Nataliya Karfut ist ukrainische Theologin.
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Ukrainische Theologin: «Wenn wir Putin nicht stoppen, kommt es zum Dritten Weltkrieg»

Das ukrainische Volk sei gut auf den Angriff Russlands vorbereitet und werde «um jeden Zentimeter» kämpfen, sagt die ukrainische Theologin Nataliya Karfut (40). Um weitere Invasionen Russlands zu verhindern, müsse Europa nun entschieden handeln.

Jacqueline Straub

Sie stammen aus der Ukraine und leben jetzt in Rom. Wie blicken Sie derzeit auf Ihre Heimat?

Nataliya Karfut*: Heute morgen wurde ich von einer Freundin geweckt, die mir sagte, dass die Ukraine von Russland angegriffen wurde. Meine erste Reaktion war Angst und Panik, denn meine Familie lebt in der Ukraine.

Sind Ihre Verwandten in Sicherheit?

Karfut: Da die ganze Ukraine bombardiert wird, ist keiner in Sicherheit. Meine Mutter und meine Schwester leben in Lviv (Lemberg). Sie sagten mir heute Morgen, dass sie bereits Schüsse und Explosionen gehört haben. Sie haben daraufhin die Stadt verlassen und standen lange im Stau. Nun haben sie es auf das Land geschafft.

Meine Cousine lebt mit ihrer behinderten Tochter in Mariupol, an der Grenze zur Frontlinie. Schon 2014 mussten sie für einen Monat aus der Stadt flüchten. Mariupol wurde angegriffen, seither habe ich nichts mehr von meiner Cousine gehört.

«Es gibt Kinder, die noch nie Frieden erlebt haben.»

Haben Sie Hoffnung in dieser Krisenzeit?

Karfut: Ich weiss, dass das Volk und der Staat sich gut vorbereitet haben auf diesen Angriff. Alle sind entschlossen, sich zu verteidigen. Die Menschen werden um jeden Zentimeter in der Ukraine kämpfen. Keiner in meinem Freundeskreis hat bis heute das Land verlassen. Sie stehen zu ihrer Heimat. Alle Männer, die bereit sind zu kämpfen, bekommen seit heute Waffen vom Militär.

Ich habe grosse Hoffnung, dass Gott hilft. Ich bete aber auch zu Gott, dass die Ukraine in Ruhe gelassen wird und meine Heimat in Unabhängigkeit weiterbestehen kann. Was mir aber dennoch Sorge bereitet: Die Ukraine befindet sich seit acht Jahren in einem hybriden Krieg. Es gibt Kinder, die noch nie Frieden erlebt haben. Sie haben schlimme Traumata. Auch wenn der Krieg jetzt nur ein paar Wochen dauern sollte, werden unzählige Menschen Kriegstraumata erleiden.

Eine Frau geht am Mittwoch, 23. Februar, an einer fotografischen Gedenkstätte für die Toten der Konfrontation zwischen dem ukrainischen Militär und den prorussischen Separatisten in der Ostukraine vorbei.
Eine Frau geht am Mittwoch, 23. Februar, an einer fotografischen Gedenkstätte für die Toten der Konfrontation zwischen dem ukrainischen Militär und den prorussischen Separatisten in der Ostukraine vorbei.

Haben Sie damit gerechnet, dass Russland in die Ukraine einmarschieren wird?

Karfut: Nachdem Wladimir Putin seine historische Auslegung vorgetragen hatte, dass ihm nicht nur die Krim zustehe, sondern die ganze Ukraine, war mir klar, dass es zum Angriff kommen wird. Er will auch andere osteuropäische Länder, um sein grosses Russland aufleben zu lassen. Der Angriff auf die Ukraine ist ein Angriff auf internationale Abkommen, auf die europäische Ordnung.

Sie sind Theologin. Was sollten die Kirchen in diesem Konflikt tun?

Karfut: Ich wünsche mir, dass die religiösen Oberhäupter sich klar gegen Krieg äussern. Es muss klar gesagt werden, dass Wladimir Putin der Aggressor ist und dass die Ukraine angegriffen wurde. Die Kirche in Russland lebt in einer Symbiose mit dem Staat. Ich glaube, dass sie nichts anderes kann als das zu sagen, was Putin hören möchte. Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill, schweigt zu der ganzen Situation. Dabei ist es gerade die Aufgabe der Kirche sich für Frieden auszusprechen.

Immerhin hat der Metropolit der ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats klare Worte gefunden. Er sagte, dass Russland die Ukraine militärisch angegriffen hat und rief Putin dazu auf, diesen Krieg zu stoppen.

Tete-à-tete: Der russische Staatspräsident Wladimir Putin und der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I.
Tete-à-tete: Der russische Staatspräsident Wladimir Putin und der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I.

Was braucht es jetzt?

Karfut: Die europäischen Länder dürfen die Ukraine jetzt auf keinen Fall allein lassen. Ich wünsche mir, dass es überall Proteste gibt, die Menschen mit ukrainischen Flaggen und «Stopp Krieg»-Schildern auf die Strasse gehen. Es braucht aber auch humanitäre Unterstützung und Gebete.

«Europa darf nicht einfach nur zusehen.»

Wie geht es nun weiter?

Karfut: Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wird Putin mit drastischen Sanktionen gestoppt oder aber Putin nimmt die Ukraine ein. Danach wird er versuchen auch andere osteuropäische Länder einzunehmen. Wenn er dann noch mehr will, gibt es einen Dritten Weltkrieg. Ich hoffe, dass die Politikerinnen und Politiker dieser Welt verstehen, dass wenn sie diese Katastrophe nicht stoppen, sie noch viel grösser wird. Europa darf nicht einfach nur zusehen – sondern muss entschieden handeln.

* Die Theologin Nataliya Karfut (40) stammt aus der Ukraine und hat in Freiburg i.Ü. das Lizenziat erworben. Sie ist mit Mario Galgano verheiratet, dem ehemaligen Sprecher der Schweizer Bischofskonferenz. Die beiden leben in Rom.


Nataliya Karfut ist ukrainische Theologin. | © zVg
24. Februar 2022 | 17:24
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