Ein wütender Mob. Wandbild in der "Sündenbock"-Ausstellung, 2019 im Schweizerischen Nationalmuseum
Schweiz

«In der Verschwörungswelt sind antisemitische Tendenzen stark verbreitet»

Die Corona-Pandemie hat Verschwörungstheorien Aufwind gegeben – und damit auch dem Antisemitismus. Wie beides miteinander verquickt ist, erklärt Georg Otto Schmid von der Sektenberatungsstelle Relinfo.

Regula Pfeifer

Laut dem neusten Antisemitismusbericht hat es in der Deutschschweiz und im Tessin 2021 rund doppelt so viele antisemitische Online-Vorfälle gegeben als im Jahr zuvor. Wie beurteilen Sie das?

Georg Otto Schmid leitet die evangelische Sektenberatung Relinfo
Georg Otto Schmid leitet die evangelische Sektenberatung Relinfo
Georg Otto Schmid*: Das hat mit den Verschwörungstheorien zu tun, die eindeutig zugenommen haben. Diese haben sehr oft eine antisemitische Stossrichtung. Zudem werden heute mehr solche Online-Vorfälle angezeigt. Es ist richtig, dass wir diesbezüglich viel aufmerksamer geworden sind als bis vor kurzem.

«In der Corona-Pandemie haben viele angefangen, sich für Verschwörungstheorien zu interessieren.»

Warum hat Corona das gefördert?

Schmid: In der Corona-Pandemie haben viele Leute angefangen, sich für Verschwörungstheorien zu interessieren. Das war schon vorher eine Tendenz. Diese hat sich durch Corona deutlich verstärkt. Im Verschwörungsumfeld geistern antisemitische Tendenzen herum. Wer anfängt, sich für Verschwörungstheorien zu interessieren, bleibt in aller Regel nicht bei einer Theorie stehen. Er oder sie nimmt eine nach der anderen auf und landet irgendwann bei antisemitischen Verschwörungstheorien. Denn in der Verschwörungswelt sind antisemitische Denkmuster sehr stark verbreitet. Das ist leider so.

«Seit dem Mittelalter kursierten zwei antisemitische Verschwörungstheorien: die Ritualmord- und die Brunnenvergiftungslegende.»

Wieso sind diese so verbreitet?

Schmid: Weil der Antisemitismus eine der Quellen der Verschwörungstheorien ist. Seit dem Mittelalter kursierten zwei antisemitische Verschwörungstheorien: Die Ritualmordlegende besagte, dass Juden Christenkinder töten würden. Und die Brunnenvergiftungslegende behauptet, dass Juden die Brunnen vergiftet und dadurch den Schwarzen Tod, also die Pest, ausgelöst hätten.

Das ist lange her. Verschwinden solche Vorstellungen nicht?

Schmid: Nein, wer an Verschwörungstheorien glauben will, greift meist auf das zurück, was bereits existiert. Wenn also eine Vorstellung in der Verschwörungswelt drin ist, kann sie über Jahrhunderte weiterverbreitet werden. Das zeigt sich bis heute. Aber auch der Rassismus des 19. Jahrhunderts und der Nationalsozialismus spielten eine Rolle.

«Die rechtsextreme Fälschung der ‘Protokolle der Weisen von Zion’ werden noch heute häufig erwähnt.»

Inwiefern ist der Nationalsozialismus da involviert?

Schmid: Im Rassismus und Nationalsozialismus wurden bewusst antijüdische Verschwörungstheorien gefördert. Die rechtsextreme Fälschung der «Protokolle der Weisen von Zion» an der Wende zum 20. Jahrhundert wollte eine angebliche jüdische Weltverschwörung belegen. Die Protokolle werden noch heute sehr häufig von Verschwörungstheoretikern erwähnt. Sie behaupten, dass jüdische Kreise die Welt beherrschen würden.

Hat das Aufkommen von Antisemitismus mit einer Krisensituation zu tun? Jetzt in der Corona-Pandemie.

Schmid: Ja, genau, das ist so. Verschwörungstheorien, auch antisemitische, verbreiten sich besonders in Krisensituationen. Der schwarze Tod war im Mittelalter eine Pandemie ungeahnten Ausmasses, die einen Drittel der Bevölkerung Europas dahinraffte. Mit der Brunnenvergiftungslegende wurden die Juden dafür verantwortlich gemacht. Und nach dem Ersten Weltkrieg gab es die Dolchstoss-Legende. Damit machten viele Menschen in den besiegten Ländern die Juden für die Niederlage verantwortlich.

«Verschwörungstheorien haben oft den Charakter einer Ersatzreligion für säkulare Menschen.»

Hat Religion etwas damit zu tun?

Schmid: Im Moment lässt sich beobachten: Verschwörungstheorien haben oft den Charakter einer Ersatzreligion für säkulare Menschen. Zwar gibt es religiöse Menschen, die zu Verschwörungstheorien neigen. Aber die grosse Masse der heutigen Verschwörungsfans sind säkular orientierte, unsichere Menschen, die sich in der Krise an nichts festhalten können. Und die dann bei ihrer Suche nach Halt auf Verschwörungstheorien stossen. Und damit fast zwangsläufig auch auf antisemitische Theorien.

«Die Verschwörungstheoretiker vereinfachen die Welt radikal.»

Hinter dem Antisemitismus stecken Vorurteile. Etwa eine angebliche Weltverschwörung.

Schmid: Das ist das Haupt-Vorurteil. Die Verschwörungstheorien glauben, dass alles, was auf der Welt geschieht, denselben Verursacher hat. Sie vereinfachen die Welt radikal. Es gibt für sie nur eine Gruppe, die die Welt regiert. Entweder sind das die Freimaurer, die Illuminati – eine längst verschwundene Geheimgesellschaft –, Ausserirdische oder das Weltjudentum. In christlich-fundamentalistischen Kreisen kommt noch der Satan oder der Antichrist als Option hinzu. Es heisst dann: Diese Gruppe wolle die Weltherrschaft an sich reissen und habe Übles vor mit der Menschheit.

Welche Verantwortung hat das Christentum für antijüdische Vorstellungen?

Schmid: Die mittelalterlichen antijüdischen Theorien gingen von Christen aus. Seit dem 19. Jahrhundert sind es eher säkulare Kreise, die rassistische Theorien vertraten und vertreten. Der moderne Rassismus geht auf den Darwinismus zurück. Das ist keine spezifisch christliche Gedankenwelt mehr, sondern eher eine säkulare, pseudowissenschaftliche. Der Nationalsozialismus hatte deutliche ersatzreligiöse Züge. Dasselbe ist auch bei den heutigen Verschwörungstheorien zu beobachten.

«Begegnungen und Hilfe in der Krise: Das sind die besten Ansätze, um Antisemitismus vorzubeugen.»

Was hilft dagegen?

Schmid: Wichtig ist, dass Menschen einander konkret begegnen. Dies ist besonders wichtig für junge Menschen. Wer Jüdinnen und Juden kennt, merkt, dass diese nicht üble Verschwörer sind, wie das die antisemitischen Konspirationsthesen vorgeben. Zudem gilt es, aufmerksam gegenüber Menschen in Krisen zu sein. Denn sie sind gefährdet, in Verschwörungstheorien abzugleiten. Es gilt, sie zu stützen, mitzunehmen, ihnen Gesellschaft zu leisten, eine sinnvolle Beschäftigung zu geben. Begegnungen und Hilfe in der Krise: Das sind die besten Ansätze, um Antisemitismus vorzubeugen.

* Georg Otto Schmid leitet Relinfo, der evangelischen Informationsstelle Kirchen – Sekten – Religionen.

Antisemitismus hat online stark zugenommen

Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund SIG und die GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus haben am Dienstag gemeinsam einen Antisemitismusbericht für die Deutschschweiz, das Tessin und die rätoromanische Sprachregion herausgegeben.

Diese spricht von einer starken Steigerung des Antisemitismus im Online-Bereich. Demnach wurden 2021 insgesamt 806 Online-Vorfälle registriert. 2020 waren es erst 485. Das ist eine Steigerung um 66 Prozent. Zusammen mit den 53 realen Vorfällen ergaben sich damit im letzten Jahr 859 gemeldete und beobachtete antisemitische Vorfälle.

Am stärksten verbreitet waren laut Mitteilung antisemitische Aussagen auf der Online-Plattform Telegram. Diese machten 61 Prozent aller Online-Vorfälle aus. Als Hauptgrund für die Zunahme sieht der Bericht die Corona-Pandemie. (rp)


Ein wütender Mob. Wandbild in der «Sündenbock»-Ausstellung, 2019 im Schweizerischen Nationalmuseum | © Regula Pfeifer
23. Februar 2022 | 12:31
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