Veronika Bachmann
Schweiz

Veronika Bachmann: «Christinnen und Christen tragen besondere Verantwortung in Aufarbeitung von Judenhass»

Jüdinnen und Juden feiern heute das Fest Purim, das auf das alttestamentliche Buch Ester zurückgeht. Ruhe vor Feinden hat bis heute «etwas Kontrafaktisches», sagt Veronika Bachmann. Deswegen müssen auch Christinnen und Christen das Esterbuch sensibel lesen und interpretieren – es hält den Menschen einen Spiegel vor.

Jacqueline Straub

Sie haben eine Publikation über das alttestamentliche Buch Ester geschrieben. Warum?

Veronika Bachmann*: Das Esterbuch ist ein biblisches Buch, das im Christentum eher übersehen wird oder worauf man sogar abwertend oder mit einem Gefühl des Unwohlseins blickt. Dass am Ende nicht das durch ein Ausrottungsedikt bedrohte Volk von Ester und Mordechai umkommt, sondern die Feinde, wird gerne als Gewaltexzess angeprangert. Überhaupt triggert die Erzählung oder das, was man vage darüber weiss, allzu oft antijüdische Stereotype.

«Darin sieht man gerne eine Bestätigung für eine postulierte «Rachsucht der Juden».»

Inwiefern?

Bachmann: In Ester etwa sieht man die Jüdin, die den König mit ihrer Schönheit und Klugheit zu eigenen Zwecken manipuliert. Und darin, dass am Ende nicht wie zum Beispiel bei der Schilfmeerwundererzählung Gott eingreift und Israel durch die Spaltung des Meeres vor der Armee Ägyptens rettet, sondern ein handfester Kampf zur Abwehr der Feinde nötig ist. Darin sieht man gerne eine Bestätigung für eine postulierte «Rachsucht der Juden».

Solche Lesarten sagen viel über diejenigen aus, die den Text so lesen.

Bachmann: Leider hat die christliche Theologie bis in die Neuzeit hinein kräftig daran mitgearbeitet, judenfeindliche Interpretationen zu stützen. Als Bibelwissenschaftlerin – gerade auch aus christlicher Perspektive – interessiert es mich, jenseits solcher Lesetraditionen wieder zum Text selbst zurückzukehren und genau hinzuschauen, worum es in der Erzählung tatsächlich geht.

Davidstern und Thora
Davidstern und Thora

Worum geht es denn?

Bachmann: Vielleicht muss ich da zuerst meinen Forschungsfokus erläutern: Ich habe mich mit der hebräischen Esterbuchfassung beschäftigt. Das ist diejenige Erzählfassung, die etwa in der christlich-reformierten Kirche und im Judentum die biblische Erzählversion geworden ist. Sie repräsentiert nach meiner Einschätzung in ihrer Grundgestalt die älteste Textform, die uns heute noch zugänglich ist. Hinzu kommt, dass sie an keiner Stelle offen von Gott spricht. Das macht sie besonders interessant. Im Zentrum steht ein irdischer König namens Achaschwerosch. Der Text schreibt ihm zwei besondere Vorlieben zu: Feste zu feiern und alles nach irgendwelchen Gesetzen geregelt zu wissen. Damit stellt er sich oberflächlich so dar, als ob er der ideale König wäre: Mit grosszügigen Festen schaut er gut zu den Menschen, und mit sinnvollen Regeln garantiert er eine gute Ordnung zwischen ihnen. Zur Festthematik wurde inzwischen schon viel geforscht. Anders sieht es mit der Gesetzesthematik aus. Obwohl der Begriff «Gesetz» zwanzigmal im Buch vorkommt, gibt es kaum Untersuchungen dazu. Diese Forschungslücke hat mich interessiert.

«Den Auftakt machen zwei grosse Feste.»

Und was haben Sie mit Blick auf die Gesetzesthematik herausgefunden?

Bachmann: Die Art und Weise, wie die Erzählung Achaschwerosch als Ordnungsinstanz auftreten lässt, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Karikatur: Wir erfahren von einem König, der sich in seinem Gehabe wahnsinnig aufbläht. Den Auftakt machen zwei grosse Feste. Das erste dauert 180 Tage und hat den Zweck, den wichtigen Staatsleuten den königlichen Prunk vorzuführen. Ans eigentliche Regieren denkt hier niemand mehr. Der Name Achaschwerosch bringt den aufgeblasenen Charakter des Königs lautmalerisch wunderbar zum Ausdruck – schade, dass viele Übersetzungen den Namen statt in der hebräischen in der gräzisierten Form Xerxes wiedergeben und damit eine der witzigen Pointen unkenntlich machen. Ebenfalls bereits im ersten Kapitel kommt mehrfach der Begriff für «Gesetz» vor. Der Text führt also gleich zu Beginn vor, was Gesetze und Ordnung für diesen König bedeuten und wie Gesetze bei ihm zustande kommen. Dabei kommt der König – wie bei der Festthematik – schlecht weg: Statt sich wirklich gut um alle Menschen und das menschliche Zusammenleben in seinem Weltreich zu kümmern, geht es ihm um die Zurschaustellung von Prunk und um ein Kreisen um sich selbst.

«Dass ein Bibeltext eine frauenverachtende Männerlogik so offen ins Lächerliche zieht, ist einmalig.»

Kommt im ersten Kapitel nicht auch die Krise um die Königin Waschti vor?

Bachmann: Genau. Der König richtet dann noch ein zweites, siebentägiges Fest für das Volk aus. Am letzten Tag will der König – in angeheitertem Zustand vom Weintrinken – den anwesenden Männern seine schöne Frau Waschti als besonderes Prunkstück vorführen.

Doch sie kommt dem Befehl nicht nach, vor den König zu kommen…

Bachmann: Achaschwerosch verliert die Fassung und zieht gleich seine Berater heran. Das juristische Prozedere, das folgt, entlarvt einen Beamtenapparat um den König, der vor allem darum bemüht ist, dem König zu schmeicheln und zu einem Urteil zu kommen, das ihn in Schutz nimmt, damit er sich nicht blossgestellt fühlt. Die Königin wird abgesetzt, um ein Exempel zu statuieren, dass jede Frau im Königreich ihrem Mann zu gehorchen habe, denn sonst würde ja «Herabsetzung und Verdruss» resultieren. Dass ein Bibeltext eine frauenverachtende Männerlogik so offen ins Lächerliche zieht, ist einmalig.

Tallit
Tallit

Geht es im Hauptteil des Esterbuches dann nicht um Judenfeindlichkeit?

Bachmann: Dem «Fall Waschti» im Vorspann folgt als Auftakt des Hauptteils dann tatsächlich der «Fall Mordechai». Der König stellt hier erneut unter Beweis, dass er kein Held in weiser Staatsführung ist. Die Haupterzählung dreht sich bekanntlich um die Frage, wie das judäische Protagonistenpaar Mordechai und Ester einem königlichen Edikt entgegentreten kann, das die Ausrottung ihres ganzen Volkes an einem durch das Los bestimmten Tag befiehlt. Obwohl der eigentliche Feind seine Verkörperung im Beamten Haman findet, ist es bei genauer Betrachtung erneut der König, der durch sein Agieren verursacht, dass alle Probleme überhaupt erst entstehen: Es ist seine Personalpolitik, die den boshaften und machtgierigen Haman, der das Edikt erwirkt, überhaupt erst in eine hohe Position gebracht hat (Est 3,1). Und es ist Achaschwerosch, der sich von Haman ohne jegliches Nachprüfen verdrehte Tatsachen aufbinden lässt und ihm blind die Vollmacht übergibt, besagtes Edikt zu erlassen.

«Haman verkörpert Menschen, die skrupellos auf den eigenen Vorteil aus sind.»

Problematisiert das Esterbuch also einen schlechten Ordnungssinn?

Bachmann: In der Tat führt meine Analyse zu diesem Ergebnis. Einzelne Figuren oder Figurengruppen repräsentieren in der Erzählung bestimmte Ordnungsvorstellungen: Der König in seiner immer wieder scheiternden Art, sich grossköniglich zu geben, steht für eine Haltung, die nicht gewappnet ist, Chaos zu verhindern. Mal lässt er sich hier, mal dort von jemandem beeinflussen. Wenn es darauf ankommt, weicht er Entscheidungen sogar mit Hinweis darauf aus, dass sich königliche Gesetze nicht rückgängig machen liessen. Damit stellt er sich als höchste Ordnungsinstanz in dysfunktionaler Weise unter seine eigene Ordnung. Es ist Glückssache – oder vielleicht der Lenkung einer wahrhaftigeren Macht geschuldet –, dass der König irgendwann dann doch auch Mordechai erhöht und Haman an einem überdimensionierten Holzpfahl hinrichten lässt, den dieser eigentlich für Mordechai aufgestellt hat.  

Wie sieht es mit Haman, Mordechai und Ester aus? Stehen auch sie für spezifische Ordnungsvorstellungen?

Bachmann: Haman habe ich schon erwähnt. Er ist der Boshafte. Er verkörpert Menschen, die skrupellos auf den eigenen Vorteil aus sind und dafür zu allen Mitteln greifen, insbesondere zu Verleumdung. Heute könnte man seine Spuren bei Menschen entdecken, die bewusst Fake News streuen, andere zu Unrecht Verunglimpfen und nicht davor zurückschrecken, über Leichen zu gehen. Er repräsentiert, bildhaft gesprochen, eine todbringende Ordnung.

Holocaust-Überlebender mit Arm-Tätowierung
Holocaust-Überlebender mit Arm-Tätowierung

Und wofür stehen Ester und Mordechai?

Bachmann: Hier zeugt der Text von einem sehr kühnen Selbstverständnis gewisser judäischer Kreise ungefähr des 3. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung. In diese Zeit lässt sich diese Erzählfassung in ihren Grundzügen datieren. Ester und Mordechai kommen als jehudim in den Blick, die in der Fremde leben. Die im Hebräischen benutzte Bezeichnung verweist auf ihre ethnisch-geographische Heimat Juda, hebräisch jehuda. Mordechais und Esters Situation spiegelt damit Lebenskontexte von jehudim, die fern von Jerusalem ihre Wahlheimat gefunden haben. Haman schwärzt sie vor dem König mit dem Argument an, sie und alle Angehörigen ihres Volkes würden anderen Gesetzen als alle übrigen Völker folgen. Vor allem würden sie die königlichen Gesetze missachten. In diesem Vorwurf kristallisiert sich die eigentliche Hauptfrage der Erzählung: Wie sieht gegenüber der chaotisch-königlichen und der boshaft-hamanischen eine wahrhaftige, tragfähige Ordnung aus? Und wer ist es, der dieser in der Welt zur Durchsetzung verhilft?

«Bei genauerem Hinsehen inszeniert sich dieser nämlich nicht nur als irdischer Grosskönig, sondern sogar als Möchtegern-Gottkönig.»

Und wie beantwortet das Esterbuch diese Frage?

Bachmann: Hier zeugt das Buch von einem hohen Selbstanspruch der Gemeinschaft, die hinter ihm steht: Diese Verantwortung wird nämlich denjenigen zugeschrieben, die als Referenzgrösse für ihren Lebenswandel nicht einen aufgeblasenen Achaschwerosch vor Augen haben, sondern den wahren, eigentlichen Gottkönig. Aus der Buchperspektive ist dies der biblische Gott. Das Esterbuch konturiert ihn als Macht, die für eine lebensförderliche Ordnung steht, wonach ein gelungenes Leben seinen Ausdruck weder in männlichem Suprematismus oder einer Anbiederung daran noch in selbstgefälligem Gehabe oder skrupelloser Selbstoptimierung findet, sondern in einem der Welt zugewandten, solidarischen und mutigen Agieren im Namen dieser Macht. Zielpunkt – darauf deutet der Schluss der Erzählung hin, der von der Etablierung des Purimfestes erzählt – ist eine Welt im Modus des Friedens, hebräisch schalom, einer Welt also, in der anständige Menschen ohne Schikanierung durch Feinde glücklich leben und ein solches Leben auch feiern können.

Aber Sie sagten doch, Gott komme nicht vor.

Bachmann: Das stimmt durchaus, wenn man oberflächlich auf den Text schaut. Gott erscheint vor allem indirekt. Seine Macht kann man einerseits hinter den «zufälligen» guten Wendungen am Werk sehen. Andererseits, das fiel mir neu auf, gewinnt er im Spiegel von Achaschwerosch an Gestalt. Bei genauerem Hinsehen inszeniert sich dieser nämlich nicht nur als irdischer Grosskönig, sondern sogar als Möchtegern-Gottkönig – wohl auch ein kritischer Seitenhieb, der sich an damalige hellenistische Herrscher gerichtet hat, die sich als Gott verehren liessen. Ein aufmerksames Lesepublikum kann den wahren Gott-König im Spiegel des Möchtegern-Gottkönigs erkennen. Bei dieser subtilen Kontrastierung spielt der Text vor allem mit Anspielungen, die vom damaligen Lesepublikum verstanden werden konnten.

Der Anfang eines Psalms, abgedruckt in einer Luther Bibel aus dem Jahre 1680
Der Anfang eines Psalms, abgedruckt in einer Luther Bibel aus dem Jahre 1680

Können Sie Beispiele nennen?

Bachmann: In biblischen Texten gibt es gerade in den Psalmen eine starke Tendenz, Gott als himmlischen, kosmischen König zu besingen. In dieser Rolle wird seine Macht natürlich auch als grösser als die Macht jedes irdischen Königs bewertet. Auf dem Hintergrund einer solchen Theologie ist es dann ein Leichtes, in Achaschwerosch einen lächerlichen Möchtegern-Gottkönig zu sehen.

Aber dem biblischen Gott kann auch etwa Zorn zugeschrieben werden.

Bachmann: Schaut man die Texte an, die von göttlichem Zorn reden, so geht es dort um Gottes Enttäuschung oder Verzweiflung über das Scheitern von Menschen, ein gutes, gerechtes Leben zu leben. Achaschwerosch wird mehrmals aus einer egozentrischen Kränkung heraus zornig. Das Motiv ist also ein ganz anderes. Auch die Tatsache, dass sich Achaschwerosch schon fast manisch, aber wenig überzeugend um Gesetze kümmert, lässt rasch an den biblischen Gott denken. Im Rahmen der Erzählung über den Auszug aus Ägypten und die Wanderung in eine eigene Heimat wird ihm zugeschrieben, am Sina Gesetze, die Tora, offenbart zu haben. Im Kontext der Exodus-Erzählung steht die Tora nun aber gerade für die Vision eines guten, gerechten Zusammenlebens in Kontrast zu einer schlechten Ordnung des Zusammenlebens, der man in Ägypten ausgeliefert war. Auch in Bezug auf sein Gesetzes- und Ordnungsverständnis repräsentiert Achaschwerosch also ein trauriges Abbild des wahren Gottkönigs.

Purim-Fest im jüdischen Zentrum in Czernowitz, Ukraine
Purim-Fest im jüdischen Zentrum in Czernowitz, Ukraine

Heute feiern Jüdinnen und Juden das Purimfest, das auch auf das Buch Ester zurückgeht. Wie feiern sie es?

Bachmann: Wie Jüdinnen und Juden Purim insgesamt, individuell oder in der jeweiligen Gemeinde, der sie angehören, verstehen, kann ich nicht für sie beantworten. Da die Erzählung seit ihrer Entstehung von einer langen und dunklen Geschichte von Judenhass eingeholt worden ist, ist die Verfolgungsthematik auf jüdischer Seite sicher ins Zentrum gerückt. Purim und damit die erreichte Ruhe vor Feinden zu feiern, hatte immer wieder – leider bis heute – etwas Kontrafaktisches an sich. Sich aus einer ohnmächtigen Perspektive eine radikale Umkehr der Verhältnisse zu imaginieren, konnte und kann ein Stück Ermächtigung bedeuten.

Hat das Esterbuch Christinnen und Christen etwas Besonderes zu sagen?

Bachmann: Ich hoffe, dass bereits zum Ausdruck gekommen ist, dass ich das klar bejahe! Zum einen tragen Christinnen und Christen aus historischen Gründen eine besondere Verantwortung in der Aufarbeitung von Judenhass. Das Esterbuch diesbezüglich sensibel zu lesen und zu interpretieren, müsste für alle Christinnen und Christen selbstverständlich sein. Ich würde mir wünschen, dass es durchaus auch christlicherseits die Tradition gäbe, das Esterbuch jährlich zu lesen und damit zum Thema zu machen. Die bestehenden christlichen Leseordnungen marginalisieren das Buch. Hier wären Änderungen angebracht.

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Kann das Esterbuch auch bei der eigenen Reflexion helfen?

Bachmann: Gerade wenn man den Fokus auf die Ordnungsfrage richtet, bietet das Esterbuch auch innerchristlich und innerkirchlich viel Stoff für (Selbst-)Reflexionen. Welche Art von «Gesetzlichkeit» – gerade auch im Bereich eigener Institutionen – dürfte tatsächlich gottgefällig sein? Wie vermag ein christlicher Lebenswandel an Ideale anzuknüpfen, die das Esterbuch ins Zentrum stellt?

Was fasziniert sie am Esterbuch?

Bachmann: Ehrlich gesagt fasziniert mich das Esterbuch deshalb besonders, weil es die Ordnungsfrage so gross stellt, dass sie nicht zwingend bei einer «jüdischen» oder «christlichen» Frage stehen bleiben muss. Gerade weil die Erzählung auf kunstvolle Weise unterschiedliche menschliche Ordnungsvorstellungen und auch konkrete Strategien der Unterwanderung von Ordnung kritisch seziert, hält sie der Menschheit insgesamt einen Spiegel vor.

*Veronika Bachmann ist Alttestamentlerin. Ihr Habilitationsschrift trägt den Titel «Verdrehtes Recht versus Tora. Zur theologischen Bedeutung der Gesetzesthematik im hebräischen Esterbuch». Sie leitet den Fachbereich «Theologie und Religion» an der Paulus Akademie in Zürich und ist zudem Privatdozentin an der Universität Tübingen.


Veronika Bachmann | © Jacqueline Straub
24. März 2024 | 07:00
Lesezeit: ca. 9 Min.
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