Lokita (Joely Mbundu, li.) und ihr «Wahlbruder» Tori (Pablo Schils) zusammen im Bus
Religion anders

Allein und verzweifelt in der Fremde

In «Tori et Lokita», dem neuesten Spielfilm der Gebrüder Dardenne, taucht das Publikum in die prekäre Lebensrealität von zwei unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden ein. Ihre Geschichte könnte sich so leider auch im wirklichen Leben – auch in der Schweiz – abspielen

Natalie Fritz

Lokita ist verzweifelt. Die Nahaufnahme fängt ihren unruhigen Blick ein, als die Fragen der Migrationsbeamtin wie eine Gewehrsalve auf die Jugendliche niederprasseln. Nervös verstrickt sich Lokita in Widersprüche. Die Situation erinnert eher an ein Verhör als an eine Befragung und Lokita wirkt wie eine Angeklagte, nicht wie eine Asylbewerberin.

Lokita (Joely Mbundu) bei der Anhörung.
Lokita (Joely Mbundu) bei der Anhörung.

Auch in der Schweiz immer mehr UMA

Die Eingangssequenz aus «Tori et Lokita» ist zwar fiktiv und in Belgien situiert, könnte sich so aber durchaus auch anderswo in Europa – auch in der Schweiz – abspielen. Auch die Schweizer Behörden müssen sich seit längerem mit einer steigenden Zahl von Unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden, kurz UMA genannt, beschäftigen.

Die Zahl von Kindern und Jugendlichen, die allein ein Asylgesuch in der Schweiz gestellt haben, lag laut dem Staatssekretariat für Migration (SEM) im Jahr 2021 bei 989. Diese Zahl ist mehr als doppelt so hoch wie 2019, wobei das Total an Asylgesuchen in beiden Jahren etwa gleich war. Auffällig ist dabei, dass es sich bei der grössten Gruppe von UMA um männliche Jugendliche aus Afghanistan handelt. Die Situation in ihrer Heimat spitzt sich laufend zu, die Gefahr, eingezogen zu werden, ist gross.

Kaum Bildungsmöglichkeiten für über 16-jährige Asylsuchende

Die Protagonisten aus «Tori et Lokita» sind zwei UMA aus dem westafrikanischen Benin. Lokita wird wohl etwa 18 Jahre alt sein, Tori ist elf. Tori darf in die Schule, Lokita hingegen scheint die obligatorische Schulpflicht altersmässig überschritten zu haben, weshalb sie gerne eine Anstellung hätte.

Der Koch (Alban Ukaj, li.) des italienischen Lokals verdingt Tori (Pablo Schils, Mitte) und Lokita (Joely Mbundu) als Dealer.
Der Koch (Alban Ukaj, li.) des italienischen Lokals verdingt Tori (Pablo Schils, Mitte) und Lokita (Joely Mbundu) als Dealer.

In Belgien gilt eine Schulpflicht von 6 bis 18 Jahren – auch für UMA. Die Schweiz ist diesbezüglich restriktiver, der Zugang zu Bildung für unbegleitete Jugendliche ab 16 Jahren ist nicht mehr zwingend gewährleistet und wird kantonal unterschiedlich gehandhabt. Dies, obwohl im Art. 11 der Bundesverfassung steht, dass Kinder und Jugendliche stets einen Anspruch auf Unversehrtheit und Förderung ihrer Entwicklung haben.

Gefangen im kapitalistischen Kreislauf

Lokita braucht für eine legale Anstellung Papiere. Und die bekommt sie nicht. Dabei müsste sie dringend Geld verdienen. Auf der Jugendlichen lastet nämlich ein enormer Druck: sie schuldet nicht nur den Schleppern Geld für die Überfahrt, sondern sollte auch ihre Mutter in Benin finanziell unterstützen.

Ohne Aufenthaltsbewilligung kann Lokita nur mit Schwarzarbeit etwas verdienen. Für den undurchsichtigen Koch eines italienischen Restaurants liefert sie nicht Pasta und Pizza frei Haus, sondern allerlei Drogen. Vom Erlös bekommt sie nur einen kleinen Anteil – ausser, sie ist dem Koch zu Willen…

Lokita (Joely Mbundu) und Tori (Pablo Schils) beim nächtlichen Dealen.
Lokita (Joely Mbundu) und Tori (Pablo Schils) beim nächtlichen Dealen.

Mit den Dardennes eintauchen in «fremde Lebenswelten»

Die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne richten in ihrem neuesten Spielfilm «Tori et Lokita» die Kamera wiederum auf Menschen am Rande der Gesellschaft. Auch die bisherigen Werke der belgischen Filmemacher fokussierten meist auf die «unbekannte Lebenswelten» von Migranten, Alkoholikerinnen oder Kleinkriminelle, deren prekäre Lebensumstände sie ungeschönt zeigen.

Tori (Pablo Schils, li.) singt zusammen mit Lokita (Joely Mbundu) in einem italienischen Lokal.
Tori (Pablo Schils, li.) singt zusammen mit Lokita (Joely Mbundu) in einem italienischen Lokal.

Dabei behalten die Protagonisten jedoch stets ihre Würde. Das System und diejenigen, die davon profitieren, werden als unmenschlich entlarvt. Dabei steht stets die Frage im Raum, was es braucht, damit ein Leben lebenswert ist.

Nähe und Vertrauen auch für Asylsuchende

In «Tori et Lokita» werden uns die Mängel des Asylwesens und die Gefahren, die im Ankunftsland – insbesondere auf minderjährige Migrantinnen und Migranten – lauern können, schonungslos vor Augen geführt. Lokitas missliche Lage wird nach Strich und Faden ausgenutzt – beschweren, so viel ist sicher, wird sie sich nicht; bei wem auch?

Tori (Pablo Schils) sucht verzweifelt nach Lokita (Joely Mbundu).
Tori (Pablo Schils) sucht verzweifelt nach Lokita (Joely Mbundu).

Nur Tori steht loyal zu ihr, begleitet und tröstet sie. Er wurde in seiner Heimat als Hexenkind verfolgt. Auf seiner Flucht nach Europa hat er Lokita kennengelernt. Zusammen haben sie die gefährliche Reise überstanden und sind zu Wahlgeschwistern zusammengewachsen. Berührend zeigt sich diese Nähe als sich Tori im Bett an Lokita kuschelt und sie ihn in den Schlaf singt. Hier zeigt sich die Verletzlichkeit dieser Kinder, die traumatisiert durch Flucht und ihre unsichere Situation im Ankunftsland, vor allem Zuneigung und Aufmerksamkeit bräuchten.

Illegalität als Ausweg?

Lokita lügt in diesem Sinne nicht, als sie sich als Toris grosse Schwester ausgibt, um ebenfalls eine Aufenthaltsbewilligung zu bekommen. Sie sind Geschwister, Verbündete in der Fremde, verlässliche Gefährten.

Der Koch (Alban Ukaj) fotografiert Lokita (Joely Mbundu) für einen falschen Pass.
Der Koch (Alban Ukaj) fotografiert Lokita (Joely Mbundu) für einen falschen Pass.

Doch weil ihre Geschichte nicht überzeugt, ordnet die Migrationsbeamtin einen DNA-Test an. Die Folgen dieser Massnahme sind absehbar und so bleibt Lokita nichts anderes übrig, als noch weiter in den Sumpf der Illegalität abzutauchen. Ihr Ziel: einen falschen Pass zu erwerben und dann gemeinsam mit Tori ein legales Leben in Belgien aufzubauen.

Schutzbedürftige Kinder und Jugendliche verschwinden

«Tori et Lokita» zwingt das Publikum, genau hinzusehen und nicht gleichgültig zu sein. Die Dardennes fangen mit der Kamera ein, was wir gerne vergessen würden. Denn ähnliche Geschichten spielen sich tagtäglich überall in Europa ab. Europol veröffentlichte bereits im Januar 2016 einen Bericht, in dem von mindestens 10’000 vermissten UMA innerhalb von 18 bis 24 Monaten die Rede war.

Human Rights zählte zwischen 2012 und 2016 insgesamt 240 verschwundene UMA in der Schweiz. Im Jahr 2015 seien 76 Kinder aus Schweizer Asylheimen verschwunden. Was mit ihnen passiert? Europol warnt vor kriminellen Banden, die Flüchtlinge – auch UMA – profitbringend einsetzen würden, etwa als Arbeitssklaven oder im Sex-Gewerbe.

Auch hierzulande mehrten sich in den letzten Monaten die Berichterstattungen über mangelhafte Betreuung und Unterbringung von schutzbedürftigen UMA.

Martin Kopp mit Jugendlichen und einer Sozialarbeiterin.
Martin Kopp mit Jugendlichen und einer Sozialarbeiterin.

Hinblicken, aufrütteln, handeln!

Umso wichtiger sind die freiwilligen Engagements von Einzelnen oder sozialen Institutionen. Auch die Landeskirchen und einzelne ihrer Vertreter*innen haben sich in den letzten Jahren mit unterschiedlichen Projekten – auch für UMA – aktiv in der Flüchtlingshilfe eingesetzt. So hat Martin Kopp das «Clubhüüs» in Erstfeld aufgebaut, eine WG für junge Menschen, die ein Zuhause und eine Struktur brauchen. Der Tessiner Don Gianfranco Feliciani und sein italienischer Kollege aus Como, Don Giusto, haben ihre Kirchen für gestrandete Flüchtlinge geöffnet, bieten Essen, Unterkunft und ein offenes Ohr.

Es scheint, als würde sich die Geschichte wiederholen, wenn etwa Kirchenvertreter und Privatpersonen dort übernehmen, wo der Staat keine Kapazitäten hat. Es wäre zu hoffen, dass der neue Dardenne-Film etwas bewegt – und zwar nicht «nur» die Kinozuschauerinnen und -zuschauer.

Zum Filmtipp

«Tori et Lokita» läuft seit dem 9. Februar in den Kinos.

Lokita (Joely Mbundu, li.) und ihr «Wahlbruder» Tori (Pablo Schils) zusammen im Bus | © 2023 Xenix Filmdistribution GmbH
11. Februar 2023 | 05:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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