Bischof Antonio Crameri
Schweiz

Bischof Antonio Crameri: «Das Collarhemd hat mir das Leben gerettet»

Bischof Antonio Crameri kommt aus Graubünden und lebt seit 22 Jahren in Ecuador. Gewalt und Korruption sind dort Alltag. Kriminelle wollen ihre Waffen segnen lassen und tragen Rosenkränze, um sich vor Schüssen zu schützen. Das hält Bischof Crameri nicht davon ab, den Kriminellen die Leviten zu lesen.

Jacqueline Straub

Vergangene Woche wurde die erste Pilotstudie zu sexuellem Missbrauch in der Schweiz veröffentlicht. Haben Sie das mitbekommen?

Bischof Antonio Crameri*: Nur am Rande. Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen und die Wahrheit aufgedeckt werden.

«In Ecuador herrscht grosse Kriminalität.»

Wie wird das Thema Missbrauch in Ecuador behandelt?

Crameri: Es gibt bislang noch keine Studien – nur Präventionskonzepte. Aber das ist eine Frage der Zeit, bis es auch hier eine unabhängige Studie gibt.

Drogen
Drogen

Wie ist die Lage der katholischen Kirche in Ecuador?

Crameri: In Ecuador herrschen grosse Kriminalität und massive Drogenprobleme. Zu mir kam einmal ein junger Mann und wollte seine Waffe segnen lassen – damit er auch trifft, wenn er jemanden umbringen will.

Haben Sie die Waffe gesegnet?

Crameri: Auf keinen Fall. Ich habe ihn weggeschickt.

«Ich muss euch segnen – aber ich kann euch auch verfluchen.»

Kriminalität, Gewalt und Korruption sind Alltag in Ecuador.

Crameri: Das ist so. Als ich noch Pfarrer war, haben zwei junge Männer die Fenster im Pfarrhaus zerschlagen. Ich ertappte sie auf frischer Tat und wollte sie schlagen. Ich habe das nicht gemacht, denn es hätte einen Skandal verursacht. Also habe ich ihnen gesagt: Ich muss euch segnen – aber ich kann euch auch verfluchen.

Was ist dann geschehen?

Crameri: Am nächsten Tag kamen die Eltern der Jugendlichen und baten mich, den Fluch von ihnen zu nehmen. Ich hatte sie natürlich nicht verflucht. Aber Sie sehen, der Aberglaube ist dort sehr gross.

Gebet
Gebet

Woran macht sich dieser noch bemerkbar?

Crameri: Es kamen immer wieder junge Menschen zu mir und wollten einen Rosenkranz. Ich freute mich darüber. Eine Frau sagte mir dann, dass das alles Gauner sind und diese den Rosenkranz tragen, weil sie dann glauben, dass sie geschützt sind.

Leben Priester und Ordensleute in Gefahr?

Crameri: Wenn sie durch Kleidung erkennbar sind, weniger. Ich möchte ein Beispiel nennen.

«In den ganz gefährlichen Vierteln tragen die Priester eine weisse Soutane.»

Sehr gerne.

Crameri: In eine Pfarrei kam ein junger Aushilfspriester. Er wollte sich im Viertel vorstellen und zog ohne Collarhemd los. Eine Jugendbande im Quartier dachte, er sei ein Spion und verprügelt ihn. Eine ältere Frau wusste, dass er Priester ist und stellte die Männer zur Rede. Der Chef der Bande rief daraufhin den Ortspfarrer an und sagte: Wenn deine Priester nicht als Priester erkennbar sind, können wir nicht für ihre Sicherheit garantieren. In den ganz gefährlichen Vierteln tragen die Priester sogar eine weisse Soutane – damit sie auch von hinten als Priester erkennbar sind und nicht erschossen werden.

«Der Respekt vor Priestern und Ordensleuten ist noch immer sehr gross.»

Kamen Sie auch schon einmal in eine brenzlige Lage?

Crameri: In Ecuador ist es so: Wer einen Mord sieht, wird auch beseitigt. Als ich von einer Messe heimgefahren bin, wurde ich Zeuge eines Mordes.

Ein Wunder, dass Sie noch leben?

Crameri: Der Mörder kam mit einer Pistole in der Hand aus einer Seitengasse. Er blicke mir direkt in die Augen, als ich langsam vorbeigefahren bin. Diese Sekunden kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Ich glaube, ich habe nur überlebt, weil ich ein Collarhemd getragen habe. Ja, das Collarhemd hat mir das Leben gerettet. Denn der Respekt vor Priestern und Ordensleuten ist noch immer sehr gross.

Bischof Antonio Crameri
Bischof Antonio Crameri

Haben Sie Angst um Ihr Leben?

Crameri: Die Angst ist vorhanden. Aber ich habe auch die Gewissheit, dass ich nicht alleine bin.

Predigen Sie im Gottesdienst, dass Töten eine Sünde ist oder unterlassen Sie das aus Angst, dann getötet zu werden?

Crameri: Die Kirche muss das Unheil benennen. Das ist ihr Job. Wir dürfen hier nicht schweigen.

«Der Staat kümmert sich oft nicht gut genug um vulnerable Gruppen.»

Welche Rolle spielt die Kirche in Ecuador?

Crameri: Eine sehr wichtige, weil sie staatliche Aufgaben übernimmt. Etwa gibt es in meiner Diözese nur zwei Krankenhäuser – beide werden von der katholischen Kirche betrieben. Die Kirche hat auch etliche Schulen. Dennoch muss ich als Bischof immer mit der staatlichen Ebene kämpfen. Denn der Staat kümmert sich oft nicht gut genug um vulnerable Gruppen. Im Juni gab es in Esmeraldas eine schlimme Überschwemmung. Menschen haben alles verloren. Die ersten drei Tage, als die Medien darüber berichtet haben, hat der Staat Hilfe angeboten, danach war Schluss. Wer von Anfang an geholfen hat und noch immer hilft, ist die Kirche.

«Ein grosser Teil der Katechisten sind Frauen.»

Was ist der grösste Unterschied zwischen der katholischen Kirche in der Schweiz und in Ecuador?

Crameri: In Ecuador nehmen noch mehr Menschen am Kirchenleben teil. Zudem sind die Gottesdienste viel lebendiger. In meinem Gebiet gibt eine grosse afro-ecuadorianische Minderheit, da kommt die Lebendigkeit durch deren Traditionen besonders zum Ausdruck.

Was kann die Schweizer Kirche von jener in Ecuador lernen?

Crameri: Die Präsenz der Frauen in der Kirche. Ein grosser Teil der Katechisten sind Frauen. In den verschiedenen Bewegungen, sind vor allem die Frauen aktiv und halten die Kirche am Leben.

Liturgischer Tanz afroecuadorianischer Frauen
Liturgischer Tanz afroecuadorianischer Frauen

Was erhoffen Sie sich vom synodalen Prozess?

Crameri: Dass der Klerikalismus aufgebrochen wird. Alles dreht sich um den Priester. Ich hoffe, dass dadurch die pastorale Präsenz – so nennt man das bei uns – verstärkt wird.

Bei der Amazonassynode wurde gefordert, dass verheiratete Männer zu Priestern geweiht werden sollen – und auch Frauen zu Diakoninnen. Ist das auch ein Thema in Ecuador?

Crameri: In meinem Vikariat ist das weniger ein Thema. In manchen Gegenden feiern Priester vier oder fünf Messen am Sonntag, damit möglichst viele Gemeinden die Eucharistie erhalten. Dort, wo ein Priester nur einmal im Monat oder einmal im Jahr hinkommt, finden Wortgottesdienste statt – meist von Frauen geleitet.

Kapelle im Amazonasgebiet von Ecuador
Kapelle im Amazonasgebiet von Ecuador

Auch bei der kommenden Synode ist das wieder ein Thema. Wie sehen Sie das?

Crameri: Natürlich brauchen wir mehr Priester. Aber das löst das Problem des Klerikalismus nicht. Denn bislang funktioniert es mit den Katechisten sehr gut – sie bereiten die Gemeindemitglieder auf die Sakramente vor. Wenn dann einer Priester wird, gibt es wieder eine unliebsame Unterscheidung zwischen Priestern und Laien.

Was könnte Klerikalismus verhindern oder abbauen?

Crameri: Vermutlich viele Geweihte in den Gemeinden, etwa ein geweihtes Priester-Team aus dem Kreis der Katechisten. Denn Einzelpersonen sind immer anfällig für Klerikalismus.

*Antonio Crameri (54) ist Bischof des Apostolischen Vikariats von Esmeraldas in Ecuador. Er ist in Locarno geboren und in Poschiavo GR aufgewachsen. Seit 22 Jahren lebt er in Ecuador. Im Rahmen des Monats der Weltmission folgte er einer Einladung von Missio Schweiz (Päpstliche Missionswerke in der Schweiz). Er besuchte dabei verschiedene Orte in der Schweiz und erzählte von seinen Erfahrungen mit den kirchlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen und seinem Wirken in Ecuador.


Bischof Antonio Crameri | © Jacqueline Straub
27. September 2023 | 14:00
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