Veronika Eufinger
Konstruktiv

Veronika Eufinger: «Der erste Schritt zu mehr Vitalität ist das gezielte Seinlassen»

Kirche kann vital und zukunftsfähig sein. Doch dafür braucht es Ressourcen und den Willen zur Veränderung. «In Kirchengemeinden sehen wir mitunter starke Beharrungskräfte», sagt Veronika Eufinger vom Zentrum für angewandte Pastoralforschung in Bochum (D).

Jacqueline Straub

In der Schweiz hat die im September 2023 veröffentlichte Missbrauchsstudie zu einer grossen Kirchenaustrittswelle geführt. Hat die Kirche eine Zukunft?

Veronika Eufinger*: Dass durch das Bekanntwerden von Missbrauchsfällen eine grössere Kirchenaustrittswelle folgt, ist zu erwarten. In Deutschland sind 2022 über 500’000 Katholikinnen und Katholiken aus der Kirche ausgetreten. Auf dieser Basis ist die Frage nach der Zukunft der Kirche nachvollziehbar, lässt sich aber nicht pauschal beantworten.

Eine Frau und ein Mann sitzen in einer Kirchenbank.
Eine Frau und ein Mann sitzen in einer Kirchenbank.

Von welchen Idealen muss sich die Kirche sich trennen?

Eufinger: Es sind eher Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten, von denen sich die katholische Kirche trennen muss: Zum einen ist nicht davon auszugehen, dass die Weitergabe von Religiosität und Kirchlichkeit automatisch innerhalb der Familien stattfindet. Selbst in Familien, die der Kirche angehören, funktioniert die Weitergabe des Glaubens an die nächste Generation nicht mehr, sodass die Austrittswahrscheinlichkeit unter den Nachwachsenden steigt. Kirchenmitgliedschaft ist nicht mehr obligatorisch und muss begründet werden.

«Die Kirche ist nicht mehr die eine gültige Institution des Religiösen.»

Und zum anderen?

Eufinger: Seit den 1970er-Jahren ist die Relevanz der Kirche, etwa für soziale Fragen und die politische Willensbildung, kontinuierlich zurückgegangen. Die Kirche ist nicht mehr die eine gültige Institution des Religiösen und befindet sich in einer Konkurrenz der Sinn- und Gemeinschaftsangebote.

Was kann sie tun, damit Menschen, die der Kirche den Rücken zugewandt haben, wieder einen Schritt auf die Kirche hin wagen?

Eufinger: Kirchenbindung in Milieus zu stärken, die bereits als religiös distanziert oder säkular einzuordnen sind, ist schwer machbar. Es lohnt sich jedoch zu schauen, was Kirchenmitglieder und Konfessionslose von der Kirche fordern.

Vier brennende Kerzen in einer Schale auf den Altarstufen zum 20-jährigen Bestehen von Queer-Gottesdiensten in München.
Vier brennende Kerzen in einer Schale auf den Altarstufen zum 20-jährigen Bestehen von Queer-Gottesdiensten in München.

Und das wäre?

Eufinger: Aus einer Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung in Deutschland aus dem Jahr 2023 wissen wir: 95 Prozent der deutschen Katholikinnen und Katholiken sind für die Zulassung verheirateter Priester und 86 Prozent wünschen sich die Segnung homosexueller Partnerschaften. Zugleich erwarten die Menschen, dass die Kirche sich nicht nur auf religiöse Fragen beschränkt: Sogar 78 Prozent der Konfessionslosen möchten, dass die Kirche soziale Beratungsstellen betreibt und 73 Prozent sind der Ansicht, dass sich die Kirche für die Belange von Geflüchteten, insbesondere für ihre Aufnahme einsetzen soll.

Wie können junge Menschen für die Kirche begeistert werden?

Eufinger: Die Teilnahme von Kindern und Jugendlichen an kirchlichen Angeboten ist entscheidend, um die eigene Religiosität auszubilden. Die Teilnahme am Kommunions- und Firmunterricht sowie den zugehörigen Feiern ist bedeutsam für die spätere Einstellung zum Glauben.

Kirche St. Johannes in Zug: Kinder feiern ihre Erstkommunion in einem Gottesdienst.
Kirche St. Johannes in Zug: Kinder feiern ihre Erstkommunion in einem Gottesdienst.

Wie sollte Religionsunterricht aussehen?

Eufinger: Schulischer Religionsunterricht sollte die religiöse und weltanschauliche Pluralität der Gesellschaft in seine Konzeption einbeziehen, um akzeptiert zu werden. Ein Beispiel für ein erfolgreiches Projekt der Kinder- und Familienpastoral ist die «Kirche Kunterbunt», die als «Messy Church» 2004 in England entstand. Das Angebot richtet sich an Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren sowie ihre Bezugspersonen und verbindet das gemeinsame Feiern mit kreativen Angeboten und einer Tischgemeinschaft unter einem religiösen Thema oder einer biblischen Erzählung. Inzwischen gibt es 5000 solcher Initiativen in über 30 Ländern.

«Bewährt hat sich die Vernetzung und Weiterbildung der Projektteams.»

Wie können pastorale Innovationen gefördert werden?

Eufinger: Wir haben im Rahmen unserer Evaluation des internationalen Programms für pastorale Projekte «Space for Grace», das in Deutschland unter dem Titel «Räume des Glaubens eröffnen» stattfindet, ein paar Erfahrungen zur Projektförderung gesammelt. Bewährt hat sich die Vernetzung und Weiterbildung der Projektteams. Zum einen brauchen die innovativen Köpfe hinter den pastoralen Projekten einen Raum, um sich mit Gleichgesinnten über ihre Erfahrung auszutauschen und zu spüren, dass sie in ihren kirchlichen Arbeitsfeldern, die manchmal wenig innovationsfreundlich daherkommen, nicht allein sind. Zum anderen eröffnen solche Vernetzungstreffen den Raum für gezielte Inputs zu Themen, die hilfreich für innovatives pastorales Arbeiten sind: Dazu gehören etwa Techniken wie Sozialraumanalyse, Ehrenamts- und Teammanagement, aber auch die Auseinandersetzung mit den eigenen spirituellen Quellen und die Neuinterpretation theologischer Inhalte und biblischer Erzählungen.

Stadtkloster-Ritual: für jeden eine Kerze
Stadtkloster-Ritual: für jeden eine Kerze

Wie können vitale Kirchgemeinden «gemacht» werden?

Eufinger: Zuerst muss gefragt werden, was unter Vitalität in einem kirchlichen Sinne zu verstehen ist.

Was schlagen Sie vor?

Eufinger: Ein Modell, das vier Dimensionen von Vitalität unterscheidet: Erstens muss die Gemeinde ihren sozialen Kontext und die Bedürfnisse der Zielgruppe kennen. Wenn das Umfeld berücksichtigt, eine passende Kommunikation entwickelt und ästhetische Gestaltung eingesetzt wird, ist das Kontextualität.

Und die zweite Dimension?

Eufinger: Vitalität benötigt eine gute Zusammenarbeit im Pastoralteam. Zuständigkeiten sollten geklärt und Verantwortung geteilt werden. Das nennen wir Professionalität. Das dritte Element ist die Spiritualität, die sich durch das gemeinsame Feiern und Praktizieren von Ritualen, geteilte Geschichten und Erlebnisse sowie den Zugriff auf geistliche Impulse und das Teilen von Glaubenszeugnissen in einer gemeinsamen Identität niederschlägt. Die vierte Dimension ist die Intentionalität. Sie wird durch das Verfolgen gemeinsamer Ziele erreicht.

«Es braucht die Unterstützung von übergeordneten kirchlichen Strukturen.»

Sehen Sie im deutschsprachigen Raum hierfür genügend Potenzial?

Eufinger: Grundsätzlich ist das Potenzial vorhanden, dies unterstreichen die insgesamt 123 Projekte, die im Rahmen von «Space for Grace» zwischen 2019 und 2023 bereits erfolgreich durchgeführt wurden. Der Weg zur vitalen Kirchengemeinde setzt jedoch als erstes den Ausbruch aus einem Kreislauf der Trägheit voraus. Aus diesem kann durch das Ausprobieren innovativer Ansätze ausgebrochen werden.

Kann also jede Pfarrei vital werden und aus dem Kreislauf der Trägheit ausbrechen?

Eufinger: Es braucht die Unterstützung von übergeordneten kirchlichen Strukturen.

Präsentation von Projekten beim "Churching".
Präsentation von Projekten beim "Churching".

Was braucht es, um eine gute Pastoral vor Ort zu haben?

Eufinger: Es braucht eine positive Fehlerkultur, denn nicht jede Innovation ist automatisch wirksam. Gleichzeitig ist es auch wichtig, dass erfolgreiche Projekte sichtbar gemacht werden. Ebenso sind gewisse Tools wichtig: Etwa die Erstellung von Personas, einer Methode, um systematisch Zielgruppen kennenzulernen, das Sprechen über den eigenen Glauben muss eingeübt werden und es braucht ein gemeinsames Warum-Statement, das die Vision unterstreicht.

An vielen Orten wird nur wenig ausprobiert. Woran liegt das?

Eufinger: Neben der Skepsis und direkten Missbilligung durch Vorgesetzte lassen sich Faktoren kirchlicher Organisationskultur identifizieren, die aktives Ausprobieren verhindern können. In Kirchengemeinden sehen wir mitunter starke Beharrungskräfte: Teile der Gemeinde, aber auch haupt- oder ehrenamtliche Mitarbeitende können sich gegen jede Form von Veränderung sperren. Vor allem, wenn es um gestalterische Veränderungen kirchlicher Räumlichkeiten geht, empfinden dies einige Akteurinnen und Akteure als unerwünschten Eingriff in ihr erweitertes Wohnzimmer.

«Der erste Schritt zu mehr Vitalität ist oft das gezielte Seinlassen.»

In Pfarreien, in denen wenig Vitalität zu finden ist, ist die Frustration meist hoch. Was kann dagegen helfen?

Eufinger: Wer Neues wagen will, muss Ressourcen dafür haben. Hierbei lohnt es sich darüber nachzudenken, welche zurzeit praktizierten Routinen Zeit und Energie fressen, ohne Wirkung zu zeigen. Der erste Schritt zu weniger Frustration und mehr Vitalität ist oft das gezielte Seinlassen.

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Wie werden die Pfarreien und kirchlichen Gemeinden der Zukunft aussehen?

Eufinger: Personalgemeinden, aber auch posttraditionale Vergemeinschaftungen wie situative Events oder die «fresh expressions of church», denen auch die «Kirche Kunterbunt» zuzuordnen ist, können in Zukunft eine wachsende Rolle spielen. Ziel von «Space for Grace» ist es, dass religiöse Gemeinschaften der Zukunft vitale Gemeinschaften sind.

*Veronika Eufinger (39) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für angewandte Pastoralforschung in Bochum (D). Sie hat an der Publikation «Space for grace: Räume des Glaubens eröffnen» mitgewirkt.


Veronika Eufinger | © zvg
24. April 2024 | 06:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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