Albert Gasser in der Luzerner Hofkirche.
Schweiz

Eros, Eremit, Empathie: Albert Gasser über Bruder Klaus

Der Kirchenhistoriker Albert Gasser warnt vor einem frömmlerischen Blick auf Bruder Klaus: «Die Erotik blieb ein kreativer Teil seines Eremitenlebens.» Die Heiligsprechung vor 75 Jahren war ein «kulturkämpferisches Fressen». Reformierte warnten vor einem «trojanischen Pferd», das der «politische Katholizismus» ins Schweizerhaus schmuggle.

Albert Gasser*

Wie war das mit der Heiligsprechung am 15. Mai 1947? Eine Bahnreise nach Rom durch das kriegsversehrte Italien war keine Kleinigkeit. Der Ex-Duce Benito Mussolini war am 28. April 1945 auf seiner mutmasslichen Flucht in die Schweiz von Partisanen erschossen worden. Italien versuchte sich demokratisch zurecht zu finden. 

Grosse Hitze im Sommer 1947

An der Heiligsprechungsfeier in der Peterskirche ereignete sich eine kleine liturgische Panne. Ein Schweizer Kirchenchor sang ein hochfeierliches lateinisches Amt. Als das Sanctus mit dem Benedictus kein Ende finden wollte, war das für Papst Pius XII. zu stressig, und er zelebrierte die Messe still bis zum Pater noster weiter. 

Albert Gasser (links) mit dem Luzerner Chorherr Stephan Leimgruber.
Albert Gasser (links) mit dem Luzerner Chorherr Stephan Leimgruber.

Die anschliessende Feier in Sachseln war überwältigend. Im Frühsommer wurde die Obwaldner Schuljugend, zu der ich unterdessen gehörte, bei sengender Sonne aufs Flüeli beordert. In Erinnerung blieb allein der grosse Durst. Der Sommer 1947 entwickelte bis in den Herbst hinein eine grosse Hitze, begleitet von Dürre. Die Alpinisten berichteten alarmiert vom Gletscherrückgang.

Ungeteilte Akzeptanz seiner Landsleute

Es gibt ein Bild von Bruder Klaus, das die Sachsler Kirchgenossen in einer «Santo subito»-Aktion am Altar der Pfarrkirche fünf Jahre nach seinem Tod angebracht haben. Das ganz Aussergewöhnliche daran ist, dass Bruder Klaus die ungeteilte Akzeptanz seiner Landsleute genoss, obwohl er ihnen nicht nach dem Mund redete.

Der Priester Albert Gasser in der Luzerner Hofkirche – zusammen mit seiner Schwester.
Der Priester Albert Gasser in der Luzerner Hofkirche – zusammen mit seiner Schwester.

Dazu kam, dass Bruder Klaus eine gebrochenes Verhältnis zu den Pfarrern von Sachseln hatte. Da könnte sogar Jesus neidisch werden, der in seinem Dorf Nazareth abgelehnt wurde, was ihn zum Urteil veranlasste: «Nirgends hat ein Prophet so wenig Ansehen wie in seiner Heimat…» (Markus 6,4). Das war bei Bruder Klaus phänomenal anders und gehört meines Erachtens zum beispiellosen Geheimnis seiner Biografie. 

Ein vorreformatorischer Wegweiser

Bruder Klaus war ein vorreformatorischer Wegweiser, was seine nachhaltige Ausstrahlung förderte. Huldrych Zwingli war Lateinschüler des ersten offiziellen Bruder Klaus-Biografen Heinrich Wölflin und fand lobende Worte für den Einsiedler im Ranft, der Gottes Wort vor «Eigennutz» stellte. Die reformierten Eidgenossen sahen in der Reformation die folgerichtige Konsequenz vom Wirken des Niklaus von Flüe.

Die Tagsatzung

Im Jahr 1585 rafften sich die reformierten Orte Zürich, Bern, Basel und Schaffhausen auf, den alteidgenössischen Bund zu erneuern und reisten in die katholischen Orte. Anlässlich des Aufenthalts in Sarnen brachen die reformierten Gäste zu einer Exkursion aufs Flüeli auf und hinunter in ein «Tobel» (Ranft). 

Der Höhepunkt des Ausflugs war der Besuch beim damals und insgesamt zehnmal regierenden Landammann, dem 81-jährigen Enkel von Bruder Klaus, der auch Niklaus von Flüe hiess, einem versierten und weitgereisten Politiker, auch Tagsatzungsgesandten, der sich unbefangen mit den Besuchern abgab und ihnen den Rock des Grossvaters zeigte. In Sachseln liessen sich die angereisten Herren von einem Priester weiter über Bruder Klaus orientieren. Das anvisierte Ziel einer konfessionellen Annäherung wurde allerdings nicht erreicht.

«Landesvater Bruder Klaus»

Die Heiligsprechung von Bruder Klaus fand in einem optimalen Zeitfenster statt, nach zwei Weltkatastrophen, in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die Schweiz blieb beide Mal verschont. Aber im Mai 1947 ging es nicht um schweizerische Selbstgefälligkeit. Europa war geschwächt und in Nöten. Deutschland lag moralisch und materiell in Trümmern. Das Friedensbeispiel von Bruder Klaus wurde dort besonders verstanden. 

Ausgerechnet schweizintern gab es Stolpersteine. Während des Zweiten Weltkriegs, als sich ab 1943 der Kriegsausgang abzeichnete und die Befindlichkeit der Schweiz sich entspannte, kam es zu neuer konfessioneller Gereiztheit, deren Ursache letztlich schwer nachvollziehbar bleibt. In der Neujahrsansprache 1942 übergab der katholisch-konservative Bundespräsident Philipp Etter die Eidgenossenschaft dem Machtschutz Gottes und der Fürbitte des «Landesvaters Bruder Klaus». 

Katholiken waren Bürger zweiter Klasse

Dagegen reichten protestantische Kreise eine negative Vaterschaftsklage gegen den Eremiten im Ranft ein. Die geplante Heiligsprechung sorgte für ein neues kulturkämpferisches Fressen um den grossen Faster im Ranft. Im November 1944 war in einer protestantischen Zeitschrift zu lesen, Bruder Klaus sei das «trojanische Pferd», das der «politische Katholizismus» ins Schweizerhaus schmuggle. 

Eine derartige Aggression verkannte vollständig das katholische Innenleben der Schweiz und vor allem der katholischen Stammlande. Militant war deren Katholizismus gewiss nicht. Man ist selbstverständlich katholisch, aber nicht – salopp formuliert – fanatisch. Gerade in Obwalden war man allergisch gegen kirchliche Einmischung in die Politik. Im Übrigen erlebten sich die Katholiken damals auf Bundesebene in vielen Belangen als Bürger zweiter Klasse.

Philipp Etter ging nicht nach Rom

Besonnene protestantische Kreise wie etwa Karl Barth äusserten sich subtiler. Bis jetzt habe man Bruder Klaus als gesamteidgenössische prophetische Persönlichkeit würdigen können. Mit der Heiligsprechung würde er katholisch vereinnahmt.

Als der feierliche Tag der Heiligsprechung bevorstand, rätselte man, ob Philipp Etter als Bundespräsident oder als katholischer Bürger nach Rom reisen werde. Aber Etter reiste nicht. Er hielt sich an die damals ungeschriebene Regel, dass der Bundespräsident im Amtsjahr das Land nicht verlässt. 

Enrico Celio «privat» in Rom

Wer aber vertrat die Schweiz in Rom? Niemand. Beim Akt der Heiligsprechung war das gesamte diplomatische Korps im Petersdom anwesend, unter anderem die USA, China (!), die Türkei (!). Nur die fast zur Hälfte katholische Schweiz, um deren konfessionell unbestritten verdienten Mitbürger es ging, glänzte offiziell durch Abwesenheit. Oder doch nicht ganz? 

Unter den Anwesenden bemerkte man den katholischen Tessiner Bundesrat Enrico Celio. Er war «privat» in Rom. Er trug einen hellbeigen Mantel, als ob er zufällig die Peterskirche besucht hätte. Es gab im Petersdom natürlich zahlreiche Schweizer Pilger.

«Mystiker, Mittler, Mensch»

Tempi passati! Konfessionelle Vorbehalte, Hemmungen oder Schranken sind verschwunden. Im Jubiläumsjahr 2017 und im Jubiläumsband «Mystiker, Mittler, Mensch» zum 600. Geburtstag von Niklaus von Flüe war die Mitarbeit von Reformierten und Christkatholiken selbstverständlich. Beim offiziellen Festakt am 30. April waren sämtliche Kantonsregierungen präsent und marschierten nach Bundesprotokoll eingeteilt auf den Landenberg: der alte «Vorort» Zürich an der Spitze. 

Der Mystiker Bruder Klaus verströmte einen offenen Geist, war aber mit dem Zustand der real existierenden Kirche vertraut. Er brauchte keine Kunde aus dem fernen Rom, um an Skandale zu kommen. Die hatte er in nächster Umgebung. Die Pfarrei Sachseln war in seiner Zeit zerrüttet. Niklaus von Flüe war ein Anwalt der Laien. Vor seiner Eremitenzeit hat er die Sachsler Anliegen gegen einen unklugen und habgierigen Priester mitgetragen und die Kirchgenossen von Stans gegen Ansprüche des Klosters Engelberg in Sachen Pfarrwahl unterstützt.

Fasten und Eros

Bruder Klaus war Pragmatiker, kein Dogmatiker. Er suchte Wege und Auswege in Konfliktsituationen. Er bevorzugte Ausgleich. Sein Rezept war Schlichten. Er vermied nach Kräften Resultate mit Siegern und Besiegten. Bruder Klaus war Hörer auf Gottes Wort, aber auch ein begnadeter Zuhörer, ausgerüstet mit einem unerschöpflichen Einfühlungsvermögen, einem gesunden Menschenverstand und einer entwaffnenden Portion Humor. 

Vielleicht war der definitive Abschied des Niklaus von Flüe von seiner Familie gar nicht so schmerzlich und tränenreich, wie er dargestellt wurde. Die ältesten Söhne dürften den Verlust gut verschmerzt haben. Einen Gatten und Vater zu haben, der sich immer mehr zurückzieht, kaum noch einen gemeinsamen Tisch pflegt, war für die Grossfamilie schwer zu ertragen. 

Kein moralisierender Senf

Letztlich war es ein reifer und freier Entscheid von Klaus und seiner Frau Dorothee, und es geht schlicht und einfach niemand etwas an, seinen moralisierenden Senf dazu zu geben. Und das geschieht leider vermehrt just in einer Zeit, wo man sonst für jede Beziehung und Lebensform Akzeptanz verlangt.

Aber da ist noch etwas anderes. Beim Abschied hinterliess Vater Klaus einen vier Monate alten Säugling mit Namen Niklaus. Es erstaunt, dass er zu später Stunde noch ein Kind zeugte. Aber nochmals: das geht uns nichts an. 

Erotische Bedürfnisse

Dass aus diesem Jüngsten ein studierter Mann und Priester wurde und in seinem kurzen Leben Pfarrer von Sachseln war, lässt im Nachhinein alles als gut gefügt aussehen. Aber dass Bruder Klaus weniger als ein Jahr vor seinem Weggang, in einer Zeit, wo er eine intensive Enthaltsamkeit auf Nahrung pflegte, noch erotische Bedürfnisse hatte und auslebte, eröffnet eine tiefe Dimension.

Wir wissen, dass Niklaus von Flüe Jahre vor seinem Abschied von innerer Unruhe und Depressionen geplagt wurde. Bei seinem Priester-Freund Heimo Amgrund erfuhr er Hilfe. Kann es sein, dass er bei seiner Frau mindestens zeitweise wieder menschlichen Halt und Geborgenheit in gegenseitiger Hingabe suchte und fand?

Bruder Klaus und Jesus

Das macht ihn lebensnah und steht auch nicht im Kontrast zu Spiritualität. Wir stellen Jesus und Bruder Klaus einmal gegeneinander. Jesus von Nazareth hatte ein reiche Bildsprache. In seinen Gleichnissen verwertete er menschlichen Alltag und die Natur. Jesus liess sich gerne einladen, liebte gutes Essen und vorzügliche Weine, was sich in seinen Bildreden niederschlug und ihm von seinen Feinden angekreidet wurde. 

Jesus zitiert selber, was seine Feinde über ihn ausbreiten: «Dieser Fresser und Säufer», aber auch Freund der Prostituierten (Mt 11,19). Eine direkt erotische Bildsprache suchen wir bei Jesus vergebens, obwohl er betroffene Frauen engagiert in Schutz nimmt. Allerdings versteht er sich als «Bräutigam» seiner Gefolgschaft, zum Beispiel Mt 9,15. Die Kirche versteht sich ihrerseits als «Braut Christi».

Meditation und Tanz

Bruder Klaus redete auch gern in Bildern. Aber Essen und Trinken liegen ihm nicht auf der Zunge. Der fastende Eremit offenbarte kein hintergründiges Heimweh nach kulinarischen Köstlichkeiten. Nachdem ihm vor Liestal Magen und Bauch in einem schmerzlichen Anfall ausgeräumt wurden, verspürte er definitiv keinen Appetit mehr. 

Aber die Erotik blieb ein kreativer Teil seines Eremitenlebens. Einem unsicheren und suchenden jungen Mann aus Burgdorf erzählt er aus seiner geistlichen Erfahrung, wie es mit dem Meditieren gehe. Gott weiss es zu machen, dass die Betrachtung so schmeckt, als ob er zum Tanze ginge und umgekehrt, als ob er im Kampfe streite. 

«Ich bin zu dorff gesyn»: Codewort fürs Schäferstündchen

Bruder Klaus registriert die schockierte Reaktion des verdutzten Jünglings und geniesst schmunzelnd die Spannung, indem er gezielt schelmisch-spitzbübisch noch eins draufsetzt und nachdoppelt, er habe schon richtig gehört: «Ja als sollt er an ain dantz gon». 

In die gleiche Kerbe stiess die erst im 17. Jahrhundert von einem etwas unsteten, aber trinkfesten Kaplan in St. Niklausen überlieferte Episode aus der Ranftzeit: Bruder Klaus sei einmal von seiner Familie in Verzückung gefunden worden. Wieder zu sich gekommen, habe er zu den Umstehenden gesagt: «Min Kind, ich bin zu dorff gesyn». Zu Dorf gewesen hiess im obwaldnerischen Erfahrungs- und Wortschatz: Ich habe meine Freundin (heimlich) besucht. Die Erinnerung an seine Frau blieb lebendig. Nicht bloss die Erinnerung. Dorothee besuchte ihn im Ranft und wird auch einmal mit ihrem Jüngsten dort angetroffen. 

«Gott weiss»

Diese Äusserungen des Eremiten passen zu seiner Gewohnheit, sein Innerstes nie ganz preiszugeben. Er wich aus und lenkte ab. Neugierige Fragensteller und Sensationsschnüffler waren ihm zuwider, und er wimmelte sie barsch ab. Er schützte seine spirituelle Intimität. Auf die aufdringlichen Fragen nach seinem Fasten antwortete er rituell brüsk: «Gott weiss». 

Wir wissen nicht, welchen Weg Niklaus von Flüe nach dem Abschied am 16. Oktober 1467 von Familie und Hof einschlug, auch nicht, welche Zukunftsperspektive er hatte. Fest steht, dass er eines Tages, wohl im November, sich im Baselbiet im Raum von Liestal aufhielt. Da geriet er wohl in die schwerste Krise seines Lebens. 

Seelische Hilfe in grösster Not

Der Weg wird ihm plötzlich versperrt, er sieht rot, beginnt zu rotieren, irrt herum. Er braucht jetzt dringend einen Menschen, um sich auszusprechen. Er überfällt den erstbesten Mann auf dem nächstgelegenen Bauernhof. Er ist unbeholfen, bis es ihm endlich gelingt, sein Anliegen an den wildfremden Menschen zu bringen. Der angesprochene Bauer ist auch überrumpelt und überfordert, benimmt sich mürrisch abweisend und bringt kein Verständnis für dessen Eremitenpläne, unterstellt ihm sogar mögliche Faulenzerei. Eine heftige Abfuhr. Der Bauer bietet ihm auch nichts an, etwas Warmes oder ein Nachtlager.

Diese qualvolle Episode ist in der Biografie des Niklaus von Flüe einmalig. Klaus hat lange Jahre mit Gott, mit seiner Frau, mit seinen Seelsorgern über seine Berufung gerungen. Dann kam der harte aber erlösende Befreiungsschlag. Und jetzt ist alles blockiert. In dieser Not sieht er keinen anderen Ausweg als einen Unbekannten um seelische Hilfe zu bitten, ohne eine Ahnung, ob der auch eine Antenne für seine Probleme oder wenigstens ein mitleidiges Herz habe. 

Der weise Baselbieter Bauer

Und das hat der Angesprochene offensichtlich nicht, weder das eine noch das andere. In diesem Augenblick ist seine ganze Spiritualität über den Haufen geworfen. Er steht vor dem Nichts. Und doch, Bruder Klaus ist bereit anzunehmen, was der kaltschnäuzige Berufskollege ihm an den Kopf wirft. Er nimmt die gereizte Antwort des Bauern als Wink Gottes mit dem Zaunpfahl, heimzukehren. 

Einen grösseren Umweg konnte Bruder Klaus nicht machen, als etwa dreihundert Kilometer zu wandern, um zu seinem Bestimmungsort zu gelangen, der fünfzehn Gehminuten von seinem Haus entfernt war. Der Baselbieter Bauer hat es mit einem Schlag geschafft, ohne eine Ahnung zu haben, was er da anrichtet. Der grobschlächtige Mann wies dem herumirrenden geistlichen Wandersmann den Weg. Dass für Klaus von Flüe diese Erfahrung einschneidend war, bezeugt auch, dass er seinem alten Freund Erny Rorer und seinem Seelsorger Heimo Amgrund darüber ausführlich berichtete.

«Intensivstation» Ranft 

Nie im Leben war Bruder Klaus ein so hilfloser Hörer. Eine demütigendere Aufforderung zu Gehorsam kann es nicht geben. Gelegentlich ist derjenige, der nicht vom Fach ist, realistischer als der Spezialist. Und es kann auch sein, dass für einmal der schrille Ton der richtige ist. Gott selber pflegt nicht selten mit seinen Auserwählten einen ruppigen Stil.

Bekannt ist die Sentenz von Carl von Clausewitz: «Der Krieg ist eine blosse Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln». Das erleben wir gerade in der Ukraine auf zynisch-brutale Weise. Für die Tätigkeit von Bruder Klaus im Ranft gilt: Mystik ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Mystik bedeutet nicht Weltabgeschiedenheit, sondern praktischen Handeln aus göttlichen Impulsen und Meditation. Im Brief an Bern 1482 gelingt Bruder Klaus ein genialer Wurf vom Wert und der Würde des Gehorsams, der im Hören aufeinander besteht, im Zuhören und aufeinander Eingehen. Das hätte schon damals als Kirchenmodell getaugt.

Blutjunger Veteran aus den Burgunderkriegen

Mit dem Stanser Verkommnis vom 22. Dezember 1481 ist der Name von Bruder Klaus als Vermittler besonders verbunden. Soweit ersichtlich wurde Bruder Klaus erst am Ende in die Bundeskonferenz eingeschaltet. Allerdings hat Luzern schon seit Beginn der Verhandlungen die Hilfe des Einsiedlers gesucht. Mehrere Läufergänge in den Ranft sind in den Luzerner Rechnungsbüchern nachgewiesen. 

Die Städteorte hatten sich mit ihrem Konzept der inneren Ruhe und Ordnung gegen den paramilitärischen Terror der blutjungen «Veteranen» aus den Burgunderkriegen weitgehend durchgesetzt. Aber die Aufnahme von Freiburg und Solothurn drohten nun den alten Bund zu sprengen. 

Das Stanser Verkommnis

Was Bruder Klaus durch schnelle Vermittlung des Stanser Pfarrers Heimo Amgrund der Tagsatzung übermittelte, ist bekanntlich unbekannt. Der Solothurner Stadtschreiber Hans vom Stall schrieb lakonisch und in überlegener Siegerlaune am 31. Dezember 1481 an die Stadt Mühlhausen: «Bruoder Claus hat wol gewürkt und ich wol gehandelt». 

Daraus ist zu schliessen, dass Bruder Klaus die Aufnahme der Städte Freiburg und Solothurn befürwortet hat. Fest steht, dass die Städteorte insofern nachgaben, dass man das Mitspracherecht der neuen städtischen Bundesgenossen einschränkte. Das Stanser Verkommnis war zweifellos in der Innerschweiz keine populäre Lösung.

Antimailändische Stimmung

Aber die moralische Autorität von Bruder Klaus, die gewiegte Diplomatie der Städte und die realpolitische Einsicht der Inneren Orte brachte den Kompromiss zustande. Ähnlich hatte das Ansehen von Bruder Klaus schon 1474 dazu beigetragen, dass seine Landsleute schliesslich, wenn auch widerstrebend in den Frieden mit dem «Erbfeind» Österreich einwilligten.

Eine weitere Baustelle war die eidgenössische Expansion in die Lombardei, in das Herzogtum Mailand. Es ging um Zollfragen. Die Mailänder Regierung zeigte sich zu Zollprivilegien bereit um den Preis der Anwerbung von eidgenössischen Söldnern, mit der Garantie nicht von diesen angegriffen zu werden. Der Tagsatzung war das nun doch zu viel, und die Stimmung wurde zusehends antimailändisch. 

Der Einsiedler war auf dem Laufenden

Mailand schickte nun einen ausserordentlichen Gesandten, namens Bernardino Imperiali, der mit einem der deutschen Sprache mächtigen Begleiter in kluger Strategie im Frühsommer 1483 ins Herzstück der Feinde zog, aber direkt in den Ranft hinunterstieg, um mit Bruder Klaus zu sprechen, und zwar zu dem Zeitpunkt, als Hans von Flüe, der älteste Sohn von Bruder Klaus, eine schillernde Figur, das Amt als Landamman von Obwalden übernommen hatte. 

Am 27. Juni 1483 berichtete Imperiali. Wörtlich stand darin: «Ich habe mit ihm (Buder Klaus) einen Abend und einen Morgen zugebracht». Und er bemerkt dazu: «Lo trovato informato del tutto». Der Einsiedler war auf dem Laufenden, bereits über alles unterrichtet und erklärte, er werde seinem Sohn ein Schreiben schicken, um es am nächsten Ratstag verlesen zu lassen. 

Die Zelle im Ranft als Ort für politische Beratungen

Bruder Klaus war im Element und handelte über Stunden als Verantwortlicher für das Land Obwalden. Die Sache ging glimpflich aus, da auch die Tagsatzung keinen Krieg gegen Mailand begehrte. 

So entwickelte sich die Zelle im Ranft zu einer veritablen «Intensivstation» für entscheidende politische Beratungen. Aber das «Büro» Bruder Klaus war immer wieder Anlaufstelle für einfühlsame individuelle Beratungen, vorzüglich in Nöten und Ängsten und Beziehungsproblemen.

«Bewahre mich vor der Einbildung»

Fassen wir alles in ein Schlusswort und suchen wir nochmals nach dem Kern des Wirkens von Bruder Klaus. Teresa von Avila, die grosse spanische Mystikerin des 16. Jahrhunderts, war auch eine Frau mit Bodenhaftung. Von ihr ist folgendes Gebetsanliegen überliefert: «Bewahre mich vor der Einbildung, bei jeder Gelegenheit und zu jedem Thema etwas sagen zu müssen!» 

Bruder Klaus hatte diese Versuchung nie. Er redete nicht von sich aus. Er hörte zu und antwortete darauf, wie es die Gelegenheit ergab und erforderte. Er war immer ein Eintreten auf Fragesteller oder Ratsuchende. Er redete nicht, ohne sie vorher gehört oder mit Einfühlungsvermögen ihre Nöte erkannt zu haben.

Auf Augenhöhe, grundehrlich und wohlwollend

Er hielt keine Ansprachen oder Sonntagsreden. Er belehrte und dozierte nicht. Dabei war er der Sprache sehr mächtig. Sie war mit Bilderreichtum gespickt. Vielleicht liegt das innerste Geheimnis seiner Glaubwürdigkeit darin, dass er nie sich selbst verkaufen wollte, sondern den Menschen im Hier und Jetzt zur Seite stand. Mit allen auf Augenhöhe, grundehrlich und wohlwollend. So bleibt sein Vorbild topaktuell!

* Albert Gasser (84) ist Priester des Bistums Chur und Kirchenhistoriker. An der Heiligsprechung von Bruder Klaus am 15. Mai 1947 war er neun Jahre alt. Diesen Vortrag hat Albert Gasser am Mittwoch in der Luzerner Hofkirche St. Leodegar gehalten.


Albert Gasser in der Luzerner Hofkirche. | © Raphael Rauch
12. Mai 2022 | 17:44
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