Die Aktivistinnen von Pussy Riot 2012 in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau.
Schweiz

Darf Kunst Religion lächerlich machen oder verhöhnen? «Ja, sie darf»

Weil auf der Documenta ein Kunstwerk antisemitisch wirkte, wurde es abgehängt. Ist es grundsätzlich legitim, dass Kunst Gott und Religion in ein kritisches Licht stellt, lächerlich macht und beleidigt? Ein Zürcher Professor bezieht Stellung – und meint, dass Jesus selbst mal ein «Punk» war.

Wolfgang Holz

Herr Scheller, Sie sind Professor für Kunstgeschichte an der Hochschule der Künste in Zürich. Hätten Sie das umstrittene Kunstwerk mit antisemitischer Stossrichtung an der Documenta auch abgehängt?

Jörg Scheller*: Ja, ich glaube schon. Ich hätte es gar nicht erst zugelassen für die Documenta. Der Fehler wurde früher gemacht. Jedes Land hat seine Tabus und seine No-Gos. Die Reaktionen um das umstrittene Kunstwerk waren in Deutschland mit seiner Vergangenheit voraussehbar – zumal es sich schlicht um ein plumpes Werk handelt.

«Kunst wird nur Narrenfreiheit gewährt, wenn sie auf politische Macht verzichtet. Das ist der Deal.»

Was meinen Sie damit konkret?

Scheller: Entscheidend aber ist für mich, dass die documenta 15 keine Kunstausstellung im engeren Sinn ist. Sie ist ein Forum für globalen Aktivismus, in dem Kunst nur ein Mittel zum Zweck unter vielen ist. Deshalb kann sich das Kuratorenteam nicht einfach auf Kunstfreiheit und Kunstautonomie berufen. Kunst darf nicht als Deckmantel für alle möglichen Anliegen instrumentalisiert werden. Ihr wird nur Narrenfreiheit gewährt, wenn sie auf politische Macht verzichtet. Das ist der Deal.

Jörg Scheller, Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule für Künste.
Jörg Scheller, Professor für Kunstgeschichte an der Zürcher Hochschule für Künste.

Sie sprechen damit die deutsche Vergangenheit im Dritten Reich und den Holocaust an. Es gibt aber nach wie vor jene «Judensau»-Schmähplastik an der Stadtkirche in Wittenberg, die stehen bleiben darf. Wird da mit zweierlei Mass gemessen?

Scheller: Nein, bei dieser Schmähplastik handelt es sich um ein historisches Werk und sie hat damit eine andere Bedeutung. Man kann historisch gemachte Fehler nicht einfach auslöschen, indem man sie beseitigt. Aber man kann sie kontextualisieren und entsprechend kommentieren. Bei dem Banner auf der Documenta handelte es sich nicht nur um eine Religion verspottende Aussage, sondern mehr noch um ein insgesamt israelfeindliches Statement, das politisch eine antisemitische Machtdemonstration verkörpert. Ein Agit-Prop-Banner quasi.

«Wenn Kunst die Religion nicht mehr aufs Korn nehmen dürfte, würde dies von anderen gesellschaftlichen Gruppen sofort als Freifahrschein empfunden.»

Trotzdem: Darf Kunst so frei sein, dass sie Religion kritisiert, ja sogar lächerlich macht, verunglimpft, verhöhnt und damit die religiösen Gefühle von Menschen verletzt?

Die Schmähplastik Judensau an der Stadtkirche in Wittenberg darf bleiben.
Die Schmähplastik Judensau an der Stadtkirche in Wittenberg darf bleiben.

Scheller: Ja, sie darf. Absolut. Gerade in pluralistischen, demokratischen Systemen unserer westlichen Gesellschaft kann man bestimmte Gruppen nicht grundsätzlich von Kritik ausnehmen. In pluralistischen Gesellschaften können alle möglichen Gruppen sich aus den verschiedensten Gründen verletzt fühlen. Wenn Kunst die Religion nicht mehr aufs Korn nehmen dürfte, würde dies von anderen gesellschaftlichen Gruppen sofort als Freifahrschein empfunden. Alle würden sich auf ihre «Gefühle» berufen, weil sie damit Deutungshoheit hätten. So wäre kein demokratisches Zusammenleben möglich.

«Nur wenige Angehörige des Islam fordern eine solch brutale Gewalt und unterstützen solche radikalisierten Ideologien. «

Aber ist Religion nicht ein Absolutum an sich, ist Gott nicht ein Tabu, das aus der Sicht von Gläubigen nicht angreifbar sein sollte?

Scheller: Jein, das kann Religion sicher sein. Aber nicht selten ist Religion eben mit der politischen Macht verknüpft, und es handelt sich dann um eine Art von politischer Theologie. Oft ist die Macht vermischt. Und was würde passieren, wenn die Religion plötzlich über allem steht in einer Gesellschaft? Sie würde, gerade weil sie grosse Macht hätte, umso mehr für Politisches missbraucht werden, indem sich Menschen aus überaus weltlichen Gründen, die natürlich unausgesprochen bleiben, auf sie berufen.

Der Isenheimer Altar in Colmar.
Der Isenheimer Altar in Colmar.

Künstlerische Religionskritik kann aber tödlich enden. 2005 verhöhnte ein dänischer Karikaturist den Propheten Mohammed mit einem Bombenturban. Der Karikaturist entkam knapp dem Tod und stand bis an sein Lebensende unter strengstem Personenschutz. 2015 gab es in der Pariser Redaktion von «Charlie Hebdo» ein Blutbad durch Islamisten wegen satirischer Zeichnungen. Rechtfertigen solche künstlerischen Provokationen unterm Strich solche Konsequenzen?

Scheller: Nur wenige Angehörige des Islam fordern eine solch brutale Gewalt und unterstützen solche radikalisierten Ideologien. Und was wäre die Alternative in einer pluralen Gesellschaft? Die Zensur beziehungsweise die Selbstzensur? Grenzen auszutesten, gehört in den demokratischen Gesellschaften zur Tagesordnung. Keine Gruppe darf davon ausgenommen werden.

Die Aktivistinnen von Pussy Riot 2012 in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau.
Die Aktivistinnen von Pussy Riot 2012 in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau.

In Russland ging es 2011 etwas friedlicher zu, als die Girlband Pussy Riot in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale ihr «Punkgebet» inszenierte. Die Mitglieder der Band, die gegen die Allianz von Staat und orthodoxer Kirche demonstrierten, landeten später hinter Gittern. Was sagen Sie dazu?

Scheller: Diese Aktion fand ich eher vieldeutig und durchaus klug konzipiert. Sie hat die Religion nicht herabgewürdigt, sondern provoziert. Da können gläubige orthodoxe Christen ihren «safe space» Kirche schon in Gefahr sehen. Aber gerade das frühe Christentum selbst, insbesondere Jesus, kann ja in gewisser Hinsicht als Punk-Bewegung eingestuft werden in seiner Kritik an bestehenden Staats- und Religionsordnungen sowie in seiner ursprünglichen Aussenseiterrolle. Jesus ist nicht vor den Herrschern geflohen, sondern wurde für seine Überzeugungen gekreuzigt. Auch die Band Pussy Riot hat sich für ihre Ziele eingesetzt, hat Opfer gebracht und damit innere Stärke bewiesen.

«Gerade die katholische Kirche hat kunsthistorisch gesehen viel Erfahrung mit der schmerzverzerrten Darstellung von Jesus.»

Auch der Papst hat sein Fett abbekommen durch die Kunst, wenn man sich die verzerrenden «Schrei-Porträts» von Francis Bacon zu Papst Innozenz X. anschaut. Verstörend?

Scheller: Für die einen ja, für die anderen nein. Diese Darstellungen sind absolut legitim. Gerade die katholische Kirche hat kunsthistorisch gesehen viel Erfahrung mit der schmerzverzerrten Darstellung von Jesus, dem Gekreuzigten, etwa im Isenheimer Altar. Es gibt eine lange Tradition des Schrecklichen und Abstossenden. Andererseits kann die Reaktion auf angeblich oder tatsächlich religionskritische Kunst auch in katholischen Breiten durchaus heftig sein. Siehe Polen.

Statt dem Corpus Christi hat die polnische Künstlerin Dorota Nieznalska einen Penis aufs Kreuz inszeniert.
Statt dem Corpus Christi hat die polnische Künstlerin Dorota Nieznalska einen Penis aufs Kreuz inszeniert.

Was ist da passiert?

Scheller: In Polen führte 2001 Dorota Nieznalskas umstrittene Installation Pasja, in der ein Bild eines Penis auf einem griechischen Metallkreuz anstelle des Corpus Christi platziert und mit der Videoaufnahme eines Mannes bei Krafttraining kombiniert wurde, zu einem bemerkenswerten Skandal. Konservative Katholiken verurteilten die Darstellung als unmoralisch und blasphemisch. Nieznalska wurde wegen eines mutmasslichen Verstosses gegen eine Bestimmung des polnischen Strafgesetzbuchs zum Verbot von Blasphemie angeklagt. Sie wurde erstinstanzlich verurteilt und erst viele Jahre später freigesprochen. Man konnte die Arbeit auf viele Weisen deuten – die Skandalisierenden haben versucht, sie zu vereindeutigen.

Krass. Ist es vielleicht auch möglich, dass religiöse Kreise so allergisch auf die Kritik der Kunst reagieren, weil die Religion von der Kunst jahrhundertlang hofiert wurde, im Sinne einer religiösen Propagandaagentur?

«Die Allianz zwischen Religion und Kunst wurde in der westlichen Moderne sicherlich aufgebrochen.»

Scheller: Interessante Frage. Die Allianz zwischen Religion und Kunst wurde in der westlichen Moderne sicherlich aufgebrochen, in der die beiden sich nun wie Sparringspartner verhalten. Die Eindeutigkeit der Kunst ist flöten gegangen ebenso wie die Eindeutigkeit und der Alleinanspruch der Religion. Alles ist komplexer und vielfältiger geworden. Manche wünschen sich, dass die Kunst wieder Macht hat. Ich wünsche mir das nicht. Sondern weniger Macht und mehr Kunst – die kann natürlich auch religiös sein.

*Jörg Scheller ist Professor für Kunstgeschichte am Departement Fine Arts der Zürcher Hochschule der Künste


Die Aktivistinnen von Pussy Riot 2012 in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. | © Keystone
6. Juli 2022 | 10:40
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