Christian Rutishauser
Kommentar

Christian Rutishauser zum Tag des Judentums: Verschwörungstheorien sind Aberglaube in säkularer Form

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ist ebenso Jude wie der russische Oligarch Mosche Kantor, der an der Seite Putins steht. Das Judentum ist vielfältig. Trotzdem haben durch die Corona-Pandemie antisemitische Verschwörungstheorien Auftrieb erhalten. Ein Gastkommentar zum Tag des Judentums.

Christian Rutishauser*

In der Schweiz begeht die römisch-katholische Kirche am zweiten Sonntag der Fastenzeit den «dies judaicus», den Tag des Judentums. Er soll bewusst machen: Für Christen und Christinnen stellt das Judentum nicht eine Religionsgemeinschaft unter anderen dar. Vielmehr ist Christsein mit dem Judentum konstitutiv verbunden, weil Christentum seinem Ursprung nach messianisches Judentum ist. 

Verbundenheit von Kirche und Synagoge

Der Tag des Judentums soll die Verbundenheit von Kirche und Synagoge auch jenseits von Aufarbeitung der schrecklichen Vergangenheit und nicht nur durch die Bekämpfung des Antisemitismus zum Ausdruck bringen. Und doch hat der «dies judaicus» jedes Jahr einen besonderen Akzent. 2022 liegt er gerade darin, sich gegen den neu aufkeimenden Antisemitismus zu stellen. 

Die Pandemie hat nämlich Verschwörungstheorien Auftrieb verliehen, die auch den Juden wieder Weltherrschaftsansprüche unterstellen. Wie einst im Spätmittelalter für die Pest, sollten sie auch heute hinter dem Corona-Virus stecken. Juden würden damit Politik und Wirtschaft destabilisieren, Geld verdienen und zudem vom Nahostkonflikt ablenken – natürlich sich in Israel besonders früh und gut durch Impfungen schützen. 

Selenskyj versus Kantor

Dass Juden jedoch weltweit sehr unterschiedliche und gegensätzliche Positionen einnehmen und nicht konzertiert die Welt beherrschen, zeigt nur schon der Ukraine-Krieg: Auf der einen Seite ein jüdischer Präsident Wolodymyr Selenskyj in Kiew, der klug und mit allen Kräften für die ganze Ukraine gegen den russischen Aggressor kämpft. 

Auf der anderen Seite der Präsident des European Jewish Congress Mosche Kantor, ein russischer Oligarch, der so nahe bei Putin steht, dass er seit dem Beginn des Ukrainekriegs untergetaucht ist. Doch auch diese Tatsache werden Antisemiten zu rationalisieren versuchen. 

Machtphantasien kaschieren die eigenen Ängste

Der Glaube hinter Verschwörungstheorien ist jedoch gefährlicher Aberglaube in säkularer Form. Wenn man schon nicht mehr an den Gott der Bibel, der einen universalen Anspruch auf die ganze Welt hat, glaubt, dann projiziert man die Überreste und Zerrformen des Monotheismus auf das Judentum. Die ins Negative pervertierte Form sagt dabei nichts mehr über Juden aus, sondern über die eigenen Ängste und die Ohnmacht, die durch Machtphantasien kaschiert werden.

Ein kirchlicher Tag des Judentums ist ein Tag des Lernens, das die Friedens- und Versöhnungsbotschaft des Evangeliums nicht nur eine christliche Angelegenheit ist. Sie wird zusammen mit dem Judentum – dem Anderen des Christentums – allen Menschen guten Willens angeboten. Der «dies judaicus» steht dafür, dass Glaube und Religion weder für nationale, imperiale Interessen vereinnahmt noch säkular ausgeschaltet und neutralisiert werden dürfen. Vielmehr verpflichtet er, dass die religiösen und spirituellen Quellen über Gruppenzugehörigkeit hinweg für den Dialog, die Verständigung und für Versöhnung fruchtbar gemacht werden. 

«Licht für die Völker»

Die christliche und jüdische Tradition richten sich nicht nur an das Individuum, das Anrecht hat, auf dem persönlichen Lebensweg in seinem Ringen um Lebensfülle begleitet zu werden. Das Judentum will «Licht für die Völker» sein, so wie auch das Christentum. 

Die römisch-katholische Kirche unterstreicht dies, wenn sie ihr Dokument der Selbstreflexion beim Zweiten Vatikanischen Konzil programmatisch mit den Worten «Lumen gentium» beginnen lässt. Dass die Kirche und viele Christen bei ihrem gesellschaftlichen Wirken viel Gutes erreicht haben, auf dem die säkulare Moderne nun aufbaut, wie auch ihr Versagen durch alle Jahrhunderte hindurch, dürften nicht erstaunen. 

Umkehr tut immer und immer wieder not

Das Christentum wird immer von den Menschen ihrer Zeit geprägt, die sich oft allzu menschlich benehmen. Die realexistierende Kirche bleibt allzu weit hinter ihrem Anspruch zurück. Die Juden haben in besonderer Weise darunter gelitten. Daher ist es gut, dass der Tag des Judentums zu Beginn der jährlichen Fastenzeit steht. Umkehr tut immer und immer wieder not.

* Christian Rutishauser (56) war von 2012–2021 Provinzial der Schweizer Jesuitenprovinz und leitet nun die Schul- und Hochschularbeit der Zentraleuropäischen Provinz der Jesuiten in München. Seit 2004 ist er Delegationsmitglied der vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen mit dem Judentum und seit 2014 ständiger Berater des Heiligen Stuhls.

Der Beitrag erschien zuerst auf Christian Rutishausers Website christianrutishauser.com.


Christian Rutishauser | © Christian Ender
13. März 2022 | 09:52
Lesezeit: ca. 3 Min.
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