Erzbischof Wolfgang Haas an der Abdankung von Fürstin Marie von und zu Liechtenstein.
Schweiz

«Déformation spirituelle»: Karin Iten kritisiert Erzbischof Wolfgang Haas

«Es ist problematisch, wenn eine bestimmte Monokultur von Priestern herangezüchtet wird», sagt Karin Iten über das Erzbistum Vaduz. Der Priester Thomas Jäger inszeniere in einem Video seine Unschuld. Das sei ein «Schlag ins Gesicht» für die Familie, die den Ruggeller Übergriff ans Licht brachte.

Raphael Rauch

Der Priester Thomas Jäger beteuert in einem selbst inszenierten Video seine Unschuld. Was sagen Sie dazu?

Karin Iten*: Der Priester beteuert darin nicht nur seine Unschuld, sondern er fühlt und inszeniert sich als Opfer der Justiz und macht eine Art Schuldumkehr. Darüber hinaus zieht er eine Parallele zur Passionsgeschichte. Er vergleicht sich selbst mit einem Heiligen oder gar mit Jesus. Damit immunisiert er sich gegen jegliche Kritik. Er macht darin eine spirituelle Überhöhung. Das ist nicht sachdienlich, sondern manipulativ.

Karin Iten
Karin Iten

Hätte Erzbischof Wolfgang Haas den Priester auffordern sollen, das Video vom Netz zu nehmen?

Iten: Ja, Manipulation an dieser Stelle darf keinen Platz haben. Auch die Betroffenenfürsorge ist immer zu berücksichtigen: Das Video ist in dieser Form ein Schlag ins Gesicht für die Familie, die den Fall gemeldet hat. Und das Video erhöht für alle die Schwelle, Missbrauchsfälle überhaupt zu melden, weil der Priester suggeriert: Eine Meldung ist ein Angriff auf die Gesamtkirche, «den heiligen Leib Christi». Auch das ist eine Inszenierung. Jedes Bistum sollte vielmehr die Botschaft ausstrahlen: Meldet alle Missbrauchsfälle!

«Rehabilitierung muss sachbezogen sein und ohne spirituelle Manipulation.»

Ist es nicht das gute Recht des Priesters, sich zu verteidigen?

Iten: Ich verstehe den Wunsch nach Rehabilitierung. Aber diese muss zum richtigen Zeitpunkt erfolgen. Das heisst: wenn alle Fragen geklärt sind und nach Abschluss aller offenen Verfahren. Vorher ist das nicht legitim und stört das Verfahren. Und Rehabilitierung muss sachbezogen sein und ohne spirituelle Manipulation.

Was bedeutet spirituelle Manipulation?

Iten: Diese hat viele subtile Gesichter und meint Überhöhung, Entwertung, Engführen, Verängstigen oder Unterdrücken mittels spiritueller Botschaften. Das Instrumentalisieren und Verzwecken von Spiritualität zu Machtzwecken oder eigenen, intransparenten Zwecken. Gerade geistliche Führungspersonen haben hier ein hohes Manipulationspotential. Da braucht es viel Selbstreflexion, um auf Manipulation zu verzichten. 

«Ein solches Video zementiert unantastbare Gehorsamkeit. Es ist nicht stärkend.»

Im Internet kursierte ein weiteres Video, das inzwischen vom Netz genommen wurde. 

Iten: Das Video zeigt ein antiquiertes Bild von absoluter Gehorsamkeit. Thomas Jäger stellt die Unterwerfung von Kindern darin als normal und gottgegeben dar. Er benennt zudem, dass Kinder Erwachsenen einfach nur ausgeliefert sind. Zu einer solchen Geschichte gehört unbedingt die Botschaft der Ermächtigung von Kindern. Und auch den Hinweis auf die Verantwortung der Erwachsenen, Kinder stark zu machen und ihnen Rechte einzuräumen. Ohne diese Korrektur zementiert und zelebriert ein solches Video unantastbare Gehorsamkeit. Es ist nicht stärkend.

Generalvikar Markus Walser an der Fronleichnamsprozession in Ruggell.
Generalvikar Markus Walser an der Fronleichnamsprozession in Ruggell.

Ich habe auf der Website des Erzbistums Vaduz keinen Hinweis gefunden, an wen sich Opfer von sexuellem Missbrauch wenden können. Auch sind keine Richtlinien publiziert.

Iten: Zur Präventionsarbeit gehört auch ein gutes Melde-Management. Jedes Bistum muss Menschen ermutigen, Vorfälle zu melden. Es braucht Ansprechpersonen mit unbefangenen Menschen, die für den Missbrauchskomplex zuständig sind – und klare, transparente Richtlinien. 

Der frühere Bischof von Limburg, Franz Kamphaus, wollte Thomas Jäger nicht zum Priester weihen.
Der frühere Bischof von Limburg, Franz Kamphaus, wollte Thomas Jäger nicht zum Priester weihen.

Das Bistum Limburg hatte Bedenken, Thomas Jäger zum Priester zu weihen. Das Erzbistum Vaduz hat ihn trotzdem zum Priester geweiht. Wie finden Sie das?

Iten: Begründete Bedenken eines anderen Bistums muss ein Erzbischof unbedingt ernstnehmen und einbeziehen. Aber vielmehr braucht er auch selbst Kriterien, die ein Weihekandidat erfüllen muss. Und zwar Kriterien, die über eine reine Frömmigkeit hinausgehen. Gefragt sind die Fähigkeit zur Selbstreflexion, kritisches Denken sowie die Bereitschaft, ein Leben lang an sich zu arbeiten und zu lernen.

Unter Missbrauchsverdacht: der Priester Thomas Jäger aus dem Erzbistum Vaduz.
Unter Missbrauchsverdacht: der Priester Thomas Jäger aus dem Erzbistum Vaduz.

Das Bistum Limburg war Thomas Jäger wohl zu liberal.

Iten: Unabhängig von den Kategorien liberal oder konservativ, braucht es in jedem Bistum vor allem Diversität. Aus Sicht der Präventionsarbeit ist es problematisch, wenn eine bestimmte Monokultur von Priestern herangezüchtet wird. Vielstimmigkeit erschwert blinde Flecken. Erst wenn vielfältige Menschen im eigenen Umkreis sind, dann werden alle kritisch herausgefordert. Wenn alle in ihrer Bubble bleiben, müssen sie sich gar nicht reflektieren und werden nur bestätigt – und können sich in einseitiger Frömmigkeit sonnen. Jeder Mensch braucht Resonanz und Feedback – auch kritisches Feedback. Ansonsten führt das zu einer Déformation professionelle. Und im kirchlichen Kontext auch zu einer Déformation spirituelle.

«Der Verhaltenskodex des Bistums Chur sieht vor, dass Mitarbeitende zwischen Privatem und Dienstlichem sorgfältig unterscheiden.» 

Der Priester Thomas Jäger streitet ab, das Mädchen massiert zu haben – gibt aber zu, ihm seine Wohnung und das Schlafzimmer gezeigt zu haben.

Iten: Es gibt keinen fachlichen Grund, warum ein Pfarrer in der Rolle als Religionslehrer zum Beispiel ein einzelnes Kind in seine Wohnung einlädt und ihm das Schlafzimmer zeigt. Das passt nicht zu seiner Rolle und gehört auch nicht zu seinem Auftrag. Da darf eine sorgfältige Einschätzung von Risiken auf alle Seiten und Rollenbewusstsein durch den Pfarrer erwartet werden. Der Verhaltenskodex des Bistums Chur sieht zum Beispiel vor, dass Mitarbeitende zwischen Privatem und Dienstlichem sorgfältig unterscheiden. 

Der Verhaltenskodex des Bistums Chur.
Der Verhaltenskodex des Bistums Chur.

Das Erzbistum Vaduz lehnt Medienanfragen ab mit Verweis auf das laufende Verfahren.

Iten: Ich verstehe, dass fallbezogen Persönlichkeitsrechte gewahrt werden müssen. Es ist dennoch wichtig, dass eine professionelle Krisenkommunikation aufgebaut wird, die gegenüber allen Seiten Vertrauen schafft. Dem Beschuldigen selbst die öffentliche Kommunikation zu überlassen mit der Videobotschaft und einer Webseite, erachte ich als sehr problematisch im Hinblick auf die Betroffenenfürsorge.

* Karin Iten ist Präventionsbeauftragte des Bistums Chur und bis Ende August Co-Leiterin der Geschäftsstelle für das Fachgremium «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der Schweizer Bischofskonferenz.

Thomas Jäger und das Erzbistum Vaduz waren für kath.ch nicht erreichbar. Es gilt die Unschuldsvermutung.


Erzbischof Wolfgang Haas an der Abdankung von Fürstin Marie von und zu Liechtenstein. | © Keystone
30. Juni 2022 | 06:50
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