Turiner Grabtuch
Religion anders

Windeln, Sandalen oder Schweisstuch Jesu: Reliquien sind noch immer im Trend

Der Blick auf Reliquien hat sich heutzutage «versachlicht», sagt Joachim Schleifring, der zusammen mit dem Ägyptologen Michael Habicht ein Buch dazu veröffentlicht hat. Das Leichentuch von Turin ist wohl die «ultimative Reliquie», so Habicht. Sollte sie echt sein, würde es die Auferstehung physisch greifbar bezeugen. Die beiden Autoren nehmen auch eine Schweizer Reliquie in den Blick.

Jacqueline Straub

Sie haben ein Buch über Reliquien geschrieben. Was hat Sie am meisten erstaunt?

Michael Habicht*: Die Aktualität von Reliquien, wie laufend neue körperlich intakt gebliebene Heilige neu entstehen und wie sehr Reliquien Anklang finden in verschiedenen Teilen der Welt.

Joachim Schleifring**: Die Vielzahl und Vielfalt von Heiligen und Reliquien. Die Anzahl letzterer ist kaum überschaubar.

«Der Höhepunkt der Reliquienverehrung liegt im Mittelalter.»

Michael Habicht
Michael Habicht
Wann und warum kam die Reliquienverehrung auf?

Habicht: Am Anfang stand die besondere Verehrung der Märtyrer. Bereits in der Bibel, in der Apostelgeschichte findet sich der erste Beleg, der die Reliquienverehrung beschreibt. Zudem ist der Reliquienkult im Christentum unveränderbar innewohnend in der Grundannahme, dass der Leib Christi unvergänglich sei. Dies übertrug sich auf die Märtyrer und frühen Kirchenleiter, deren Gräber gepflegt wurden und schliesslich über ihnen auch Kirchen errichtet wurden. Die Reliquienverehrung begann etwa im 2. Jahrhundert nachweislich und nahm in den folgenden Jahrhunderten stark zu. Der Höhepunkt der Reliquienverehrung liegt im Mittelalter. Grossen Aufschwung haben die Reliquien dann im Hochmittelalter erlebt. Zur Finanzierung der immer imposanteren Kirchenprojekte war es notwendig, grosse Pilgerströme anzulocken, und das ging am besten mit bedeutenden Reliquien. In dieser Zeit begann dann auch der Handel mit Reliquien und das Herstellen von Fälschungen.

«Damit wurden die Heiligen mit der irdischen Kirche gleichsam verbunden.»

Welche Bedeutung haben Reliquien heute noch in der katholischen Kirche?

Habicht: Bis heute sollte sich in jedem richtigen Altar eigentlich eine Körperreliquie eines Heiligen befinden. Diese Sitte kam im Laufe des Mittelalters auf – die Lateinische Kirche pflegte die Heiligen in einen Altar zu betten, die Orthodoxen in die Mauern der Kirche. Damit wurden die Heiligen mit der irdischen Kirche gleichsam verbunden. Damit sind Reliquien nach wie vor von grosser Bedeutung, wobei allerdings nicht mehr jede Reliquie als echt angesehen werden sollte.

Wie hat sich der Blick auf Reliquien verändert?

Schleifring: Er hat sich «versachlicht». Er hat sich dahingehend verändert, dass heute schon eher auf eine irgendwie beweisbare Echtheit als nur auf eine dem Glauben geschuldete Echtheit geachtet wird, sodass die Kirche – bei aller Zurückhaltung und Vorsicht – auch immer wieder wissenschaftliche Dokumentationen und Untersuchungen erlaubt. 

Joachim Schleifring
Joachim Schleifring

Wie kann die Echtheit einer Reliquie bestimmt werden?

Schleifring: Durch wissenschaftliche Erkenntnisse. Erkenntnisse durch archäologische und historische Forschung, durch Untersuchungsmethoden der Medizin, Pathologie, Anthropologie oder Bioarchäologie, durch chemisch-physikalische Datierungsmethoden und durch verschiedene Quellen wie Berichte, Zeugenaussagen, Dokumentation von Ereignissen mit dem und um den oder die entsprechende Heilige herum.

«Reliquien sind grundsätzlich nicht an eine einzige Religion oder Kultur gebunden.»

Wie wird eine Reliquie zur Reliquie?

Habicht: Gemäss Definition handelt es sich bei der Reliquie um ein «Überbleibsel» einer historischen Person. Reliquien sind grundsätzlich nicht an eine einzige Religion oder Kultur gebunden, kommen daher auf der ganzen Welt und zu allen Epochen vor.

Reliquienschrein in Lissabon
Reliquienschrein in Lissabon

Welche Reliquien gibt es von Jesus?

Habicht: Es wird zwischen drei Arten von Reliquien unterschieden: Die Körperreliquie (also der Leib des Heiligen), Objekte, welche er zu Lebzeiten benutzt oder getragen hat, oder auch sein Leichentuch. Reliquien der dritten Gattung sind meistens Heiligenbilder, welche für einen Moment mit den Reliquien der ersten oder zweiten Gattung in Berührung bekommen sind. Von Jesus kann es keine Körperreliquie geben, jedoch Reliquien der zweiten Ordnung. Das Leichentuch von Turin dürfte die ultimative Reliquie sein. Sofern sie echt sein sollte – was heftig umstritten ist – würde das Tuch die Auferstehung physisch greifbar bezeugen.

«Die fast schon inflationäre Anzahl seiner Kreuzessplitter oder zahlreiche Kreuzigungsnägel sind wenig glaubhaft zu machen.»

Schleifring: Aber auch der Heilige Rock zu Trier und die Windeln zu Aachen sind Anlass umfassender Wallfahrten. Nicht ganz so bekannt sind die Sandalen zu Prüm. Diese Gegenstände werden Jesus zugeschrieben, aber es gibt nur Indizien, keine zweifelsfreien Beweise, dass sie Jesus gehörten. Ganz anders steht es um seine Körperreliquien. Sie werden von der Kirche eher verschwiegen. Das Sanctum Praeputium (Jesu Beschneidung), seine Haare, seine Tränen passen nicht mehr in unsere aufgeklärte Zeit. Die fast schon inflationäre Anzahl seiner Kreuzessplitter oder zahlreichen Kreuzigungsnägel sind wenig glaubhaft zu machen.

Sie schreiben auch über eine Reliquie in der Schweiz. Welche nehmen Sie in den Blick?

Habicht: In der Lorettokapelle in Muri (AG) befinden sich die Herzen seiner Majestät Kaiser Karl I. von Österreich-Ungarn, der bereits seliggesprochen ist und seiner Frau, Kaiserin Zita, deren Seligsprechungsverfahren eröffnet wurde.

Der schwarze Marmorblock in der Loreto-Kapelle im Kloster Muri, wo die beiden Herzen des verstorbenen Kaiserehepaars beigesetzt sind.
Der schwarze Marmorblock in der Loreto-Kapelle im Kloster Muri, wo die beiden Herzen des verstorbenen Kaiserehepaars beigesetzt sind.

Was ist daran so besonders?

Habicht: Die Reliquie ist auf jeden Fall 100 Prozent echt und historisch interessant.

Gibt es viele Herz-Reliquien?

Habicht: Ja, einerseits beispielsweise bei vielen Monarchen, früher auch bei Päpsten. Dazu kommt das Heiligste Herz Jesu als Hochfest, das eine Art kultisches Gegenstück bildet. Die besondere Verehrung des Herzens als Sitz der Seele oder Persönlichkeit reicht aber bis ins Alte Ägypten zurück.

*Michael Habicht ist Schweizer Ägyptologe, der Dozent an der Flinders University in Adelaide (Australien) ist. Ebenso ist er wissenschaftlicher Experte am FAPAB Research Center in Avola (Italien).

** Joachim Schleifring ist Experte Anthropologie, Paläontologie und Vor- u. Frühgeschichte. Ihr gemeinsam publiziertes Buch heisst «Reliquien. Fachbuch und Reiseführer zu katholischen Reliquien weltweit.» Das Interview wurde schriftlich geführt.

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Turiner Grabtuch | © Jacqueline Straub
20. April 2024 | 06:03
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