Nicole Bolliger und Elísio Macamo
Schweiz

Elísio Macamo: «Es ist nie der Afrikaner, der entscheidet»

Advents- und Weihnachtszeit ist Spendenzeit. Doch wie sinnvoll ist Entwicklungshilfe überhaupt? Das diskutieren in der neuen Folge des Podcasts «Laut + Leis» Elísio Macamo vom Zentrum für Afrikastudien der Uni Basel und Nicole Bolliger von der Entwicklungsorganisation Brücke Le Pont.

Sandra Leis

Hilfswerke und NGOs sprechen heute nicht mehr von Entwicklungshilfe, sondern von Entwicklungszusammenarbeit. Sie suchen Partnerorganisationen vor Ort und wollen den Menschen auf Augenhöhe begegnen.

«Es geht nicht um Wissenstransfer vom globalen Norden in den globalen Süden. Für mich sind es gemeinsame Lernprozesse. Im Vordergrund müssen globale Gerechtigkeit und Solidarität stehen», sagt Nicole Bolliger. Sie ist bei der Schweizer Entwicklungsorganisation Brücke Le Pont Programmverantwortliche für Afrika.

Hilfswerke und Agenturen haben das letzte Wort

Gegründet vor fast siebzig Jahren vom heutigen Dachverband der Arbeitnehmenden Travail.Suisse und der Katholischen Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmer-Bewegung Schweiz (KAB), steht auch heute die Förderung menschenwürdiger Arbeit im Zentrum von Brücke Le Pont.

Mai-Aktion 2019: Brücke Le Pont fördert menschenwürdige Arbeit.
Mai-Aktion 2019: Brücke Le Pont fördert menschenwürdige Arbeit.

Doch es sind die Hilfswerke und Agenturen für internationale Zusammenarbeit, die entscheiden, wer finanziell unterstützt wird und wer nicht. «Es gibt immer jemanden, der das letzte Wort hat. Und das ist nie der Afrikaner. Denn der Afrikaner ist nicht derjenige, der das Geld hat», sagt Elísio Macamo. Er ist Professor für Soziologie und Mitglied des Zentrums für Afrikastudien an der Universität Basel.

Decolonizing Aid – die Quadratur des Kreises

1964 in Mosambik geboren und aufgewachsen, hat Macamo miterlebt, wie sein Land von Portugal unabhängig wurde und bis heute zu den ärmsten Ländern der Welt gehört.

Das Schlagwort der Stunde heisst «Decolonizing Aid». Das heisst, Hilfswerke wollen die kolonialen Wurzeln der Entwicklungszusammenarbeit überwinden. Doch ist partnerschaftliche Hilfe überhaupt möglich, wenn einer Geld gibt und der andere empfängt?

Schild am Eingang des Zentrums für Afrikastudien der Uni Basel.
Schild am Eingang des Zentrums für Afrikastudien der Uni Basel.

Elísio Macamo ist skeptisch: «Decolonizing Aid ist fast die Quadratur des Kreises.» Er lobt und kritisiert den Diskurs: «Wichtig sind alle Inhalte, die mit Respekt zu tun haben.» Beispielsweise begrüsst er es, dass die Weissen nicht immer als Retter und die armen Afrikaner als Empfänger von Almosen dargestellt werden. Zielführend findet er auch, dass Leute vor Ort die Arbeit machen.

«Doch all das ändert nichts an der Tatsache, dass es Gesellschaften gibt, die Geld und technisches Wissen haben, und das mit anderen Ländern teilen. Das Problem ist die Hilfe und nicht, wie sie gemacht wird.»

Wer profitiert von der Hilfe?

Was wäre die Alternative? Auf Hilfe verzichten, wie es auch einige afrikanische Aktivisten und Wissenschaftlerinnen fordern? So weit will Elísio Macamo nicht gehen. Auch wenn er sagt, dass Hilfe nicht dazu führe, dass afrikanische Regierungen Verantwortung übernehmen. Sie bleiben abhängig, und das schaffe Raum für Korruption.

Elísio Macamo: «Das Problem ist die Hilfe und nicht, wie sie gemacht wird.»
Elísio Macamo: «Das Problem ist die Hilfe und nicht, wie sie gemacht wird.»

«Wichtig ist, dass wir offen bleiben für diese Diskussion. Vielleicht kommen wir eines Tages zum Schluss, dass es besser ist, mit der Hilfe aufzuhören.» Mit einem Lachen im Gesicht schiebt er nach: «Mich würde eigentlich interessieren, wer am meisten davon betroffen wäre. Denn die Entwicklungszusammenarbeit ist ein Riesenapparat.» Das heisst, betroffen wären nicht nur die Menschen in Afrika, sondern all die Leute, die davon leben.

Rechenschaftspflicht der NGOs

Eine Frage, die in den Augen von Nicole Bolliger viel zu wenig diskutiert wird, ist die Rechenschaftspflicht. «Sind wir unserem Geldgeber oder der lokalen Bevölkerung verpflichtet?», fragt Bolliger und antwortet gleich selbst: «Wir sind den Menschen vor Ort verpflichtet. Das bedeutet, dass wir als NGO und Geldgeber Kontrolle und Macht abgeben müssen.» 

Das sei nicht einfach, weiss sie aus eigener Erfahrung, aber möglich. «Zentral ist der Aufbau von Partnerschaften, die auf Vertrauen basieren und langfristig sind und so die Eigenverantwortung stärken.»

Für Ratschläge geradestehen

Die Rechenschaftspflicht ist auch für Elísio Macamo ein wichtiger Punkt. «Viele Organisationen geben gut gemeinte Ratschläge, müssen aber nie dafür geradestehen, wenn es schiefgeht.»

Nicole Bolliger: «Als NGO und Geldgeber müssen wir Kontrolle und Macht abgeben.»
Nicole Bolliger: «Als NGO und Geldgeber müssen wir Kontrolle und Macht abgeben.»

Er plädiert für die Schaffung legaler Strukturen, die es erlauben, Organisationen in die Pflicht zu nehmen: «Wenn Organisationen dafür haften, was sie beraten, dann hätten wir in der Entwicklungszusammenarbeit eine völlig andere Situation.»

Romantisierte europäische Geschichte

Das Rezeptwissen und die Ignoranz der eigenen Geschichte gegenüber sind für Macamo grosse Hürden für eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe. 

«Die europäische Geschichte wird romantisiert», sagt er. «Es gibt die weit verbreitete Vorstellung, dass man alles richtig gemacht hat. Man hatte Demokratie, man hatte Menschenrechte, und das erklärt die europäische Entwicklung.» 

Nicole Bolliger und Elísio Macamo plädieren für eine Rechenschaftspflicht.
Nicole Bolliger und Elísio Macamo plädieren für eine Rechenschaftspflicht.

Doch das stimme nicht, denn bis zum Zweiten Weltkrieg sei Armut in Europa völlig normal gewesen. Und mit der Gleichstellung der Geschlechter sei es auch noch nicht so lange her, wie die Schweiz exemplarisch zeige. 

Deshalb sagt Elísio Macamo: «Von Europa kann Afrika nicht lernen, wie man sich entwickelt. Sondern wie man die Vorteile bewahrt, wenn man schon entwickelt ist.»


Nicole Bolliger und Elísio Macamo | © Sandra Leis
15. Dezember 2023 | 09:00
Lesezeit: ca. 3 Min.
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