Jana Fikart (96) überlebte die Shoah in Prag.
Konstruktiv

Wider das Vergessen: Der Nachlass der letzten Holocaust-Überlebenden

Jana Fikart (96) überlebte den Holocaust. Jetzt erzählt sie ihre Geschichte zwei Mitarbeiterinnen des Archivs für Zeitgeschichte. Das Archiv sammelt Geschichten und Nachlässe der letzten Überlebenden, um das Wissen für künftige Generationen zu sichern.

Annalena Müller

Jana Fikart empfängt in ihrer Wohnung am Zürichberg. Die 96-jährige hat Kaffee und Guetzli vorbereitet. Sie wird heute zwei Historikerinnen erzählen, wie sie als junges Mädchen die Schoah überlebte. Jana Fikart beteiligt sich mit ihrer Geschichte an einem Projekt des Archivs für Zeitgeschichte der ETH Zürich und dem Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen (VSJF).

Erinnern

«Man hat eigentlich über die Vergangenheit nicht gesprochen. Man lebte in der Gegenwart und der Zukunft.» Mit diesen Worten beginnt Jana Fikart ihren Bericht. Sie wird über zwei Stunden erzählen. Von der Kleinstadt Tábor, aus der sie stammt. Ihrer Jugend in Prag. Von ihrer jüdischen Mutter und dem nicht-jüdischen Vater, der das Leben seiner Frau rettete, indem er sich nicht scheiden liess. Über die Eltern, die interniert wurden – die Mutter in Theresienstadt und der Vater in Deutschland.

Den Stern musste Jana Fikarts Mutter tragen. Das Geld war die Währung in Theresienstadt.
Den Stern musste Jana Fikarts Mutter tragen. Das Geld war die Währung in Theresienstadt.

Jana Fikart berichtet von ihrem Schulausschluss 1942 und den Lehrerpersonen, die ihr heimlich Privatunterricht gaben: «Irgendwann wird der Krieg vorbei sein», hätten sie zu ihr gesagt. Und tatsächlich, irgendwann war er vorbei. Dem Vater gelang gegen Kriegsende die Flucht aus dem Lager. Er schlug sich in die Heimat durch und befreite seine Frau aus Theresienstadt.

Es sind solche Details, die noch viele Jahrzehnte später bewegen. Die alte Frau spricht klar und strukturiert. Ganz leicht hört man die böhmische Einfärbung, die auf ihre tschechische Herkunft verweist. Das Aufnahmegerät der Historikerinnen erfasst Jana Fikarts Erinnerung für die Nachwelt.

Bewahren

«Wir sammeln Nachlässe von Shoah-Überlebenden», erklärt Sabina Bossert (43), Leiterin der Dokumentationsstelle Jüdische Zeitgeschichte. Das Projekt sei auf zwei Jahre angelegt und vom Verband Schweizerischer Jüdischer Fürsorgen (VSJF) initiiert. «Wir wollen den Menschen, die der Verband in der Vergangenheit betreut hat und heute noch betreut, ein Gesicht geben.»

Vor der Deportation - Marianne Hilb informiert ihre Nichte in Zürich, dass sie deportiert wird. Es ist ihr letztes Lebenszeichen.
Vor der Deportation - Marianne Hilb informiert ihre Nichte in Zürich, dass sie deportiert wird. Es ist ihr letztes Lebenszeichen.

Interviews wie mit Jana Fikart führen die beiden Historikerinnen allerdings nur selten. Bettina Zangerl (37), die das Projekt leitet, sagt: «Wir sammeln vor allem Nachlässe, also Dokumente, aber auch Objekte wie «Juden-Sterne» und Reisepässe mit einem «J»-Stempel darin.»

Finden

Der Umfang der Nachlässe sei sehr unterschiedlich: «Manchmal sind es nur wenige Dokumente und ein paar Fotos, manchmal sind sie sehr umfangreich.» Letzte Woche sind die beiden Frauen nach Luzern gefahren, wo sie zwei Nachlässe entgegennehmen konnten. Zurück in Zürich werden die Nachlässe gesichtet, geordnet und archivarisch erfasst. Sie werden künftig Forschenden, aber auch Privatleuten zur Verfügung stehen, die zu dem Schicksal der Shoah-Überblenden arbeiten wollen, die in der Schweiz sesshaft wurden.

Gesichtet, geordnet und gesichert: Hier werden die Nachlässe für künftige Generationen aufbewahrt.
Gesichtet, geordnet und gesichert: Hier werden die Nachlässe für künftige Generationen aufbewahrt.

Das Archiv für Zeitgeschichte und der VSJF suchen die Öffentlichkeit. «Wir sind darauf angewiesen, dass sich Betroffene bei uns melden», sagt Bettina Zangerl. Das Projekt steht am Anfang und die beiden Historikerinnen hoffen auf viel Rücklauf. In der Schweiz leben nach Schätzungen noch wenige Hundert Holocaust-Überlebende. Mit einer Broschüre und mithilfe der Medien soll das Projekt bekannt gemacht werden.

Gott nach Auschwitz

Auch Jana Fikart ist durch die Broschüre auf das Projekt aufmerksam geworden. Ihre Enkelin habe sie ihr vorbeigebracht, sagt die alte Frau. Ihren Nachlass, zu dem der Gelbe Stern gehört, den ihre Mutter tragen musste, und Geldscheine aus dem Ghetto Theresienstadt, möchte Jana Fikart in der Familie behalten. Sie gibt dem Archiv ihre Geschichte. «Das Interview war eine Ausnahme», sagt Sabina Bossert, «weil Jana Fikarts Geschichte so aussergewöhnlich ist».

Manche Nachlässe umfassen wenige Dokumente
Manche Nachlässe umfassen wenige Dokumente

Jana Fikart erzählt an diesem Tag nicht nur von der Shoah, sondern auch davon, was ihr das Jüdischsein bedeutet. Aufgewachsen ist Jana Fikart säkular. Das Judentum habe in ihrem Leben bis zum Krieg keine Rolle gespielt. Erst der Nationalsozialismus und das Verhalten einiger Mitmenschen, die ihr auch nach dem Krieg mit Distanz begegneten, haben sie ihre jüdische Herkunft realisieren lassen.

Sie begann sich mit dem Judentum und Glaubensfragen zu beschäftigen, aber der Zugang blieb lange rational, sagt sie. Das habe sich erst geändert, als sie nach Israel reiste. «Als ich zum ersten Mal Fuss auf israelischen Boden setzte, wusste ich, dass ich zu Hause angekommen bin und meinen Gott gefunden habe.»

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VSJF-Memorial-Projekt

Die privaten Archive der Überlebenden des Holocaust dürfen nicht verloren gehen. Das «VSJF Memorial-Projekt» übernimmt solche Nachlässe und sichert sie im Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich.

Mehr Informationen finden Sie hier.

Bei Fragen können Sie sich an die Projektleiterin Bettina Zangerl wenden:

bettina.zangerl@history.gess.ethz.ch


Jana Fikart (96) überlebte die Shoah in Prag. | © Annalena Müller
17. April 2024 | 09:00
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