich liebte als Kind die Geschichten über die Wunder von Jesus Christus. Ich war also sehr gläubig zu dieser Zeit. Dadurch verstand ich, dass es viele Geheimnisse gibt, viele Fragen. Dass das Leben voller Schönheit und Traurigkeit ist und dass ich stets weitersuchen und es erforschen muss.

«Mein Glaube existiert auch ohne die Institution Kirche.»

Und dann ging Ihr Glaube verloren?

Jaquier: Nein, aber ich merkte, dass ich mich irgendwann zu klein gefühlt habe in einer Kirche, in der ich mehr Fragen hatte, als mir Antworten gegeben wurden. Schliesslich musste ich mich selbst auf die Suche danach machen und habe dann festgestellt, dass ich die Kirche dafür nicht brauche. Mein Glaube existiert auch ausserhalb davon.

Wie stehen Sie heute dazu? Würden Sie nochmals einer Kirche beitreten?

Jaquier: Es ist ja nicht so, dass kirchlicher Machtmissbrauch heute nicht mehr geschieht. Deshalb kann ich nicht Teil davon sein, das ist unmöglich. Auch wenn ich weiss, dass an der Basis viel Gutes geleistet wird.

«Damit es keinen Machtmissbrauch mehr gäbe, müsste die hierarchische, patriarchale Struktur des Systems Kirche aufgebrochen werden.»

Ich glaube, die Kirchen müssen sich irgendwann entscheiden, sich an ihre eigenen Überzeugungen zu halten und sich nichts mehr von oben diktieren zu lassen. Man kann nicht länger so tun, als ob alles in Ordnung wäre.

Was muss sich ändern in Bezug auf die Weltreligionen? In den Kirchen?

Jaquier: Dieses pyramidale, patriarchale System muss sich ändern, neu aufgebaut werden. Wer hat die Macht und warum? Wo fliesst das Geld hin? Es geht nicht darum, diese Macht nur auf Frauen umzuverteilen, die Struktur an sich muss aufgebrochen werden.

Ich habe es deshalb als positives Zeichen gewertet, dass mich die Zürcher Kirchen am letztjährigen Zurich Film Festival mit ihrem Preis ausgezeichnet haben. Ich dachte, so entsteht Austausch: im gegenseitigen Bewusstsein darüber, dass wir den Glauben brauchen, er aber an unterschiedlichen Orten zu finden ist.

Sie haben im Oberwalliser Binntal gedreht. Warum dort? Haben Sie im katholischen Wallis noch den ursprünglichen Glauben gefunden?

Jaquier: In diesem Gebiet, im Binntal, hatten wir das Gefühl, in der Zeit zurückzureisen. Etwas ist hier unberührt geblieben, wie abgeschirmt vom Rest der Welt und der Moderne. Ausserdem ist dies eine besonders vibrierende Region, in der der Reichtum an Böden und Mineralien manchmal ein magisches Gefühl mit sich bringt.

Ich habe es genossen, durch die Berge zu wandern, neue Pflanzen und Sträucher mit unbekannten Farben zu entdecken. Dadurch konnte ich mich mit den Gefühlen von Elisabeth, den Männern und Frauen dieser Zeit um 1900 verbinden und meinen Platz als Mensch in der Natur wiederfinden.

*«Foudre» ist der Debütspielfilm der 37-jährigen Genferin Carmen Jaquier. Er gewann den Schweizer Filmpreis in den Kategorien beste Filmmusik und bester Ton. Der Film ist ab dem 13. April im Kino zu sehen.


Filmstill zu «Foudre»: Der Blick geht hinaus in die Weite | © Sister Distribution
25. März 2023 | 05:00
Lesezeit: ca. 6 Min.
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«Foudre» (Carmen Jaquier, Schweiz 2022)

Ein Walliser Dorf um 1900. In dieses muss die 17-jährige Novizin Elisabeth zurückkehren, als ihre Schwester Innocente unerwartet stirbt. Die junge Frau soll ihren Platz einnehmen und künftig auf dem Hof helfen. Antworten auf die Todesumstände von Innocente bekommt sie nicht. Dann findet sie deren Tagebuch und erfährt, dass ihre Schwester im Ausleben ihrer Sexualität eine tiefe Verbindung zu Gott suchte. In visuell berauschenden Bildern wird die Geschichte von weiblicher Emanzipation inmitten erdrückender Gesellschaftsnormen erzählt.

Filmplakat «Foudre» | © 2023 Sister Distribution Filmplakat «Foudre» © 2023 Sister Distribution