Robert Vitillo, Generalsekretär der Internationalen Katholischen Kommission für Migration (ICMC)
Vatikan

Franziskus' Flüchtlingsmanager in Genf: «Das Leid von Menschen ist niemals business as usual»

Syrien, Jemen, Myanmar: Robert Vitillo kämpft jeden Tag dafür, die Situation für Geflüchtete zu verbessern. Seit einem Jahr denkt er jeden Tag an die Menschen in der Ukraine. Er ist Teil der Arbeitsgruppe «Catholic Response for Ukraine» (CR4U). Die Schweiz solle sich weiterhin mit Gastfreundschaft und Spenden für die Ukraine einsetzen.

Raphael Rauch

Inwiefern hat der 24. Februar 2022 Ihre Arbeit verändert?

Robert Vitillo*: Wir haben eine weitere grosse Sorge bekommen: Die Menschen in der Ukraine leiden unter der Invasion. Es ist nicht das erste Mal, dass wir Hilfe für die Ukraine leisten. Die Internationale Katholische Kommission für Migration (ICMC) in Genf hat bereits zu Zeiten der Sowjetunion geholfen, als Menschen zwangsumgesiedelt wurden oder fliehen mussten. Ich erinnere mich gut an die Aufnahme von Ukrainerinnen und Ukrainern in meiner Heimatdiözese Paterson, New Jersey. Dort war ich in den 1970er- und 1980er-Jahren als Caritas-Direktor tätig.

Die Place des Nations samt Palais des Nations im Hintergrund
Die Place des Nations samt Palais des Nations im Hintergrund

Wie haben Sie auf den Angriffskrieg vor einem Jahr reagiert?

Vitillo: Kurz nach diesem schicksalhaften Tag hat der Vatikan zu einem Treffen katholischer Hilfsorganisationen eingeladen. Wir haben Erfahrungen ausgetauscht und Pläne für die Notlage erarbeitet. Wir haben eine Arbeitsgruppe namens «Catholic Response for Ukraine Working Group» (CR4U) gegründet, um uns laufend auszutauschen. Und um den Kontakt zur griechisch-katholischen und lateinisch-katholischen Kirche vor Ort zu pflegen. 

Karfreitag als Metapher: Aufnahme von Mikhail Palinchak am 22. April 2022 in der Nähe von Kiew. Das Motiv war in Davos zu sehen.
Karfreitag als Metapher: Aufnahme von Mikhail Palinchak am 22. April 2022 in der Nähe von Kiew. Das Motiv war in Davos zu sehen.

Was tun Sie konkret?

Vitillo: Viele Menschen leiden unter Traumata und der enormen emotionalen Belastung. Wir unterstützen vor allem psychiatrische Dienste in der Ukraine und in Lettland. Wir haben auch einige Nothilfemassnahmen und die Infrastruktur in Pfarreien und Diözesanzentren unterstützt.

Robert Vitillo besucht ein Hilfszentrum in Pakistan, 2017.
Robert Vitillo besucht ein Hilfszentrum in Pakistan, 2017.

Unterscheidet der Krieg in der Ukraine Ihre Arbeit von anderen Krisenherden? Oder ist Putins Angriffskrieg, zynisch gesprochen, business as usual?

Vitillo: Das Leid von Menschen, Flucht und Vertreibung sind niemals «business as usual». Wir stellen die Menschen und ihre Familien in den Mittelpunkt unserer Arbeit. Papst Franziskus lässt keine Gelegenheit aus, uns daran zu erinnern, dass Migranten und Flüchtlinge zu den Menschen gehören, die unseren besonderen Schutz brauchen. Es wird jedoch immer schwieriger, für Flüchtlinge das zu finden, was die Vereinten Nationen «dauerhafte Lösungen» nennen.

Alles kaputt: die Türkei nach dem verheerenden Erdbeben.
Alles kaputt: die Türkei nach dem verheerenden Erdbeben.

Was ist damit gemeint?

Vitillo: Im Idealfall geht es darum, dass die Menschen in ihre Heimatländer zurückkehren können. In Syrien oder Irak ist das jedoch nahezu unmöglich. Die Menschen sind in die Nachbarländer des Nahen Ostens geflohen und warten auf humanitäre Visa. Sie sind wegen der langen Wartezeiten hoffnungslos. Sie beschuldigen uns zum Teil, dass wir unsere Arbeit nicht tun würden – obwohl ihr alles tun, was in unserer Macht liegt.

Ukrainische Flüchtlinge zu Besuch bei Bischof Markus Büchel in St. Gallen.
Ukrainische Flüchtlinge zu Besuch bei Bischof Markus Büchel in St. Gallen.

Was können wir in der Schweiz tun, ausser Geflüchteten Zuflucht zu gewähren und für die Menschen in der Ukraine zu spenden?

Vitillo: Gastfreundschaft und Spenden sind lebensrettend. Wir alle sollten das Evangelium Jesu in die Tat umsetzen. Jesus lehrte uns, den Hungrigen zu essen zu geben und die Fremden willkommen zu heissen. Wir sollten auch für den Frieden in aller Welt beten und auch bei den Entscheidungsträgern in unserer Heimat für den politischen Willen eintreten, die Kriege durch einen friedlichen Dialog zu beenden.

Sehnsucht nach Frieden: Friedenstauben auf dem Tabernakel in Bern-Bümpliz.
Sehnsucht nach Frieden: Friedenstauben auf dem Tabernakel in Bern-Bümpliz.

Was macht Ihnen Hoffnung?

Vitillo: Am meisten Hoffnung macht mir die Grosszügigkeit der notleidenden Menschen. Statt nur an sich zu denken, helfen sie anderen, die in noch grösserer Not sind. Am Donnerstagabend erzählte mir ein Kollege von seinem kürzlichen Besuch in Gaza. Die Palästinenserinnen und Palästinenser, die selbst ein gemartertes Volk sind, haben angeboten, der Ukraine zu helfen. Und zwar mit der Begründung: «Wir sind es gewohnt, Hilfe zu leisten, wenn um uns herum Bomben fallen.»

Ein Poster mit einem Bild von Papst Franziskus in Mossul.
Ein Poster mit einem Bild von Papst Franziskus in Mossul.

Europa ist momentan stark mit der Ukraine beschäftigt. Welche Flüchtlingsherde in der Welt bereiten Ihnen noch grosse Sorgen?

Vitillo: Die Vertreibung von Menschen im Irak und in Syrien hält an. Viele haben auf der Flucht ihr Leben verloren oder mussten nach dem katastrophalen Erdbeben in der Türkei und in Syrien ihre Häuser verlassen. Wir dürfen nicht die anderen Hotspots vergessen – wie den Jemen, die Sahelzone, Myanmar und andere.

«Lernen wir die Menschen, die zu uns kommen, nicht als andere kennen, sondern als unsere eigenen Schwestern und Brüder.»

Menschen aus der Ukraine erhalten in der Schweiz den Asylstatus weitgehend ohne Probleme. Andere Geflüchtete hingegen nicht. US-Präsident Biden will sogar die Asylgesetze in den USA verschärfen. Wie lautet darauf die Antwort der katholischen Kirche?

Vitillo: Jesus selbst hat uns gezeigt, wie wir mit den angeblich Fremden umgehen sollten. Wir alle sind zur Diakonie berufen, zum karitativen Dienst. Erheben wir unsere Stimme, um eine gerechte und faire Politik für Migranten, Flüchtlinge und Vertriebene zu fordern. Und lernen wir die Menschen, die zu uns kommen, nicht als andere kennen, sondern als unsere eigenen Schwestern und Brüder. Sie sind nach dem Bild Gottes geschaffen, wie Papst Franziskus uns ständig ermutigt.

* Monsignore Robert J. Vitillo ist US-Amerikaner und hat an vielen Orten in vielen Organisationen gearbeitet. Während der AIDS-Krise engagierte er sich ebenso wie später bei Caritas Internationalis. Seit 2005 ist er in Genf. Zunächst als Leiter der Delegation von Caritas Internationalis. Seit 2016 ist er Generalsekretär der International Catholic Migration Commission (ICMC).


Robert Vitillo, Generalsekretär der Internationalen Katholischen Kommission für Migration (ICMC) | © KNA
24. Februar 2023 | 13:52
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