Bischof Antonio Crameri
Schweiz

Bischof Antonio Crameri zu Ausnahmezustand in Ecuador: «Wir befinden uns im Bürgerkrieg»

Derzeit herrscht in Ecuador grosses Chaos. Mitten drin ist Bischof Antonio Crameri. Viele Hilferufe erreichen ihn. Er bemüht sich ganze Familien an sichere Orte zu bringen. Und: «Als Kirche versuchen wir, Druck auf die Regierung auszuüben in der Hoffnung, gehört zu werden.» Dinge, die in Ecuador funktionieren, liegen «in den Händen der Kirche».

Siegfried Ostermann, Missio Schweiz

Wie sieht die aktuelle Situation in Ecuador aus? Könnte sie sich verschlechtern?

Bischof Antonio Crameri*: Die Situation im Land ist sehr heikel. Wir befinden uns im Krieg, in einem Bürgerkrieg. Die Regierung hat den Ausnahmezustand ausgerufen, mit einer Ausgangssperre von 23 Uhr bis 5 Uhr morgens, und hat der Armee besondere Befugnisse übertragen. Und das für 60 Tage. Einen Tag später wurde ein weiterer Erlass herausgegeben, der den Banden den Krieg erklärte: Alle Mitglieder werden als Terroristen betrachtet und müssten daher ausgeschaltet werden. Auf der anderen Seite gehen die Drohungen der kriminellen Banden weiter, die sich nun zu einer einzigen «Befreiungsarmee» zusammenschliessen würden. Sie rufen dazu auf, sich mit lebensnotwendigen Dingen einzudecken, Kerzen zu besorgen und das Haus nicht zu verlassen.

«Esmeraldas war schon immer eine laute Stadt. Jetzt herrscht Stille.»

Die «heissesten» Provinzen sind Guayas, Esmeraldas, Los Rios, El Oro und Pichincha. In den letzten zwei Tagen ist eine scheinbare Ruhe eingetreten, die mich persönlich beunruhigt. Esmeraldas war schon immer eine laute Stadt, mit Musik in jedem Haus. Jetzt herrscht Stille. So sehr, dass sogar die Vögel fast aufgehört haben zu singen. Beängstigend ist der Wechsel des Präsidenten. Statt einer Person, die offen für den Dialog ist und sich für den Schutz der Menschenrechte einsetzt, haben wir jetzt einen, der mit eiserner Faust vorgeht. Ich persönlich hätte einen Mittelweg bevorzugt. Gewalt ruft nach mehr Gewalt, und als Kirche bevorzugen wir den Dialog, der nicht bedeutet, mit Terroristen zu verhandeln, sondern Leben zu retten, und zwar auf beiden Seiten.

Bischof Antonio Crameri vermittelt zwischen Konfliktparteien
Bischof Antonio Crameri vermittelt zwischen Konfliktparteien

Aus den Städten Quito, Esmeraldas, Guayaquil und Cuenca wurden die meisten kriminellen Attacken gemeldet, darunter Schiessereien und das Anbringen von Sprengstoff. Im Cotopaxi-Gefängnis wurden insgesamt 49 Gefängnisbeamte entführt, und aus dem Chimborazo-Gefängnis entkamen 39 Häftlinge. Auch in Esmeraldas kam es zur Flucht. Dreizehn Personen wurden als Geiseln genommen, von denen zwei gestern dank der Vermittlung der örtlichen Kirche freigelassen wurden.

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Wie sieht die Situation im Nordwesten und insbesondere in Esmeraldas konkret aus?

Crameri: In Esmeraldas gab es bereits im Dezember Terrorakte als Folge der Ermordung von sieben Bandenchefs. Es gab Tote, die am nächsten Tag mit weiteren Vandalenakten gerächt wurden: Brände an Tankstellen, Anschlagsversuche mit selbstgebauten Bomben in der zentralen Polizeistation und mehrere Autos gingen in Flammen auf. Dazu kamen Plünderungen und verschiedene Zerstörungen. Bis vor zwei Tagen waren auch Schiessereien an der Tagesordnung. In Guayaquil gab es Überfälle von Gangstern auf drei Krankenhäuser und auf den nationalen Fernsehsender TC. Viele Bandenmitglieder sind Teenager, junge Leute ohne Erfahrung oder Ausbildung. Sie sind wie Kanonenfutter, das an die Front geschickt wird, um getötet zu werden. Leider sind diejenigen, die sterben, die «kleinen Fische»; die wirklichen Bosse kommen ungeschoren davon.

Kapelle im Amazonasgebiet von Ecuador
Kapelle im Amazonasgebiet von Ecuador

Kennen Sie Menschen, die von der aktuellen Bedrohungs- und Kriminalitätslage direkt betroffen sind? Wie gehen diese mit der Situation um?

Crameri: Mir liegen Informationen aus dem Bildungsbereich vor: In vielen Einrichtungen, die mit dem Apostolischen Vikariat Esmeraldas verbunden sind, haben zahlreiche Familien ihre Kinder aus den Schulen genommen. In einer Schule haben sich sogar mehr als 160 Kinder abgemeldet, weil die Familien bedroht wurden. Ganz zu schweigen von der Erpressung von Lehrpersonen. Allein in Nuevo Ecuador haben wir innerhalb eines Monats dreimal den Rektor gewechselt. Und die Liste ist lang. Es vergeht keine Woche, in der ich nicht Hilferufe erhalte, um ganze Familien, die bedroht werden, in andere Städte zu bringen. Als Kirche haben wir das so genannte «Ghost Protocol» (Menschen, deren Leben in Gefahr ist, werden an einen sicheren Ort gebracht, A.d.R.), das es uns ermöglicht, die Opfer zu unterstützen. Dies wird auch von internationalen Organisationen unterstützt.

Gebet
Gebet

Wie verhalten Sie sich als Bischof in dieser Situation? Haben Sie konkrete Pläne, um zu intervenieren?

Crameri: Gerade in diesen Momenten wird die Gegenwart Gottes spürbar. Zunächst einmal, indem man ruhig und friedlich bleiben kann. Dann, indem man im gegenwärtigen Moment Seelsorger ist: Man tut wenig oder gar nichts, aber die blosse Anwesenheit des Bischofs mit einem Anruf, einem Besuch, einer Umarmung, die Präsenz und die Möglichkeit geben, Dampf abzulassen, hilft und lässt die Hoffnung wieder aufleben. All das ist das Werk Gottes, der sich armer Werkzeuge wie des Bischofs bedient, um inmitten dieser Dunkelheit das Licht der Hoffnung zu entzünden.

«Die Dinge, die hier funktionieren, liegen in den Händen der Kirche liegen.»

Über das «Ghost-Protokoll» hinaus haben wir vor einigen Monaten das in die Wege geleitet, was Papst Franziskus der gesamten Kirche vorgeschlagen hat: das «Hospital de Campaña», das Feldlazarett. Ein Ort, der nicht nur medizinische Versorgung bietet, sondern auch ein Symbol des Willkommens, der Pflege, der Solidarität, des Mitgefühls und der Heilung ist. Dies entspricht dem Bedürfnis in unseren Städten und Provinzen nach der Nähe und der stärkenden Zärtlichkeit einer Kirche, die sich als Mittlerin der Zärtlichkeit Christi versteht, die sich über die Opfer beugt und die Kultur der Begegnung sucht, um die Hoffnung wiederherzustellen. Als Kirche versuchen wir, Druck auf die Regierung auszuüben in der Hoffnung, gehört zu werden. Es genügt, zu sagen, dass die Dinge, die hier funktionieren, in den Händen der Kirche liegen: Bildung, Gesundheit und das Altersheim.

Spital-Nachttisch mit Christus-Ikone
Spital-Nachttisch mit Christus-Ikone

Wie können wir Ihnen von der Schweiz aus helfen? Brauchen Sie in dieser Situation materielle Unterstützung?

Crameri: Die Kinderkrippe «Esposo Bishara», die einzige in der Provinz, muss renoviert werden, und wir brauchen auch Unterstützung für das Spital in Atacames, das wir besitzen. Am dringendsten ist jedoch das Projekt «Hospital de Campaña», das Feldlazarett.

*Antonio Crameri (54) ist Bischof des Apostolischen Vikariats von Esmeraldas in Ecuador. Er ist in Locarno geboren und in Poschiavo GR aufgewachsen. Seit 22 Jahren lebt er in Ecuador. Dieses Interview ist zuerst bei Missio Schweiz erschienen.


Bischof Antonio Crameri | © Jacqueline Straub
28. Januar 2024 | 09:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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