Engel in einer Weihnachtsdekoration
Radiopredigt

Der Weihnachtsbaum steht Kopf

Die Spannung zwischen der Weihnachtsbotschaft vom Frieden auf Erden und den täglichen Nachrichten sind kaum auszuhalten. SRF-Radiopredigerin Tania Oldenhage sieht im verkehrten Weihnachtsbaum ein Zeichen der Rebellion, das auch Jesus gutgeheissen hätte.

Tania Oldenhage*

Ich kannte einmal eine Pfarrfamilie. Die Kinder waren schon fast erwachsen und – so sprach es sich herum – nicht ganz einfach, jedenfalls haben sie sich nicht immer so verhalten, wie man es von Pfarrkindern erwarten würde. Eins von ihnen war von der Schule geflogen, ein anderes trug eine Punkfrisur – es war in den 80er Jahren – in die Kirche gingen diese Kinder schon lange nicht mehr und auf Weihnachten hatten sie prinzipiell keine Lust.

Mit der Spitze nach unten

Aber einmal an einem Tag kurz vor Heilig Abend haben sie den Eltern gesagt, sie würden heute ausnahmsweise den Weihnachtsbaum aufstellen und schmücken. Die Eltern waren erfreut und liessen ihre Kinder gewähren. Die Kinder liessen sich Zeit. Die Eltern warteten. Endlich war es so weit. Sie machten die Tür zum Wohnzimmer auf und konnten es nicht fassen. Ihre Kinder hatten den Weihnachtsbaum verkehrt an die Decke gehängt. Die Baumspitze zeigte nach unten. Ich selbst habe es nicht gesehen, man hat mir die Geschichte erzählt, aber ich weiss noch wie entsetzt ich war. Die armen Eltern. Was für schlimme Kinder.

Der umgekehrte Baum

Diese Geschichte geht mir nicht aus dem Kopf. Immer im Advent denke ich dran und sehe die jungen Leute vor mir, wie sie den Baum verkehrt herum aufstellen. Im Zimmer nebenan steht die Mutter, es ist Advent, das Pfarrhaus schön dekoriert, sie hat die Krippenfiguren vom Dach geholt, Sterne ans Fenster gehängt, den Adventskranz aufgestellt. Jetzt steht sie in der Küche, vielleicht kocht sie oder bäckt, und dann kommen ihre Kinder und holen sie ins Wohnzimmer.

Kugeln und Glitzer zwischen grünen Tannadeln
Kugeln und Glitzer zwischen grünen Tannadeln

Ein grandioser Streich!

Ein umgekehrter Weihnachtsbaum! Ich frage mich, wie er aussah. Ob die Kinder ihn geschmückt haben. Ob Christbaumkugeln an den Zweigen hingen oder Lametta. Und ich denke an die Weihnachtsbäume in unserer Zeit. Manche von ihnen haben mich schon im November daran erinnert, dass Weihnachten naht. Zeit, Geschenke zu kaufen. Einen Weihnachtsbaum habe ich gesehen, der war sogar mit Geschenken dekoriert, auf denen war riesengross und dick und fett der Name einer Waren-Kette zu lesen. Manchmal gehe ich durch die Strassen und stelle mir vor, alle Weihnachtsbäume würden mitten in der Nacht durch einen grandiosen Streich auf den Kopf gestellt werden. Am nächsten Morgen würden sich die Leute wundern, was ist da passiert?

Eine jesuanische Geste?

Ehrlich gesagt: So ganz unchristlich wäre das nicht. Jesus, stelle ich mir vor, würde heute vielleicht auch einige Weihnachtsbäume umdrehen, so wie die Tische der Händler im Tempel. Ein umgekehrter Weihnachtsbaum: eine jesuanische Geste, ein Protest gegen eine Weihnachtskultur, die aus den Fugen geraten ist, ein subversives Gleichnis, das uns aufrütteln will.

Tania Oldenhage
Tania Oldenhage

Spannung und Rebellion

Und in der Küche steht die Mutter, sie bereitet alles vor fürs Weihnachtsfest, sie kocht, sie backt, sie knetet den Teig, während die Kinder drüben im Wohnzimmer angeblich den Baum schmücken. Ich kann die Kinder inzwischen ein klein wenig verstehen. Ich weiss nicht, gegen was sie damals genau rebelliert haben. Vielleicht war es ihnen einfach zu viel, dieselbe Spannung Jahr für Jahr auszuhalten, dieselbe Spannung, die wir  – so denke ich – alle irgendwie aushalten müssen: Die Berge von Geschenken und die Einzahlungsscheine der Hilfsorganisationen. Die besinnlichen Friedensbotschaften und die aktuellen Katastrophennachrichten. Die idyllischen Familienszenen, Vater, Mutter, Kind, und der Streit in den eigenen vier Wänden. Jahr für Jahr dasselbe.

Verändere diese Welt!

In manchen alten Adventsliedern kommt diese Spannung zur Sprache. O Heiland reiss die Himmel auf! Giess ein Tau vom Himmel, lass die Erde ausschlagen, verändere diese Welt, mach ein Ende dem Kaufwahn, den Plastikbergen von Spielsachen, die jedes Jahr höher werden, reiss sie nieder, verwandle uns und unsere Herzen – so könnte man das alte Lied «O Heiland reiss die Himmel auf» in unsere Zeit hineinübersetzen.

An einem Adventsabend haben junge Leute einen Weihnachtsbaum verkehrt herum aufgestellt. Als Zeichen des Protestes gegen die scheinheilige Weihnachtskultur ihrer Zeit. Nebenan bäckt die Mutter einen Hefezopf. Ihre Hände tief im Mehl. Seit Wochen ist sie am Verzieren und Verzaubern, am Kerzen anzünden und Sterne aufhängen. Die Mutter hat die gleichen Nachrichten gehört wie ihre Kinder. Sie weiss genauso wie ihre Kinder, wie viel in der Welt im Argen liegt.

Ein Stern am Weihnachtsbaum
Ein Stern am Weihnachtsbaum

…bis der Teig aufgeht

Genau wie ihre Kinder beobachtet sie, wie Weihnachten kommerzialisiert wird, jedes Jahr ein bisschen mehr. Und auch sie kann die Spannung manchmal schier nicht aushalten zwischen den schönen Worten über den Frieden auf Erden und den Kriegen der Wirklichkeit. O Heiland reiss die Himmel auf, – anders als ihre Kinder kennt sie dieses alte Adventslied auswendig und die Worte gehen ihr durch den Kopf, wenn sie die Zeitung liest. Und dann steht sie auf, schmückt ihr Haus, zündet Kerzen an, backt und kocht, schreibt Adventskarten und kurz vor Heilig Abend nimmt sie einen Würfel Hefe und mischt ihn unter Milch, Butter und Mehl, knetet den Teig, legt ein Tuch darauf und lässt ihn stehen bis sich der Teig verwandelt und aufgeht.

Die Mutter, man hat sie oft unterschätzt: eine Hausfrau, eine Pfarrfrau, die Frau des Pfarrers und doch war sie eine der klügsten Menschen, die ich kannte. Und auch sie erinnert mich auf ihre Weise an Jesus, der einmal ein Gleichnis erzählte: 

Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Sauerteig, den eine Frau nahm und unter drei Scheffel Mehl mischte, bis alles durchsäuert war. (Mt 13,33)

Das Subversive

Auch Sauerteig hat etwas Subversives. Er braucht eine Weile, aber dann verwandelt er etwas Bestehendes in etwas anderes. Eine Mutter bäckt mitten im Advent einen Hefezopf für ihre zerstrittene Familie. Sie lässt sich nicht davon abbringen, Weihnachtssterne aufzuhängen, das Haus zu schmücken, Kerzen anzuzünden. Sie hat die Krippenfiguren vom Dach geholt, die sie vor Jahren selbst gemacht hat. Sie hält fest an all den Adventsbräuchen und es ist ihr egal, wenn man sie belächelt, denn sie glaubt daran, dass diese Bräuche, fernab vom Kommerz der Einkaufszentren, die Kraft haben, etwas in den Herzen zu verändern. Wenn nicht heute, dann vielleicht nächstes Jahr. Oder das Jahr darauf.    

Brotbacken im Sonnenhügel im ehemaligen Kloster Schüpfheim LU
Brotbacken im Sonnenhügel im ehemaligen Kloster Schüpfheim LU

Der Protestweihnachtsbaum

Ich glaube inzwischen, dass die frechen jungen Leute und deren Mutter an jenem Abend im Advent je auf ihre Weise etwas getan haben, das aus christlicher Sicht eine Adventsbotschaft sein kann. Einen Weihnachtsbaum verkehrt herum aufstellen ist ziemlich dreist, aber in manchen Situationen auch ein wenig jesuanisch. Jedenfalls kann man die Geste so verstehen: ein Protest gegen unhaltbare Zustände.  

Einen Hefezopf backen kann in bestimmten Situationen ebenfalls jesuanisch sein, und manchmal stelle ich mir vor, wie der Duft von frisch gebackenem Brot durchs Pfarrhaus zog.

Das alles ist schon lange her. Die jungen Leute von damals sind längst nicht mehr jung. Mit der Zeit haben sie einen Weg mit den Eltern gefunden. Haben Berufe gelernt. Familien gegründet. Vor ein paar Jahren ist die Mutter gestorben. Jedes Jahr im Advent denke ich an sie und zünde für sie eine Kerze an.

* Tania Oldenhage ist evangelisch-reformierte Pfarrerin in Zürich.

Bibelstelle: Mt 13,33

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Engel in einer Weihnachtsdekoration | © Georges Scherrer
11. Dezember 2022 | 06:48
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