Arnd Bünker, Leiter des SPI.
Schweiz

Arnd Bünker: «Die Kirchensteuer ist nicht der entscheidende Grund»

Wo sind die Kirchenmitglieder? Und ist der Mitgliederschwund überhaupt noch zu stoppen? Darüber spricht Arnd Bünker in der neuen Folge des Podcasts «Laut + Leis». Bünker leitet das SPI in St. Gallen und erforscht die Entwicklung der Kirchen in der Schweiz.

Sandra Leis

Seit der Veröffentlichung der Pilotstudie zu den Missbrauchsfällen in der römisch-katholischen Kirche sind die Austrittszahlen sprunghaft angestiegen. Ein Beispiel: Im Kanton Aargau sind im September knapp 1200 Menschen ausgetreten. Das sind viermal so viele wie im selben Zeitraum im Vorjahr.

«Dass nach einer solchen Publikation viele Menschen austreten, ist normal», sagt Arnd Bünker nüchtern. Er leitet das Schweizerische Pastoralsoziologische Institut (SPI) in St. Gallen und forscht seit vielen Jahren zur Religionslandschaft der Schweiz. Alarmierend wäre es, wenn die Austrittszahlen dauerhaft hoch blieben.

Fast leere Kirchenbänke.
Fast leere Kirchenbänke.

Negative Folgen für die Reformierten

Auf den ersten Blick erstaunen mag folgender Umstand: Wenn die römisch-katholische Kirche im Kreuzfeuer der Kritik steht, dann kämpft auch die evangelisch-reformierte Kirche mit Austritten. Arnd Bünker erklärt das so: «Die Distanzierung von der eigenen Kirche ist schon so gross, dass es keine Rolle spielt, was die eigene und was die andere Kirche ist.»

Abwärtstrend hält an

Auch ohne Skandale hält der Abwärtstrend bei beiden Landeskirchen an: War man vor fünfzig Jahren in der Schweiz entweder evangelisch-reformiert (leicht in der Überzahl) oder römisch-katholisch, so sieht das Bild heute ganz anders aus.

Arnd Bünker in seinem Büro in St. Gallen: «Das Pfarreisystem allein hat keine Zukunft.»
Arnd Bünker in seinem Büro in St. Gallen: «Das Pfarreisystem allein hat keine Zukunft.»

Nur noch gut ein Fünftel ist reformiert (rund zwei Millionen), ein Drittel ist katholisch (rund drei Millionen) und ein Drittel ist konfessionslos. Der Rest (zehn Prozent) besteht aus anderen Religionsgemeinschaften.

Von der Migration profitiert

Auffällig ist: Die Verluste bei der römisch-katholischen Kirche sind deutlich kleiner als bei ihrer Schwesterkirche. «Die katholische Kirche konnte von der sogenannten Gastarbeitermigration und weiteren Migrationen profitieren, weil Katholikinnen und Katholiken in die Schweiz eingewandert sind», sagt Bünker.

In absoluten Zahlen seien die Mitgliederzahlen einigermassen stabil; doch im Vergleich zur Gesamtbevölkerung verliere auch die katholische Kirche an Mitgliedern.

Die Entfremdung von der Kirche

Heute haben viele Menschen keinen Bezug mehr zur Kirche. Sie ist ihnen fremd. Die Kirchensteuer sei nicht der entscheidende Grund für einen Austritt, sondern die Entfremdung, sagt Bünker. 

«Das Geld wird erst dann zum Grund, wenn die Sache nicht mehr stimmt. Wenn ich mit dem Glauben nichts mehr anfangen kann und die Kirche nicht mehr brauche, dann ist es logisch, dass ich mich frage, weshalb ich das noch bezahlen soll.»

Basel ist Rekordhalterin

Starken Zuwachs gibt es einzig bei den Konfessionslosen. Rekordhalterin ist die Stadt Basel: Dort bezeichnet sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung als konfessions- oder religionslos. Noch vor zehn Jahren war der typische Konfessionslose urban, männlich und gutverdienend.

Das Basler Münster war einst eine katholische Bischofskirche.
Das Basler Münster war einst eine katholische Bischofskirche.

Heute sieht das anders aus: «Die Zahlen der Austretenden sind bei Männern und Frauen fast identisch», sagt Bünker. Eine starke Differenz gebe es hingegen zwischen Stadt und Land: «Die Entfremdung von den Kirchen ist im urbanen Umfeld stärker verbreitet als im ländlichen Umfeld, was sich mit der Konkurrenzsituation erklären lässt.» Auf dem Dorf und im Tal spiele die Kirche noch eine andere Rolle, um die man gar nicht herumkomme. 

Konfessionslosigkeit wird zur Normalität

Gleichwohl: Die Säkularisierung und die Individualisierung schreiten voran und beschleunigen den Mitgliederschwund. «Der Einfluss der institutionalisierten Religionen in der Gesellschaft geht zurück. Das spüren in der Schweiz vor allem die beiden grossen Landeskirchen», sagt Bünker.

Doch man sehe auch, dass andere Religionsgemeinschaften zahlenmässig nicht davon profitieren. Das heisst: «Die Konfessionslosigkeit wird zur kulturellen Normalität, und darauf müssen sich die Kirchen einstellen.»

Der Landeskirche geht es wie dem Turnverein

Bleibt die grosse Frage nach dem Wie. Auch Arnd Bünker hat kein Patentrezept, doch er sagt: «Es geht nicht um alles oder nichts. Sondern um einen Wechsel der institutionellen Gestalt. Wenn wir uns auf das kleinräumige Pfarreisystem beschränken, dann glaube ich, dass unsere Kirchen, auch die reformierte, keine Zukunft haben werden.»

In welche Richtung müssen sich die Landeskirchen verändern? Das ist die grosse Frage.
In welche Richtung müssen sich die Landeskirchen verändern? Das ist die grosse Frage.

Vor ein paar Jahren brachte es der Kommunikations-Beauftragte der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons St. Gallen auf den Punkt: «Der Landeskirche geht es wie dem Turnverein, der ganz verschiedene Sportarten anbietet.»

Freiheit von Menschen ernst nehmen

Das sieht auch Arnd Bünker so: Wie der Turnverein biete jede Pfarrei ein Vollprogramm an, das viele Menschen gar nicht mehr wollen. «Wir wissen, dass Menschen heute viel individualisierter als früher die Auseinandersetzung mit Religion und Spiritualität suchen.» 

Zudem wisse man aus der Forschung – und das sei besonders für die katholische Kirche eine Knacknuss –, dass die Auseinandersetzung mit Religion nur gelinge, wenn die Kirche die Freiheit von Menschen wirklich ernst nehme. 

Mut für Experimente

«Das heisst, die Kirche muss Menschen begleiten, Ambivalenzen und Unsicherheiten aushalten.» Die Kirche, so Bünker, setze immer noch auf Sicherheit, auf das Planbare und Regelmässige. «Eigentlich müssten wir jetzt den Mut haben, den Hebel umzudrehen und grosse Beträge umzulenken in Experimente und neue Versuche.» Das erfordert eine grosse Offenheit und Bereitschaft, auch ein Scheitern in Kauf zu nehmen und daraus für die Zukunft zu lernen.


Arnd Bünker, Leiter des SPI. | © Sandra Leis
1. Dezember 2023 | 09:00
Lesezeit: ca. 3 Min.
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