Porträt von Emil G. Bührle von Oskar Kokoschka im Zürcher Kunsthaus
Schweiz

Sakrale Seite eines Waffenhändlers: Warum Emil Bührle so viel kirchliche Kunst sammelte

Emil Georg Bührle war ein ruchloser Waffenhändler. Gleichzeitig sammelte er leidenschaftlich Kunst. Dabei spielte sakrale Kunst eine grosse Rolle für ihn. In einer zweiten, kommentierten Ausstellung im Zürcher Kunsthaus ist diese zu sehen. Und die wegen Raubkunstbildern umstrittene Sammlung.

Wolfgang Holz

Dieser Tintoretto ist atemberaubend. Im wahrsten Sinne des Wortes. Auf dieser barocken, im Stil des Manierismus gemalten «Kreuztragung» (1585/1590) der italienischen Künstler-Legende, ist der Leidensgang Jesu wie eine dramatische Farbspirale um ein schwarzes Loch herum gemalt – den Tod.

Das Schweisstuch gereicht

Jesus wird gerade dargestellt, wie ihm, erschöpft am Boden liegend unter dem riesigen Kreuz, von der Heiligen Veronika das Schweisstuch gereicht wird. Dahinter ist seine Mutter Maria, mit Tränen in den Augen, zusammengebrochen und wird von einem Apostel Jesu gestützt. Sie formen die eine dynamische Bilddiagonale.

Philippe Büttner, Sammlungskonservator des Zürcher Kunsthauses, vor dem Tintoretto "Kreuzgang"
Philippe Büttner, Sammlungskonservator des Zürcher Kunsthauses, vor dem Tintoretto "Kreuzgang"

Derweil reiten Soldaten und Ritter bergan und treiben die Verbrecher, die zusammen mit Jesus gekreuzigt werden, hinauf Richtung Golgatha. Das ist die andere Bilddiagonale. Ganz oben in der Ferne, direkt über der Hinrichtungsstätte, dämmert es am Himmel unter dunklen Wolken. Ein finsteres, gleichwohl faszinierendes Szenario des Grauens.

«Für den Waffenhändler war religiöse Kunst sehr wichtig.»

Philippe Büttner, Sammlungskonservator Kunsthaus Zürich

«Bührle wollte sicher einfach einen Tintoretto in seiner Sammlung haben», erklärt Philippe Büttner, Sammlungskonservator im Zürcher Kunsthaus, warum Bührle gerade dieses religiöse Gemälde besitzen wollte. «Andererseits war für den Waffenhändler religiöse Kunst sehr wichtig.»

"Thronende Muttergottes" (12. Jahrhundert aus der Auvergne)
"Thronende Muttergottes" (12. Jahrhundert aus der Auvergne)

Ein Sechstel der Sammlung: Sakrale Kunst

In der Tat. Unter den insgesamt 632 Kunstwerken der Bührle-Sammlung, von denen 203 Objekte als Dauerleihgabe im Zürcher Kunsthaus aufbewahrt und von denen momentan 120 ausgestellt zu sehen sind, macht sakrale Kunst sage und schreibe rund ein Sechstel der Gesamtsammlung aus. Nicht zuletzt zahlreiche romanische und gotische Madonnenskulpturen sind Bestandteil seiner zig millionenschweren Kunstsammlung.

Gotische Madonna: Stehende Muttergottes "Die Jungfrau und das Kind" (Ulm, 1470)
Gotische Madonna: Stehende Muttergottes "Die Jungfrau und das Kind" (Ulm, 1470)

Philippe Büttner muss es wissen. Seit zwölf Jahren arbeitet er als Sammlungskonservator im Kunsthaus Zürich. Mittlerweile ist er auch mit den Werken der Sammlung Emil Bührle sehr vertraut, die 2021 als Dauerleihgabe dem Kunsthaus anvertraut wurde. «Kunst ist meine Leidenschaft. Ich spüre eine starke Verbindung zu Kunstwerken, und Kunst ist ein intensives ästhetisches Erlebnis für mich.»

In den letzten Lebensjahren viel sakrale Kunst gekauft

Nicht nur die grosse Zahl der sakralen Kunstwerke in Bührles Sammlung lässt aufhorchen, wie Philippe Büttner gegenüber kath.ch sagt. Gerade in den letzten Lebensjahren habe er ausserordentlich viele, ja die meisten religiöse Kunstwerke erworben.

Szene aus dem Tintoretto-Gemälde "Kreuzgang" (1585/1590)
Szene aus dem Tintoretto-Gemälde "Kreuzgang" (1585/1590)

Deshalb kann man sich fragen, ob die religiöse Kunst in seiner Sammlung nicht eine ganz spezielle, über den blossen Besitz und über ihre Schönheit hinausgehende Rolle spielte. Konkret: Suchte Bührle womöglich sein Seelenheil als skrupelloser Waffenhändler, der sich durch das Geschäft mit dem Tod unsagbar bereicherte, indem er sich mit zahlreichen religiösen Kunstwerken umgab?

Schenkte Kirchgemeinden Skulpturen

«Es gibt dazu keine konkreten Äusserungen von Bührle», klärt Büttner auf. Aber die Frage zu stellen, ob die sakralen Werke in seiner Sammlung auch eine redemptorische, erlösende Funktion hatte, sei durchaus legitim. «Er war ja auch Christkatholik und hat Kirchgemeinden Skulpturen seiner Sammlung zur Religionsausübung zur Verfügung gestellt», lässt Büttner wissen. Religiöse Kunst scheint für Bührle also offensichtlich auch eine klar sakrale Funktion gehabt zu haben.

Die zwei Fotographien

Eine Hypothese, die in der Bührle-Ausstellung im Zürcher Kunsthaus auch durch die Info-Wand zur Person des Waffenhändlers zusätzlich auf mysteriöse Weise motiviert wird. Denn auf dieser Info-Wand ist Emil G. Bührle auf zwei grossen Schwarz-Weiss-Fotographien abgebildet.

Emil G. Bührle vor dem Tintoretto auf dem Foto des Life-Magazins
Emil G. Bührle vor dem Tintoretto auf dem Foto des Life-Magazins

Und zwar auf zwei Fotos des amerikanischen Life-Magazins, das eine Reportage über den Waffenhändler plante. Zwei Fotos, die am gleichen Tag aufgenommen wurden, aber nie erschienen sind.

Abwehrraketen und Tintoretto

Auf dem einen Foto steht Bührle im Anzug auf dem Werksgelände seines Rüstungsbetriebs – vor einer Flugabwehrraketenstellung. Auf dem zweiten Bild sitzt Bührle entspannt in einem Raum mit Gemälden seiner Sammlung – just neben dem besagten «Kreuzgang» Tintorettos als zentralem Blickfang. Wollte Bührle sich als Schöngeist moralisch womöglich ein Stück weit reinwaschen?

"Der Heilige Augustin" (1620) von Peter Paul Rubens
"Der Heilige Augustin" (1620) von Peter Paul Rubens

«Bührle war eine extrem ambivalente Figur», unterstreicht Philippe Büttner. Einerseits sei er ein ruchloser Waffenhändler gewesen, der seinen ganzen Reichtum durch Waffenverkäufe erwarb. Andererseits habe er ein genuines Interesse an qualitätvoller Kunst gehabt. Nicht zuletzt eben an sakraler Kunst.

Die Sammlung Bührle und ihre Präsentation

Die von Emil Bührle (1890–1956) hinterlassenen, weltbedeutenden, zumeist impressionistischen Werke sind mit seiner Tätigkeit als Rüstungsindustrieller und mit der Zeitgeschichte eng verflochten. Dies ist seit 3. November 2023 Gegenstand einer neuen ausführlichen Dokumentation im Zürcher Kunsthaus ist.

Auf über 900 Quadratmetern werden rund 120 Werke gezeigt, und die neue, zweite Ausstellung zur Sammlung Bührle vermittelt den historischen Kontext zu Bührles Rolle als Industrieller, Mäzen und Sammler, der dem Kunsthaus eng verbunden war.

Im November 1936 begann Emil Bührle mit ersten Bilderkäufen für sein grosses Haus. Schon die ersten Käufe richteten sich stark auf den französischen Impressionismus und Nachimpressionismus.

Philippe Büttner, Sammlungskonservator des Zürcher Kunsthauses
Philippe Büttner, Sammlungskonservator des Zürcher Kunsthauses

1939 nahm Emil Bührle an der Auktion bei der Galerie Fischer teil, an welcher als «entartet» beschlagnahmte Bilder aus deutschen Museen angeboten wurden. In den Kriegsjahren wurde der in St. Gallen ansässige Kunsthändler Fritz Nathan zu Bührles engstem Berater. In der Zeit gelangten rund 100 Kunstwerke in Bührles Besitz.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurden in der Schweiz 77 Kunstwerke identifiziert, die von deutschen Stellen im besetzten Frankreich gestohlen worden waren. 13 davon besass Emil Bührle. Es kam zu vielbeachteten Prozessen vor der Raubgutkammer des Schweizerischen Bundesgerichts in Lausanne, die 1948 mit der Restitution der Bilder an die rechtmässigen Besitzer endeten. Emil Bührle kaufte in der Folge 9 der restituierten Bilder zurück.

Seit Oktober 2021 werden die Werke der Sammlung Bührle (1936-1956) im neuen Chipperfield-Bau des Kunsthauses als Dauerleihgabe gezeigt. Mit der Start der Präsentation ist die Verantwortung für die Provenienzforschung zu den Werken an die Zürcher Kunstgesellschaft übergegangen, den Trägerverein des Kunsthauses. (woz)


Porträt von Emil G. Bührle von Oskar Kokoschka im Zürcher Kunsthaus | © Wolfgang Holz
10. Dezember 2023 | 14:00
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