Der Pfingssprützling zieht durchs Dorf
Schweiz

Für Kinder ist Pfingsten wichtiger als Weihnachten und Ostern zusammen

In Sulz im Fricktal zieht jedes Jahr am Pfingstsonntag der Pfingstsprützlig durch das Dorf. Die über zwei Meter grosse, ganz in Buchenzweigen gehüllte Figur spritzt das Wasser aus den Brunnen. Ursprünglich ein Fruchtbarkeitsritual. Inzwischen ist der Brauch vor allem ein grosses Erlebnis für die Kinder.

Boris Burkhardt

Der 15-jährige Fynn Weiss liegt am Pfingstsonntag um 14.30 Uhr rücklings auf der Ladefläche eines landwirtschaftlichen Anhängers im Wald oberhalb des Fricktaler Dorfes Sulz bei Laufenburg. Es erstreckt sich in mehreren Siedlungen über das fünf Kilometer lange Süd-Nord-Tal bis zum Rhein. Fynn ist deutlich über zwei Meter gross, grün, besteht komplett aus Buchenzweigen. Aus der Mitte schaut sein Gesicht heraus. Von alleine kann er sich nicht bewegen.

Der 15jährige Fynn Weiss schaut nur noch mit dem Kopf aus seiner Buchenlaubverkleidung heraus
Der 15jährige Fynn Weiss schaut nur noch mit dem Kopf aus seiner Buchenlaubverkleidung heraus

Fynn ist diesjähriger Pfingstsprützlig im Sulzer Ortsteil Bütz. Diese Fruchtbarkeitsfigur gibt es laut den lebendigen Traditionen der Schweiz nur in Sulz, im Nachbardorf Gansingen und in der Baselbieter Gemeinde Ettingen gibt.

«Hochsteckfrisur» für den Pfingstsprützlig

Der Darsteller des Sprützlig wird am Vormittag des Pfingstsonntags im Wald mit grossen, zusammengebunden Buchenzweigen bekleidet und bedeckt. Hinzukommt noch ein ganzes Stück über dem Kopf. Das wird wie eine Garbe zusammengebunden und bildet so die «Hochsteckfrisur» des Pfingstsprützlig. Später, wenn Fynn mithilfe anderer Jugendlicher aufgestanden sein wird, wird diese «Frisur» noch mit Fähnlein und Maien geschmückt werden.

In wenigen Minuten geht es los: Der Traktor wird Fynn ins Dorf hinunterfahren, wo er zur Freude der Schaulustigen und der begleitenden Kinder die Brunnen kräftig aufmischen und das Wasser so heftig herumspritzen wird, wie er kann.

Der Pfingstsprützlig spritzt Wasser aus den Brunnen
Der Pfingstsprützlig spritzt Wasser aus den Brunnen

Auf der Pritsche sitzen ausserdem Benjamin, Jan, Jonas, Leon, Noah und Samuel, zwischen neun und zwölf Jahren alt. Sie alle wollen auch einmal Pfingstsprützlig werden, wie sie auf Nachfrage mitteilen. Aber in Bütz, ebenso wie in den anderen Ortsteilen Obersulz und Mittelsulz, kann es jedes Jahr nur jeweils einen Pfingstsprützlig geben. Auch die sechsjährige Cäcilia würde gerne Pfingstsprützlig sein. Vielleicht dürfen das Mädchen sogar, bis sie im entsprechenden Alter von 15 oder 16 Jahren ist.

Inzwischen dürfen Mädchen in Wald

Bis vor wenigen Jahren durften Mädchen und Frauen nämlich nicht einmal mit in den Wald, wie Urs Weiss berichtet. Er ist 50 Jahre alt, weder verwandt noch verschwägert mit Fynn. Er sagt, dass drei Viertel der Menschen in Sulz Weiss heissen. Er war wie seine Brüder in seiner Jugend selbst schon Pfingstsprützlig.

Dass keine Frauen, vor allem keine Jungfrauen, anwesend sein dürfen, wenn der Pfingstsprützlig eingekleidet wird, hat bei diesem Brauch etwas mehr Sinn als bei den vielen anderen männerexklusiven Bräuchen in der Schweiz.

Blick auf die Kirche
Blick auf die Kirche

Der Pfingstsprützlig soll der Tradition nach nämlich nicht nur für Fruchtbarkeit auf den Feldern im Tal sorgen, sondern auch bei jenen Jungfrauen, die Wasserspritzer abbekommen. Deshalb soll bis zum Ende des Festes eigentlich auch nicht bekanntwerden, wer sich unter den Buchenzweigen verbirgt.

Kaum junge Frauen

Jungfrauen sind heute kaum noch anwesend, wenn die drei Pfingstsprützlige durch Obersulz, Mittelsulz und Bütz ziehen. Das liegt ungeachtet ihrer sexuellen Erfahrung laut Urs Weiss daran, dass gerade die altersmässig für diese obsolete Bezeichnung infrage kommenden jungen Frauen sich heute kaum noch für einen solchen Brauch begeistern können.

Das war in seiner Jugend noch anders. «Damals gab es kaum Alternativen für Jugendliche, aus dem Dorf herauszukommen», sagt er. Bei den jungen Männern in diesem Alter ist das anders: Sie organisieren den Pfingstsprützlig jedes Jahr und finden immer recht spontan in neuen Gruppen zusammen.

Der Pfingstsprützlig zieht durchs Dorf, die Kinder mit den Fahnen voran
Der Pfingstsprützlig zieht durchs Dorf, die Kinder mit den Fahnen voran

Das grösste Spektakel ist der Pfingstsprützlig aber für die Kinder, wie Fynns Mutter Sabine Weiss erklärt und lacht: «Mit den Kindern über Pfingsten wegzufahren, kann man als Sulzer vergessen. Pfingsten ist für sie wichtiger als Weihnachten und Ostern zusammen.» Ihr zweiter Sohn, der 13-jährige Tino, ist heuer erstmals einer von drei Fahnenträgern (Schweiz, Aargau, Sulz), die dem Sprützlig durch das Dorf voranziehen.

Der Figur, die wegen ihrer starken Sehbehinderung durch das Laub links und rechts von den Gleichaltrigen Felix und Manuel geführt wird, folgen weitere Kinder, Buben wie Mädchen, mit Kuhglocken in ihrem Alter entsprechenden Grössen. 

Alle Brunnen sollen leer werden
Alle Brunnen sollen leer werden

Kommt Pfingstsprützlig Fynn an einen der sieben Brunnen in Bütz, werden mit grossem Enthusiasmus die Fahnen geschwenkt und die Treicheln geläutet, was das Zeug hergibt. Auch der Sprützlig selbst und seine beiden Helfer bemühen sich, mit dem grossen Holzstab soviel Wasser wie möglich aus dem Brunnen zu spritzen. Ältere Mädchen dürfen Blumen verkaufen. Die Spenden werden unter allen Kindern als Sackgeld aufgeteilt. Hintendrein ziehen die Erwachsenen, die von Brunnen zu Brunnen mehr werden.

Der Pfingstsprützlig ist im katholischen Dorf Sulz fest mit dem Pfingstfest verbunden.
Der Pfingstsprützlig ist im katholischen Dorf Sulz fest mit dem Pfingstfest verbunden.

Obwohl der Brauch im traditionell katholischen Dorf fest mit Pfingsten verbunden ist, hatte er laut den Sulzern zu keiner Zeit eine kirchliche Komponente. Umgekehrt haben sich solche heidnisch verbrämten Fruchtbarkeitsrituale in der Zeit zwischen Ostern und Pfingsten als Komponenten auch im katholischen Volksglauben erhalten, wenn früher etwa am Sonntag Rogate vor Auffahrt in einem Umgang mit Monstranz die Felder gesegnet wurden.

Laut der Erklärung der lebendigen Traditionen ist der Brauch in Sulz heute auch ziemlich verharmlost: Früher war es demnach zwischen dem Sprützlig und den restlichen Burschen üblich, zu versuchen, sich gegenseitig ins Wasser zu tunken.

Das grosse Finale auf dem Turnhallenareal vor Hunderten von Zuschauern
Das grosse Finale auf dem Turnhallenareal vor Hunderten von Zuschauern

Sind alle sieben Brunnen fast zur Hälfte geleert, geht es für die Kinder und für Fynn wieder mit dem Traktor nach Mittelsulz zur Turnhalle, wo um 16 Uhr alle drei Sprützlige mit ihrem Tross einlaufen und im grossen Finale vor dem Festzelt mit mehreren Hundert Zuschauern nacheinander einen künstlichen Brunnen leerspritzen, der mit dem Feuerwehrschlauch aufgefüllt wird.

Die drei Pfingssprützlinge
Die drei Pfingssprützlinge

Zur Entourage des Bützer Sprützlig gehört auch der 22-jährige Tim, der bereits selbst zweimal Pfingstsprützlig war und die jugendlichen Organisatoren in Bütz begleitete. Rivalitäten zwischen den drei Ortsteilen gebe es eigentlich keine, sagt er. Ob es stört, dass der Bützer Sprützlig etwas kleiner ist als die anderen beiden? Er zögert kurz: «Nein, wichtig ist, wer am meisten spritzt.»         

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Der Pfingssprützling zieht durchs Dorf | © Boris Burkhardt
20. Mai 2024 | 09:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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