Unmittelbar vor dem grössten Glück: Das Hoffen der Fans auf das entscheidende Tor.
Story der Woche

Wenn der Sieg zur Erlösung wird: «Tore sind Momente, die eine Gemeinschaft kitten»

Die Schweizer Nati ist zwar bei der WM in Katar im Achtelfinale ausgeschieden. Doch zuvor bescherten Shaqiri & Co. tausenden Fans Glücksgefühle und Jubeltaumel. Torjubel kann Menschen richtig gehend erlösen – und ist mit sogar sexuellen Orgasmen vergleichbar, sagt Serge Brand (61), Basler Forschungspsychologe und Psychotherapeut.

Wolfgang Holz

Sind Sie ein Fussballfan und haben Sie auch schon beglückende Erlebnisse als Fan gemacht?

Serge Brand*: Ja, klar. Meine Lieblingsvereine sind der FC Basel und FC Arsenal London.

«Ich bin in Teheran auf dem Flughafen schon mal spontan von fünf iranischen Arsenal-Fans geherzt und geküsst worden.»

FC Arsenal!? «Lucky, lucky Arsenal», lästern englische Fans traditionell. Da muss es Ihnen im Augenblick ja auf jeden Fall sehr gut gehen, steht Arsenal doch unangefochten an erster Stelle in der Premier League.

Brand: Natürlich geht es mir mit Arsenal derzeit sehr gut. Und warum nicht Arsenal? Die hatten 20 Jahre lang mit Arsène Wenger einen hervorragenden Trainer, einen Elsässer. Und ich bin auch ein Elsässer. Es gibt die verschiedensten und irrationalsten Gründe, für einen Verein zu schwärmen. Übrigens bin ich in Teheran auf dem Flughafen schon mal spontan von fünf iranischen Arsenal-Fans geherzt und geküsst worden, weil ich ein Arsenal-Shirt getragen habe. Meine Frau, die dabei war, hat sich gewundert. Das Bekenntnis zu einem Fussballverein ist somit immer auch identitätsstiftend.

Serge Brand (61) ist nicht nur Psychologe und Psychotherapeut, er ist auch leidenschaftlicher Arsenal-Fan.
Serge Brand (61) ist nicht nur Psychologe und Psychotherapeut, er ist auch leidenschaftlicher Arsenal-Fan.

Das ist eine tolle Erinnerung! Aber mal ganz fachmännisch: Warum haben Fussballtore für Fans so eine erlösende Wirkung, wie wir es bisher miterleben konnten und können während der WM? Heute beginnen ja die Viertelfinals in Katar und manche Fans, wie die brasilianischen etwa, beten ja sogar für den Erfolg.

Brand: Fussballtore können für Fans wirklich erlösend sein. Zum einen natürlich, weil es ja das Ziel ist, im Fussball Tore zu schiessen. Fans erwarten also Tore. Sie hoffen auf Tore. Das ist Fussballfieber pur. Zum anderen steht es nicht in der Macht von Fussballfans, was auf dem Platz geschieht. Es ist ausserhalb ihrer Kontrolle. Es kommt deshalb alles zusammen, wenn ein Tor fallen soll: Hoffnungen, Gebete, Glück, Sehnsüchte, Wünsche – die mit einem Torschuss alle in einem einzigen Moment in Erfüllung gehen können. Deshalb ist auch der Jubel so gross.

«Tore sind Momente, die eine Gemeinschaft kitten, die sie wachsen und stabiler werden lässt.»

Aber warum kann der Mensch überhaupt so glücklich sein, wenn ein Tor fällt? Ist es nicht auch die Kollektivität des Jubels?

Brand: Zweifellos. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Einzelne Personen sind nicht überlebensfähig. Der Mensch ist es deshalb gewohnt, kollektiv aufzuwachsen und in einer Gemeinschaft zu leben und zu bleiben. Angst und Scham zeigen beispielsweise, wie sich der Mensch fürchtet, ausgeschlossen zu werden aus einer Gemeinschaft.

Die Anspannung vor dem Tor: Wenn kein Tor fällt, ist das für Fans fast nicht auszuhalten.
Die Anspannung vor dem Tor: Wenn kein Tor fällt, ist das für Fans fast nicht auszuhalten.

Und was hat das mit dem Torerlebnis beim Fussball zu tun?

Brand: Ein Tor in der Masse oder mit anderen zusammen zu erleben, bedeutet: Tore sind Momente, die eine Gemeinschaft kitten, die sie wachsen und stabiler werden lässt. Dass man auf dem Fussballplatz oder vor dem Fernseher beim Anschauen von Fussballspielen auch noch schreien, fluchen, jubeln und sich in die Arme fallen darf, befördert zusätzlich die Euphorie der Fussballfans. Als die Schweizer Nati die K.O.-Runde bei der WM erreichte, sorgte das für ein allgemeines gemeinschaftliches Glücksgefühl. Es kommt beim Jubel immer auf den Kontext an.

«Man kann also durchaus sagen, dass Torerlebnisse und Siege beim Fussball für Fans von der Intensität her gleichbedeutend mit einem sexuellen Orgasmus sein können.»

Gibt es denn auch wissenschaftliche Vergleichsmessungen zur Ausschüttung von Glückshormonen in verschiedenen Situationen? Wenn ja, auf welcher Skala rangiert da der Fussballjubel?

Brand: Die gibt es meines Wissens nicht. Der englische Schriftsteller Nick Hornby hat in seinem Roman «Fever Pitch» geschrieben, dass ein Sieg auf dem Fussballplatz mit einem nicht enden wollenden Orgasmus verglichen werden kann. Man kann also durchaus sagen, dass Torerlebnisse und Siege beim Fussball für Fans von der Intensität her gleichbedeutend mit einem sexuellen Orgasmus sein können.

Victory is everything: Fussball-Siege machen rundum glücklich.
Victory is everything: Fussball-Siege machen rundum glücklich.

Trotzdem – kann es sein, dass Fussballerlebnisse emotional noch viel tiefer gehen können als sexuelle Reminiszenzen? Immer wenn ich jemandem erzähle, wie Mario Götze 2014 bei der WM im Final gegen Argentinien das entscheidende 1:0 geschossen hat, bricht mir sofort die Stimme ab, Tränen schiessen in meine Augen. Und als ich es damals live miterlebte, war mein Torschrei so laut, dass mein neunjähriger Sohn plötzlich anfing zu weinen, weil er sich fürchtete. Mein Nachbar, zwei Häuser weiter, fragte am Tag danach irritiert, ob ich das am Sonntagabend gewesen sei…

Brand: Man kann sexuelle Erlebnisse wahrscheinlich nicht mit Fussball vergleichen. Sex spielt sich in aller Regel ganz intim zwischen zwei sich liebenden Personen hinter verschlossenen Türen ab.

Die Schweizer Nati ist immer begehrter und beliebter - vor allem, wenn sie gewinnt.
Die Schweizer Nati ist immer begehrter und beliebter - vor allem, wenn sie gewinnt.

«Für uns Menschen ist es einfach wichtig, dass wir uns einer Gruppe zugehörig fühlen können.»

Kann Fussballglück aber nicht doch irgendwie enthemmend wirken?

Brand: Vielleicht. Entscheidend ist immer der Kontext, in dem der Jubel oder das Fussballglück sich ereignen. Für uns Menschen ist es einfach wichtig, dass wir uns einer Gruppe zugehörig fühlen können. Sprich: Dass eine Art Identitätsstiftung stattfindet. Wir Menschen definieren uns schliesslich immer über eine Gruppe, der wir angehören. Solche Erlebnisse gibt es natürlich nicht nur beim Fussball. Sondern auch in der Politik. Oder in einer religiösen Gemeinschaft. Selbst Eremiten, die einsam leben wollen, gehören ja der Gemeinschaft der Eremiten an und sind somit ironischerweise wieder nicht allein. Wenn man ganz aktuell den Jubel von Albert Rösti und der SVP bei der Bundesratswahl gesehen hat, muss man sagen: Dass hatte schon sehr viel mit Fussballjubel gemein.

Kann man so weit gehen und sagen, dass gemeinsam ein Fussballspiel anzuschauen eines der letzten existenziellen Kollektiverlebnisse des modernen Menschen ist?

Brand: Das mit dem «existenziell» weiss ich nicht, ob ich das unterstreichen kann. Wichtig ist, dass Menschen sich wie bei einem Fussballspiel einer Gruppe, einem Kollektiv zugehörig fühlen können. Aber ja: Ich werde natürlich auch nicht vergessen, als ich mit meinen Kindern nach dem WM-Gewinn Frankreichs 2018 mitten in Paris plötzlich in einen Strudel begeisterter Fans geraten bin. Diese rissen uns, die «Marseillaise» intonierend, vom Hôtel de Ville quer durch die Stadt mit bis zum Arc de Triomphe. Und zwar im Lauftempo. Das war schon rein sportlich gesehen eine unglaublich anmutende Leistung, die ich nicht vergessen werde!

*Serge Brand (61) ist Forschungspsychologe und Psychotherapeut an den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel. Seine Spezialgebiete sind Affektive Störungen, Schlafstörungen und Stressbekämpfung. Er ist verheiratet und hat sechs Kinder.


Unmittelbar vor dem grössten Glück: Das Hoffen der Fans auf das entscheidende Tor. | © KEYSTONE/Jean-Christophe Bott
9. Dezember 2022 | 05:00
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