Nebelmeer über dem Talkessel Schwyz
Radiopredigt

Was die Reformierten am Ewigkeitssonntag feiern

Am Toten- und Ewigkeitssonntag gedenken die Reformierten ihrer Verstorbenen. Ein Tag, um über die eigene Endlichkeit nachzudenken – und über den Nebel in unserem Alltag. SRF-Radioprediger Matthias Jäggi empfiehlt, das Wort «Nebel» von hinten zu lesen. Dann ist es nicht mehr melancholisch, sondern bedeutet «Leben».

Matthias Jäggi*

«Seltsam, im Nebel zu wandern!
Einsam ist jeder Busch und Stein,
Kein Baum sieht den andern,
Jeder ist allein.»

Liebe Hörerinnen und Hörer, ist es wirklich so – wie Hermann Hesse dichtet – seltsam, im Nebel zu wandern? Ich habe letzten Sonntag einen Selbstversuch gemacht. Unterwegs fiel mir folgendes auf: Die Steine sind rutschig. 

Orientierungslos im stockdichten Nebel

Statt Fernsicht gibt es nur Nahsicht: So habe ich viel intensiver wahrgenommen, wie die Baumrinden aussehen, wie sie gemustert sind. Oder auch die Kuhglocken hörte ich deutlicher als sonst. Insgesamt schien mir, dass sich das Leben im Nebel verlangsamt und dass die Sinne im Nebel geschärft werden. 

Matthias Jäggi, evangelisch-reformierter Theologe
Matthias Jäggi, evangelisch-reformierter Theologe

Ich erinnere mich an eine Fahrt mit den Skiern durch stockdichten Nebel. Da wusste ich plötzlich nicht einmal mehr, ob ich jetzt bergauf oder bergab fahre. Das war sehr seltsam!

«Nun, da der Nebel fällt, ist keiner mehr sichtbar»

Hermann Hesse beginnt mit seinem Gedicht in der Natur, in der äusseren Welt. Aber eigentlich geht es ihm um die innere Welt, um unsere Seelenlandschaft. Da legt sich plötzlich Nebel drauf. Sichtverlust. Orientierungsverlust. Ein Gefühl von Verlorenheit. Jeder ist allein. Dann erinnert sich Hesse, wie es war, bevor er auf seiner Lebenswanderung in den Nebel geriet:

«Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.»

Laternenweg Ägeri: Gemeinsam unterwegs.
Laternenweg Ägeri: Gemeinsam unterwegs.

Das Gedicht passt zur Stimmung des heutigen Sonntags. Es ist der letzte Sonntag in unserem Kirchenjahr. Das ist in der reformierten Tradition der Toten- und Ewigkeitssonntag. In jeder reformierten Kirche, in der heute Gottesdienst gefeiert wird, denken die Versammelten an die Verstorbenen – an Ehepartner, Mütter, Väter, Geschwister, Kinder, Freundinnen, Nachbarn, die nicht mehr sind. 

Den Nebel lichten

Auch die eigene Endlichkeit rückt damit ins Blickfeld. Ein Verlust, das eigene Ende – plötzlich legt sich Nebel auf mein Leben. Manchmal passiert dann, was einem in der Natur passiert. Nahsicht statt Fernsicht zum Beispiel. 

Nebel in Andelfingen
Nebel in Andelfingen

In Trauergesprächen erlebe ich oft, dass die Schilderung des Sterbeprozesses sehr viel Raum einnimmt. Das ist gut so. Das ist das, was den Angehörigen in diesem Moment am nächsten ist. Später in der Trauerfeier versuche ich, diesen Blick auf das Naheliegende wieder etwas zu weiten. In die Vergangenheit, wenn wir auf ein Leben zurückschauen. In die Zukunft, wenn wir vorsichtig erkunden, wie Worte aus der Bibel den Nebel lichten könnten.

Jede dritte Person in der Schweiz fühlt sich einsam

Ein starkes Motiv in Hesses Gedicht ist die Einsamkeit. Auch die gehört zum Verlust. Da fehlt plötzlich jemand, mit dem man ein kleineres oder auch ein grosses Stück Leben geteilt hat. Einsamkeit hat allerdings noch viel mehr Gesichter. 

Im Nebel
Im Nebel

Jede dritte Person in der Schweiz fühle sich einsam, hiess es letzthin in einem Artikel auf SRF online. Jede dritte! Im Artikel erzählt zum Beispiel einer, dass all seine Freunde mittlerweile Familie gegründet hätten. Deshalb fühle er sich einsam. Was tun an den Wochenenden, was tun in den Ferien? Das sei jetzt bei den andern Familienzeit.

«Voll von Freunden war mir die Welt,
Als noch mein Leben licht war;
Nun, da der Nebel fällt,
Ist keiner mehr sichtbar.

Wahrlich, keiner ist weise,
Der nicht das Dunkel kennt,
Das unentrinnbar und leise
Von allen ihn trennt.»

Ich meine: Dieses Gefühl des Getrenntseins – es gehört zum Menschsein. Und das Gefühl des Verbundenseins? Kommt jetzt die Wende im Gedicht von Hermann Hesse? Es kommt noch eine Strophe. Die geht so:

«Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.»

Also nein, keine Wende. Das Gedicht endet kompromisslos, radikal: Jeder ist allein.

Nun möchte ich Sie, liebe Hörerinnen und Hörer, nicht einfach mit einem «Jeder und jede ist allein» in die neue Woche schicken, sondern drei kurze, biblische Echos dazu geben. Eine Vorbemerkung: Das Gefühl, allein zu sein, ist subjektiv immer wahr. Auch wenn seit Dienstag acht Milliarden Menschen auf unserem Planeten leben.

Verlassenheit und Todesnähe

Diese subjektive Wahrheit spiegelt etwa Psalm 88, ein Gebet in Verlassenheit und Todesnähe. Es beginnt mit den Worten: «HERR, Gott, mein Heiland, ich schreie Tag und Nacht vor dir», und endet so: «Meine Freunde und Nächsten hast du mir entfremdet, und mein Vertrauter ist die Finsternis.» 

Nebel über dem Bistum Chur
Nebel über dem Bistum Chur

Kein Happy End in diesem Psalm, wie sonst oft in den Psalmen. Melancholie – wie bei Hesse. Der Nebel bleibt liegen. Ein feiner Unterschied liegt darin, dass die betende Person sich an ein Du wendet. Und wo ein Du geglaubt wird, kriegt die totale Isolation Risse.

Blau nach langem grau, es klart auf

Ein zweites Echo: In einer Woche beginnt der Advent. Dann hören wir auf Verheissungen wie diese: «Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein grosses Licht, und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.» 

Die Sonne setzt sich mühsam durch.
Die Sonne setzt sich mühsam durch.

Immer wieder erinnert die Bibel daran, dass das Dunkel, das uns vom Leben trennt, nicht ewig ist. So wenig wie der Nebel. Irgendwann lichtet sich jeder Nebel. Ja, seltsam, im Nebel zu wandern, aber plötzlich tanzt ein Sonnenstrahl über den blätterbedeckten Waldboden, und ein zweiter und das Licht reisst den Himmel auf – blau nach langem grau, es klart auf. Ich sehe die anderen wieder, mein Leben wird wieder licht. Wenn sie sich das im Moment nicht vorstellen können, mögen sie vielleicht eine Kerze anzünden. Sie hält die Hoffnung auf Licht wach.

Mose im Nebel – nah bei Gott

Das dritte Echo: Meteorologisch betrachtet sind Nebel und Wolken dasselbe. Es ist nur eine Frage des Standpunktes. Wenn ich mich in einer Wolke befinde, bin ich im Nebel. Von daher ergibt sich eine interessante Beobachtung. Erinnern Sie sich, was passierte, nachdem Mose auf den Sinai gekraxelt war? Genau: «Der Herr aber stieg in der Wolke herab und stellte sich dort neben ihn hin.» 

Statue von Moses am Hauptportal der Kathedrale Lausanne.
Statue von Moses am Hauptportal der Kathedrale Lausanne.

Mose ist im Nebel und Gott stellt sich neben ihn. Nehmen sie doch auch das mit als Hoffnungsbild für sich: Wenn Sie sich im Nebel befinden, kann es sein, dass ihnen plötzlich jemand zur Seite steht. Vielleicht nicht Gott selbst, wie bei Mose, aber ein Mensch, Ihnen von Gott geschickt. 

«Nebel» rückwärts lesen: «Leben»

Mose erhielt im Nebel die Gesetzestafeln in die Hand gedrückt, Orientierung für das Volk Israel. Was wohl der Mensch an Ihrer Seite für sie bereit hält? Zeit, ein Wort, eine Umarmung…?

Matthias Jäggi, evangelisch-reformierter Theologe
Matthias Jäggi, evangelisch-reformierter Theologe

Ja, es bleibt seltsam, im Nebel zu wandern. Aber wo bei Hesse jeder allein ist, legt die Bibel eine Hoffnungsspur: Keiner und keine bleibt allein! Ja, es bleibt seltsam, im Nebel zu wandern, aber er wird sich lichten. Er wird sich in das verwandeln, was sich ergibt, wenn man das Wort Nebel von hinten liest: in neues Leben! Amen.

* Matthias Jäggi ist evangelisch-reformierter Pfarrer in Frick.

Bibelstelle: Ps 88,19 / Jes 9,1 / Ex 34,4-5

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Nebelmeer über dem Talkessel Schwyz | © Sylvia Stam
20. November 2022 | 08:07
Lesezeit: ca. 5 Min.
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