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Schweiz

Gott ist kein klebriger Sirup: Andrea Meier predigt zum Flüchtlingssonntag

«Ein zu süsser und kindlicher Glaube an einen Gott, bei dem alles gut wird und der sich um alles kümmert, ist wie klebriger Sirup über das Elend der Welt», sagt Radiopredigerin Andrea Meier.

Andrea Meier*

Jetzt ist wieder die Zeit vom Sirup. Jedes Jahr in diesen Tagen nehme ich irgendwann auf dem Heimweg eine Tüte voller Blüten mit. Vom Strassenrand, aus dem Wald, aus einem Garten. Fülle Wasser in grosse Schüsseln und lasse die duftenden kleinen Blümchen ins Wasser gleiten.

Und jedes Jahr komme ich am nächsten Abend heim, bringe die Kinder ins Bett und plötzlich fällt mein Blick auf diese Schüsseln. Ich bin eigentlich zu müde und es sind ja nur ein paar Blüten, gratis abgepflückt an irgendeiner Ecke und ein bisschen Wasser. Und trotzdem: Sie warten auf mich und lassen mich nicht ins Bett.

Holunder und Zitronensäure

Jedes Jahr um diese Zeit stehe ich nachts am Herd verbrenne mir ein bisschen die Finger, atme den süssen Duft von Holunder, decke die Flaschen zu mit der gleichen blauen Decke und bin am Ende ziemlich erschöpft und ein kleines bisschen stolz.

Wo es wohl überall Holunder gibt? So auf der Welt meine ich. Wie hoch oben im Norden noch? Wie weit im Süden? Gibt es Holunder in Asien? Und könnte man Zitronensäure kaufen in Polen, Japan oder Neuseeland? Wäre sie auch in der Apotheke zu haben? Wie würde ich einer unwissenden Verkäuferin in einer fremden Sprache erklären, dass ich dieses feine Wunderpulver meine, das einen Schaum erzeugt und mir jedes Jahr das kindliche Gefühl gibt, ein bisschen zu zaubern, wenn der Sirup dann plötzlich aufklart?

Heimweh

Aber vielleicht wäre Sirup dann auch gar nicht mein Problem. Dann wenn eine Not so gross geworden wäre, dass sie mich herausgespült hätte aus diesem Leben, in dem ich zuhause bin. Wenn ich mit meiner Familie an einem fremden Ort unter fremden Menschen das zusammensuchen würde, was mein Leben ist und sein wird – wäre dann Sirup wichtig? Würde mich der Duft nach Holunder für immer krank vor Heimweh werden lassen? Oder könnte ich mit den weissen kleinen Blümchen eine Brücke bauen in mein altes Leben? Hätte ich vielleicht sogar die blaue Decke dabei?

Andrea Meier, römisch-katholische Theologin
Andrea Meier, römisch-katholische Theologin

Fehlende Brücken

Es ist so verschieden bei den Menschen, die geflohen sind: Jede und jeder erzählt in anderen Worten vom Heimweh, von der Reise, vom Versuch anzukommen. Wie ein feiner Faden zieht jedoch das durch alle Geschichten, was der Bündner Bildhauer Peter Leisinger in den zwei Worten «entwurzelt und ausgeliefert» fasst.

Wie abgeschnittene Blumen, abgerissene Blüten, vom Sturm gefällte Bäume – abgeschnitten und darauf angewiesen, in gute Hände zu gelangen: So kommen diese Menschen bei uns an. Oft, zu oft werden sie achtlos liegen und im Stich gelassen. Keine Brücke nirgendwo: weder eine ins alte noch eine in ein neues Leben.

Ein Bogen, der verbindet

Eine Brücke, die verbindet, zusammenbringt. Eine Brücke, die sich kühn über Abgründe spannt und scheinbar unüberwindbare Hindernisse überwindet. Eine himmelblaue Brücke in der Frühlingsluft – ein runder Bogen, der Platz und Kirche verbindet. Eine solche Brücke steht gerade in Bern. Im Zusammenhang mit der Aktion «Beim Namen nennen» haben Kirchenmenschen zusammen mit Aktivist*innen die Brücke gebaut, um auf die unhaltbaren Zustände an Europas Aussengrenzen hinzuweisen.

Beim Namen nennen

Im Rahmen der Aktion werden in verschiedenen Städten in Deutschland und der Schweiz die Namen aller Opfer der Festung Europa gelesen, geschrieben und öffentlich sichtbar gemacht. So entstehen an Kirchen und anderen Orten kollektive Mahnmale. Menschen gedenken und protestieren, indem sie den oft namenlosen Toten ihren Namen, einen Moment des Gedenkens, eine Geschichte zurückgeben.

Jahr für Jahr bin ich erschüttert nach diesen Tagen, an denen die «List of deaths» des internationalen Netzwerks UNITED gelesen und geschrieben wird bei uns in der Kirche. 24 Stunden wird ohne Unterbruch gelesen – jedes Jahr mehr Namen.

Aktion "Beim Namen nennen" zum Flüchtlingstag 2020.
Aktion "Beim Namen nennen" zum Flüchtlingstag 2020.

Hinter jedem Namen eine Lebensgeschichte

23. Oktober 2019: Der 15-jährige Junge Dinh Dinh Binh aus Vietnam wird tot in einem tiefgekühlten Lastwagenanhänger in Purfleet, England, gefunden. Er kam aus Belgien.

Was war dein Lieblingsessen, Dinh Dinh? Warst du alleine unterwegs und welchen Beruf wolltest du lernen? Hast du ein Instrument gespielt oder lieber Videogames?

16. März 2020: Ein namenloses 6-jähriges Mädchen stirbt in einem Container, in dem Feuer ausgebrochen ist, im überfüllten Lager Moria auf Lesbos, Griechenland.

Nina? Amleset? Esma? Wie war dein Name, Mädchen? Welches deine Lieblingsfarbe? Konntest du dich noch erinnern an den Geruch der Bettwäsche zuhause? An das zarte Rosa der Wände in einem Kinderzimmer? Hast du eine allerbeste Freundin gefunden zwischen den miserablen Hütten? Und wie heisst sie?

6. Juni 2020: 61 Menschen aus Sub-Sahara, Afrika, darunter sechs Kinder, 29 Frauen, eine davon schwanger, ertrinken in einem Boot, das Schiffbruch erlitt vor der Insel Kekennah, Tunesien, auf dem Weg nach Italien.

Wart ihr lange gemeinsam unterwegs? Habt ihr geredet auf dem Boot? Waren Kühne dabei, die Scherze machten gegen die Angst? Habt ihr einander die Hände gehalten? Und hat vielleicht jemand ein Lied gesungen für die Kinder, eine Geschichte erzählt in der dunkelsten Nacht voller Sterne? Eine Brücke zu euch. Ein Bogen an den Rand. Eine ausgestreckte Hand hinein in den Abgrund.

Brücke
Brücke

Gott kommt mit

Ich fahre durch die Nacht, trete in die Pedale und dann in die Wohnung, im Zimmer brennt noch Licht, mein Mann ist da. Leise öffne ich leicht die Tür zum Kinderzimmer, höre das Atmen der Kinder. Auf dem Tisch steht eine Flasche Sirup. Ich fülle ein Glas, trinke in grossen Schlucken. Süsses Leben. Übergrosses Glück.

Meine Kehle bleibt dennoch trocken. Wenn ich am Bett sitze, abends, singen wir manchmal ein Kinderlied von Andrew Bond: «Uf allne dine Wäge, öb Sunne oder Räge, ob liecht ob schwär, ob Dunkel oder hell. Muesch du nid alles träge, will Gott chunnt mit sim Säge, will Gott chunnt mit, Immanuel.»

Ein kräftiger, kräftigender Trost

Ich finde es gut, das Leben meiner Kinder auf diesen Boden zu stellen. Auf den Glauben an einen Gott, der ein Gott mit uns ist. Ein Gott, der mitlebt, mitgeht, mitträgt. Es ist Geist: Johannes nennt ihn Parakletos, Jesaja Immanuel: Der Gott mit uns. Parakletos übersetzt Luther mit «Tröster». Für mich klang das immer ein bisschen zu sehr nach Sirup. Ein zu süsser und kindlicher Glaube an einen Gott, bei dem alles gut wird und der sich um alles kümmert. Klebriger Sirup über das Elend der Welt.

Über die Jahre habe ich einen anderen Parakletos kennen gelernt. Der Geist, von dem Johannes spricht, ist ja derselbe, der zu Pfingsten die Menschen erfasst hat wie ein Feuersturm. Kein falscher Trost ist hier gemeint, sondern ein kräftiger und kräftigender Trost. Ein Gott der aufrichtet und mitträgt, da wo es uns zu viel wird. Auf den Glauben an einen solchen Gott kann ich auch mein Leben stellen.

Die Füsse auf sicherem Grund

Dieser Grund ist sicher genug, um in den Abgrund zu blicken. Und der weite Raum, auf den Gott meine Füsse so stellt, bietet Platz für das Fundament einer kühnen Brücke. Einer Brücke, die leuchtet in der Farbe des Himmels und eine Verbindung schafft zwischen dem satten süssen Leben hier und dem bangenden Elend an den Grenzen Europas.

Eine schmale, zarte aber zähe Verbindung zwischen Menschen, die voneinander die Namen lernen, die Lieder hören und einander davon erzählen, wie die Frauen zuhause jedes Jahr im Frühling aus kleinen weissen Blumen süssen Sirup kochen.

 * Andrea Meier ist katholische Theologin und ist Leiterin der Fachstelle Kinder und Jugend katholische Kirche Region Bern sowie Geschäftsführerin der Offenen Kirche Bern.

Die SRF-Radiopredigten sind eine Koproduktion des Katholischen Medienzentrums, der Reformierten Medien und SRF2 Kultur.

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Namen lesen – Namen schreiben – Briefe schreiben | © zVg / Annelise Willen
19. Juni 2022 | 06:44
Lesezeit: ca. 5 Min.
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