Friedensgruss beim Eröffnungsgottesdienst des Weltjugendtags 2016 in Krakau.
Schweiz

Warum der Friedensgruss ähnlich emotional wie Fussball sein kann

Als Emotionsforscher untersucht Michael Wetzels (36), wie Menschen Gefühle ausdrücken – im Fussballstadion, aber auch in Kirchen. Wetzels beobachtet: «Auch der Friedensgruss kann sehr starke Emotionen vermitteln.»

Barbara Ludwig

Beim Sieg der Schweiz gegen Spanien im Jahre 2010 fuhr ein Busfahrer in Zug an einer Gruppe von Fans vorbei und hupte sie an. Die Fans waren wildfremde Menschen für ihn. Wie erklären Sie sich dieses Verhalten?

Michael Wetzels*: Das kennen wir seit der WM 2006 in Deutschland. Damals war es in Deutschland noch relativ neu, dass Autokorsos wild hupend durch die Strassen fuhren. Damit signalisieren die Menschen: Das Team, das man selber unterstützte, hat soeben einen Sieg errungen. Ich finde es interessant, dass auch die Menschen in der Schweiz das machen. Das Anhupen ist ins soziale Handlungsrepertoire aufgenommen worden – auch wenn die Leute einem fremd sind. Sollten es Fans des gegnerischen Teams gewesen sein, kann die emotionale Bedeutung  – der Code – noch einmal eine andere sein. Aber grundsätzlich bedeutet diese Handlung: Mein Team hat gewonnen.

Friedliche Fans: Autokorso in der Zürcher Langstrasse
Friedliche Fans: Autokorso in der Zürcher Langstrasse

Vermutlich waren sowohl der Busfahrer als auch die Gruppe auf der Strasse Fans des Schweizer Teams.

Wetzels: Auch der Effekt der Zugehörigkeit spielt mit. Die Menschen wissen, welches Team an dem Tag gesiegt hat. Das Anhupen ist auch ein Zeichen dafür: «Aha, das ist einer von uns.» Und schon entsteht eine gemeinsame, eine geteilte Freude.

Michael Wetzels, Soziologe.
Michael Wetzels, Soziologe.

Wie wichtig ist die Möglichkeit, im Fussball Emotionen ausleben zu können, für den Gefühlshaushalt der Menschen?

Wetzels: Eine schwierige Frage. Ich müsste zurückfragen, was Sie unter Gefühlshaushalt verstehen. In meiner Doktorarbeit habe ich festgestellt: Emotionen sind vor allem soziale Codierungen beziehungsweise Interpretationen. Etwas, das man erlernt hat. Im Fussballstadion habe ich das an Kindern beobachten können. Sie wussten ganz genau, welche Performances – das heisst welche Darstellungen – angebracht sind und in welchem Moment. Das haben sie im Stadion eingeübt, indem sie sich an den anderen Menschen orientieren. Wenn man Teil der Gemeinschaft sein möchte, ist es wichtig, diese Codierungen zu kennen. Ich habe auch Menschen beobachtet, die zum ersten Mal in einem Stadion waren: Sie wussten nicht, wie man sich dort zu verhalten hat. Sie waren nicht Teil der Performance und verstanden nicht, warum diese oder jene Handlung nun Trauer, Freude oder Wut ausdrückt.

Kinder lernen im Stadion, wie sie sich als Fan zu verhalten haben.
Kinder lernen im Stadion, wie sie sich als Fan zu verhalten haben.

Meine Frage entstand aus einem subjektiven Eindruck heraus, dass im Alltag viele Menschen freudlos unterwegs sind und wenig Raum bleibt für starke Emotionen – im Gegensatz zum dem, was sie Stadion erleben können.

Wetzels: Das kann man nicht verallgemeinern. Allein die Jahreszeiten haben wir mit Emotionen codiert. Der Sommer steht für Lebensfreude. Im Herbst fliegen die Blätter. Oder wenn ich im Winter über den Weihnachtsmarkt laufe, sehe ich immer sehr viele Leute mit fröhlichen Gesichtern. Es kommt immer auf die Situation an.

«Wir haben gelernt, dass man auf der Strasse nicht plötzlich anfängt zu tanzen oder laut zu schreien.»

Wir haben zum Beispiel gelernt, dass man auf der Strasse nicht plötzlich anfängt zu tanzen oder laut zu schreien. Stellen Sie sich vor, Sie würden auf der Strasse einen Freudentanz aufführen. Das sähe für die anderen sehr komisch aus. Zudem gibt’s auch keine empirischen Studien, die belegen, dass die Menschen heute generell freudlos sind.

Brauchen Menschen den Kampf oder einen Gegner – also ein Spiel um Sieg oder Niederlage –, um starke Gefühle zu entwickeln?

Wetzels: Nein. Denken Sie an das alltägliche Leben. In der Liebe etwa entwickelt man starke Gefühle für einen Menschen. Im Fussball ist es ein Spiel, ein Wettbewerb. Da gehört der Kampf dazu. In anderen Sportarten ist das nicht der Fall. Man entwickelt auch starke Gefühle über die Religion, zum Beispiel in der Liebe zu Gott. Ist das ein Kampf? Nein, da geht es um Gemeinschaft, dass man gemeinsam in der Liebe zu Gott vereint ist. Starke Gefühle brauchen nicht unbedingt den Kampf. Eine Zugehörigkeit zu anderen Menschen reicht. Man kann auch in einer Freundschaft starke Gefühle füreinander haben.

Friedensgruss im Gottesdienst.
Friedensgruss im Gottesdienst.

Wo sonst gibt es noch Erlebnisse kollektiven Jubels, die ähnlich intensiv sind wie im Fussball? Sie haben gerade die Religion angesprochen.

Wetzels: Es kommt immer darauf an, wie man den kollektiven Jubel sieht. Ich unterscheide da zwischen den Performances, also den Handlungen, mit denen ich Emotionen darstellen möchte. Die Performance muss das starke Gefühl nicht zwingend widerspiegeln. Ein Beispiel: In der katholischen Kirche reichen sich die Gläubigen die Hand zum Friedensgruss (dies hat sich durch die Corona-Pandemie geändert, Anmerkung der Redaktion). Ein bewegender Moment, wie ich selbst schon beobachten konnte.

«Manche Menschen haben beim Friedensgruss Tränen in den Augen.»

Manche Menschen haben dabei Tränen in den Augen. In diesem Augenblick empfinden sie etwas Starkes, ein Gefühl der Gemeinschaft und des Respekts voreinander. Es ist nicht unbedingt von der Intensität der Performance abhängig, ob jemand gerade starke Gefühle hat. Auch eine sehr ruhige Performance kann sehr starke Emotionen vermitteln.

Papst Franziskus am Weltjugendtag 2016 in Krakau.
Papst Franziskus am Weltjugendtag 2016 in Krakau.

Kennen Sie die katholischen Weltjugendtage, wo der Papst in einem Stadion von einer jubelnden Menge junger Menschen empfangen wird – wie ein Popstar sozusagen?

Wetzels: Dieses Phänomen hat der Wissens- und Religionssoziologe Hubert Knoblauch untersucht. 2011 trat Papst Benedikt XVI. im Olympia-Stadion in Berlin auf. Für damalige Verhältnisse war das eine äusserst skurrile Veranstaltung: Ein Papst feiert eine katholische Messe in einem Fussballstadion.

«Der Papst gab eine Anleitung, wie man eine Emotion performt.»

Auf dem Weltjugendtag 2016 in Krakau haben wir etwas Ähnliches beobachtet. Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben auf einem grossen Feld geschlafen. Vorne wurde eine grosse Bühne aufgebaut. Papst Franziskus hat in seiner Rede die Jungen aufgefordert: Haltet jetzt gemeinsam die Hände hoch und setzt ein Zeichen des Friedens! Der Papst gab also eine Anleitung, wie man eine Emotion performt und wie man das mit dem Körper umsetzt. Das haben die Jugendlichen dann auch gemacht.

* Michael Wetzels ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie an der Technischen Universität Berlin. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte ist die Emotions- und Affektforschung. Von 2015 bis 2019 hat Wetzels an einem Forschungsprojekt über Publikumsemotionen in Sport und Religion mitgearbeitet.


Friedensgruss beim Eröffnungsgottesdienst des Weltjugendtags 2016 in Krakau. | © Harald Oppitz/KNA
18. Dezember 2022 | 11:35
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