Der Anfang eines neuen Kapitels der Orgelmusik

Der Organist als Klangmaler mit der flexiblen Orgel

Seit Jahrhunderten scheint sich im Orgelbau nichts Wesentliches verändert zu haben ? Tasten, Pfeifen und der Winddruck lassen die Kirchenmauern erzittern und die Hörerherzen beben. Jetzt bläst eine schweizerisch-deutsche Entwicklung frischen Wind in die Orgelbautechnik.

Mit dieser Orgel stimmt etwas nicht. Zwar sieht sie ähnlich aus wie die meisten Pfeifenorgeln: oben die metallenen Pfeifen, in der Mitte der Spieltisch mit den Tasten, daneben die Registerzüge, unten das Pedal für das Spiel mit den Füssen. Im Innern des Instruments befinden sich ein Windmotor, Luftbälge und Drähte (Abstrakten), welche Tasten und Pfeifen miteinander verbinden. Ein Tastendruck lässt Luft in die Pfeifen strömen und diese erklingen.

Von Sigfried Schibli

Aber wenn die Orgel ertönt, staunt der Laie und wundert sich selbst der Orgelfachmann. Die Töne sind nicht herb und direkt, sondern weich und schwebend. Das Choralvorspiel von Brahms, das der Organist uns vorspielt, klingt wie von schöner Schwindsucht ergriffen, das Bach-Duett so weich gefedert, als wäre es auf Daunen gebettet. Später wird der Organist mit der Handfläche die Tasten berühren, und mit zunehmendem Druck wird der Klang lauter und höher. Irgendwie irre, diese Orgel.
Wie viele technische Innovationen reizt diese neuartige Orgel zuerst zum Lächeln. Aber ihre Erfinder glauben, den «Quantensprung im Orgelbau» geschafft zu haben. In der Tat: Bei bisherigen Orgeln ist der Winddruck konstant, die Töne innerhalb eines Registers (Pfeifenreihe) klingen gleich laut. Das hat der Orgel den Ruch des Starren und Veralteten eingetragen ? ist doch die Musik seit dem Barockzeitalter auf dynamische Nuancen ausgerichtet, wie Klaviere sie mühelos hervorbringen. Diesen Mangel hat das «Innov-Organum» genannte Instrument nicht. Es ermöglicht flexible Klangmodellierung, wie man sie bisher vom Klavier und vom leisen Clavichord her kennt.

Vierfache Vaterschaft

Natürlich ist auch diese Erfindung nicht vom Himmel gefallen. Sie gärte lange in den Köpfen der Organisten und Orgelbauer, und bis ein spielbarer Prototyp mit der neuen Technik dastand, dauerte es einige Jahre. Gleich vier Männer können die Vaterschaft für sich beanspruchen: der Bieler Organist und Komponist Daniel Glaus, der Steuerungselektroniker Daniel Debrunner, der Orgelbaumeister Peter Kraul aus dem süddeutschen Herwangen und der Neuenburger Orgelbauer Johannes Röhrig. Sie dürfen nach mehrjährigem Tüfteln in Anspruch nehmen, einen der spektakulärsten Fortschritte im Orgelbau der letzten hundert Jahre erzielt zu haben. «Inzwischen sind wir Freunde», sagt Glaus im Wissen, dass gemeinsame Projekte Menschen auch entzweien können.
Ein elektronisches Monster, wie man vermuten könnte, ist das Instrument mit dem sperrigen Namen nicht. Es steckt darin nicht mehr Elektrotechnik als in jeder Kirchenorgel, und mit einem Computer hat das kostbare Ding schon gar nichts zu tun. Die Traktur ? die Verbindung von der Taste zum Pfeifenventil ? ist rein mechanisch, genau wie in einer Orgel des Barockzeitalters. Und der Ton wird ohne jede elektronische Zutat von den Pfeifen erzeugt. Neu ist nur, dass durch Fusshebel der Winddruck individuell verändert werden kann ? auch dies rein mechanisch.

Ein Vorzeigeprojekt

Ein Projekt von dieser Grössenordnung kann nicht durch blosse Leidenschaft entstehen. Es braucht dazu eine technische Infrastruktur und finanzielle Mittel, die vom Schweizerischen Nationalfonds flossen. Dass das neue Werk ? genauer Prototyp III ? gestern in der Aula der Hochschule der Künste in Bern vorgestellt wurde, ist kein Zufall, handelt es sich doch um einen Auftrag dieser Hochschule. Deren Musikabteilung kommt damit auf höchst eindrückliche Weise ihrer Verpflichtung nach, neben dem Unterricht auch «Forschung und Entwicklung» auf professionellem Niveau zu betreiben.
Ob die Glaus-Debrunner-Kraul-Röhrig-Orgel jemals zum Gebrauchsinstrument wird, steht noch in den Sternen. Der Bieler Stadtkirchenorganist Glaus wünscht sich für seine Kirche, die ohnehin eine neue Orgel braucht, ein Instrument, welches die flexible Dynamik mit traditionellen Bauweisen kombiniert; doch ist dies erst ein Wunschgedanke. Das traditionelle Orgelrepertoire zwischen Renaissance und Spätromantik braucht diese Orgel-Neuerung im Grunde nicht. Denkbar aber ist, dass sich zeitgenössische Tonkünstler zum Schaffen neuer Werke in einer Ästhetik anregen lassen, wie sie der Komponist György Ligeti schon in den sechziger Jahren visionär skizziert hat.

Basler Zeitung
27. Februar 2004 | 00:00