Tania Oldenhage
Radiopredigt

Tania Oldenhage: Das grosse Parkhaus und die Barmherzigkeit

Tania Oldenhage erzählt von ihren täglichen Erfahrungen im Strassenverkehr und vom grossen Parkhaus, das manchmal Angst und Aggression hervorruft. «Diese sind verständlich und problematisch zugleich. Sie entstehen, weil ich in diesen Momenten stärker als sonst meine Verletzbarkeit spüre», sagt die SRF-Radiopredigerin.

Tania Oldenhage*

Ein grosses Parkhaus mitten in einem Wohnquartier in Zürich – oft geh ich dran vorbei. Es ist eine unangenehme Ecke. Die Autos, die ins Parkhaus fahren, haben es immer eilig. Die Ausfahrt geht direkt aufs Trottoir. Wenn ich nicht aufpasse und einen Bogen mache… Fast immer kommt ein Auto die steile Rampe hoch und schneidet mir den Weg ab.

Wege werden geschnitten

Wenn ich Glück hab’, wird gebremst, das Auto bleibt stehen, für eine Sekunde schauen wir uns an, der Mensch am Steuer und ich auf dem Trottoir, dann winkt er oder sie mich gnädig durch, tritt wieder aufs Gas kaum bin ich vorbei, und ich spüre die warmen Abgase im Rücken. Ich lauf weiter und fang’ leise an zu schimpfen, die Menschen sind so rücksichtslos, so auf sich bedacht. Wenig später bin ich auf dem Velo und fahr zur Arbeit. An der Kreuzung nimmt mir ein BMW die Vorfahrt. In der Kurve fährt ein Kleinlaster so nah an mir vorbei, dass mich der Rückspiegel streift.

Auto oder Velo?
Auto oder Velo?

Das Gefälle ist asymmetrich

Barmherzigkeit ist ein biblisches Wort. Für mich war es lange auch ein schwieriges Wort. Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist, sagt Jesus im Lukasevangelium. Gott erbarmt sich seiner Menschenkinder, hab’ ich als Kind in der Kirche gelernt, doch heute bringt die Rede vom barmherzigen Vater im Himmel einen ganzen Schwung an unangenehmen Bildern mit sich. Seid barmherzig…, lese ich und sehe einen strengen Kirchenmann vor mir, der Milde walten lässt und mit den armen Sündern Erbarmen hat, oder einen Gutsherrn, der aus der Güte seines Herzens heraus der Bettlerin vor seiner Tür Almosen gibt. Das Gefälle ist immer asymmetrisch. Barmherzig sind die, die die Macht haben. Ein silberner Minivan schiesst aus der Einfahrt eines Parkhauses, bremst ab, einer sitzt am Steuer, schaut mich an, hat Erbarmen mit mir, gibt mir gnädig ein Zeichen, dass ich weitergehen darf, aber bitte schnell.

Das Unerwartete überrascht

Doch einmal ist mir auf der Strasse vor dem grossen Parkhaus etwas Unerwartetes passiert. Es war am Vormittag, die Autos, die links ins Parkhaus einbiegen wollten, stauten sich schon hinter mir, vor mir kam eins hochgeschossen, bremste ab, auch ich blieb stehen, schaute zur Person am Steuer, ob sie mich durchwinken würde, die Frau sah mich an, dann winkte sie mir zu, sie lächelte, wir kannten uns, es war eine Pfarrkollegin von mir, sie ist seit vielen Jahren Seelsorgerin im Spital. Ich war überrascht, aber dann setzten sich die Dinge plötzlich ganz schnell neu für mich zusammen.    

Ein freundliches Gesicht öffnet das Herz

Denn das Parkhaus gehört zu einem der grossen Spitäler in Zürich. Mit 24 Stunden Notfall-, Herz- und Lungenzentrum, Chirurgie und vielem mehr. Die Leute, die in ihren Autos tagein, tagaus, rein- und rausfahren sind Angestellte, Ärztinnen, Pflegende, Besucher und Besucherinnen, Leute, deren Angehörige krank geworden und im Spital sind. Nicht, dass mir das völlig neu war, natürlich wusste ich, das Parkhaus ist ein Spitalparkhaus, das steht auch gross und breit vor der Einfahrt. Aber erst das freundliche, müde Gesicht meiner Pfarrkollegin hatte mir für diese Tatsache mein Herz geöffnet. Und jetzt konnte ich auch einordnen, was ich bislang nur unterschwellig wahrgenommen hatte. Viele Leute am Steuer sind älter. Seit ich darauf achte, sehe ich es und frag mich: Wie viele von ihnen wären gern mit dem ÖV gekommen und sind aber nicht mobil genug? Wie viele nehmen das Auto, weil ein Besuch im Spital sonst zu schwierig wäre? In den BMWs und SUVs, in den VWs und Ford Fiestas sitzen jeden Tag Menschen, die mit Sorgen und Nöten kämpfen, die ich mir noch nicht mal vorstellen kann.  

Unispital Zürich - Eingang zur Notfallstation
Unispital Zürich - Eingang zur Notfallstation

Der Verletzlichkeit ausgesetzt

Die Theologin Hildegund Keul sagt: Wir können uns der Barmherzigkeit erst dann richtig annähern, wenn wir über unsere Verletzbarkeit nachdenken – über unsere eigene, aber auch über die der anderen. Die Aggressionen, die in mir hochkommen jedes Mal, wenn ich am grossen Parkhaus vorbeilaufe, sind verständlich und problematisch zugleich. Sie entstehen, weil ich in diesen Momenten stärker als sonst meine Verletzbarkeit spüre, die potentielle Gefahr, der ich – Mensch aus Fleisch und Blut – ausgesetzt bin.

Sich einschliessen und verschliessen

Selbst wenn mir noch nie etwas passiert ist, selbst wenn es sehr unwahrscheinlich ist, dass mich vor diesem Parkhaus je ein Auto überrollen wird – die Angst, die Aggression, sie sind real. Und sie verschliessen mich gegenüber der Not der anderen, so dass das Bedürfnis, mich selbst zu schützen, im Mittelpunkt steht und Wochen und Monate vergehen können, ohne dass ich mich auch nur für einen Moment dafür interessiere, wer da tagein tagaus an mir vorbeifährt. Ich will nicht verletzt werden, darum schliess ich mich ab, hülle mich in Selbstschutz. Mit diesem Gefühl lauf ich nicht nur am Parkhaus vorbei, sondern wenn ich nicht aufpasse, bestimmt es die Art und Weise, mit der ich überhaupt durchs Leben gehe. Dann werden andere Menschen, wenn sie mir auch nur einen Schritt zu nahekommen, zum Ärgernis. Und egal was sie machen, reg ich mich auf und denke: Die Menschen sind so rücksichtslos, so auf sich bedacht.

Tania Oldenhage
Tania Oldenhage

Die Theologie der Barmherzigkeit einüben

Es wäre schön, wenn mich die Begegnung mit meiner Pfarrkollegin von diesem Mechanismus befreit hätte. Aber so ist es nicht. Der Weg am Parkhaus vorbei bleibt für mich eine Herausforderung. Jede Velofahrt durch Zürich, jede Kreuzung, jede Kurve. Und ja, ich denke, es muss sich etwas ändern. Der Autoverkehr in der Stadt muss sich ändern. Velofahrer und Fussgängerinnen brauchen mehr Sicherheit. Aber solange die Situation ist, wie sie ist, muss ich mit ihr leben. Und so bin ich jeden Tag angewiesen auf ein Stück Theologie der Barmherzigkeit, die mich lehrt, neben meiner Verwundbarkeit, auch die der anderen wahrzunehmen.

Barmherzigkeit eine Rührung des Innersten

Barmherzigkeit – sagt die Bibel-Exegese – betrifft das Innerste einer Person. Barmherzigkeit spielt sich nicht nur im Kopf ab, sondern ist eine von Herzen kommende Rührung. Rachamim – ist das hebräische Wort für Barmherzigkeit, es leitet sich interessanterweise von einem Wort ab, das Mutterschoss bedeutet oder Gebärmutter. Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist, – durch die Schichten der Übersetzungen vermischt sich in diesem Jesussatz das Bild von Gott, dem Vater, mit einer der schönsten biblischen Geburtsmetaphern. Ein Mutterschoss schützt nicht nur, er weitet sich auch, macht Platz für ein anderes Lebewesen. Und so löst sich die biblische Barmherzigkeit aus der patriarchalen Bilderwelt und hilft mir, in meinem Alltag zurechtzukommen. 

Verstehen, was in mir und den anderen vorgeht

Barmherzig, sei barmherzig. Seit mir meine Pfarrkollegin aus dem Auto zugewunken hat, laufe und radle ich etwas anders durch die Stadt. Schaue etwas genauer auf die Menschen da am Steuer, suche ihren Blick. Versuche zu verstehen, was vorgeht in mir, aber auch in ihnen. Der Stress ist immer noch da, aber auch noch etwas anderes, eine Regung, eine Empfindung, Mitleid trifft es nicht ganz, vielleicht eher ein Anflug von Empathie, oder vielleicht tatsächlich die erste Spur, der Beginn von etwas, das die Bibel Barmherzigkeit nennt.

*Tania Oldenhage ist evangelisch-reformierte Pfarrerin in Zürich.

Bibelstelle: Lukas 6,36

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Tania Oldenhage | © Sibylle Hardegger
25. September 2022 | 07:13
Lesezeit: ca. 5 Min.
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