Regisseur Thomas Roth stellte seinen Film in Zürich persönlich vor.
Schweiz

Thomas Roth: «Eine nationale Gedenkstätte in der Schweiz ist zu begrüssen»

Am jüdischen Filmfestival «Yesh!» läuft der Spielfilm «Schächten» des Österreichers Thomas Roth. Er zeigt, wie Österreich sich der Nazi-Zeit-Aufarbeitung verweigert hat. Auch die katholische Kirche habe sich eher angepasst, statt in die Opposition zu gehen, sagt Roth. «Die Schweiz war in erster Linie ein Devisenumschlagplatz für die Nazis, was sicher auch mehr als fragwürdig ist.»

Sarah Stutte

Was war für Sie die Inspiration zur Story?

Thomas Roth*: Vor einigen Jahren habe ich das Buch des jüdischen Schriftstellers und Holocaust-Überlebenden Simon Wiesenthal, «Recht, nicht Rache», in die Hand bekommen. Dort berichtet Wiesenthal von vielen Prozessen gegen Verbrecher des Nazi-Regimes in Österreich in den Jahren 1955 bis 1975. Hierzulande war demnach die Anzahl der Prozesse hoch, diejenige der Verurteilungen im Vergleich dazu aber erschreckend niedrig.

«Viele Nazi-Schergen kamen ungeschoren davon.»

Nach 1955 sowieso, denn da wurde die Gesetzgebung gerändert, die Volksgerichte aufgehoben, Amnestien gewährt und der österreichische Weg der «Toleranz» eingeschlagen. Das bedeutete: Viele ehemalige Nazi-Schergen kamen ungeschoren davon, weil es ohne sie für den Wiederaufbau an Facharbeitern und Akademikern mangelte, die das System aber dringend benötigte.

Wie kamen Sie auf die Figur des Kurt Gogl?

Roth: Im Buch von Simon Wiesenthal bin ich auf den Fall des in Österreich vor Gericht gestellten Kriegsverbrechers Johann Vinzenz Gogl gestossen. In dessen erstem Prozess in Linz wurde er extrem von den dortigen Zeugen belastet, weil aber die Jury und das Publikum völlig voreingenommen waren, wurde Gogl dennoch freigesprochen.

Im Gerichtssaal beim Prozess gegen Gogl: Filmstill aus "Schächten".
Im Gerichtssaal beim Prozess gegen Gogl: Filmstill aus "Schächten".

Aufgrund eines Formalfehlers musste der Prozess aber in Wien wiederholt werden. Doch die Zeugen, die in Linz noch gegen Gogl ausgesagt hatten, sind in Wien nicht mehr erschienen. Weil sie nämlich genau so behandelt wurden, wie ich es in meinem Film zeige. Den Gerichtsprozess habe ich zu einem grossen Teil aus dem Originaltranskript der Verhandlung in Linz übernommen.

Gibt es in «Schächten» noch mehr realen Hintergrund?

Roth: Ja. Die Figur Simon Wiesenthal ist so etwas wie die moralische Instanz in meinem Film. Da ich ein «Kind» des Kalten Kriegs bin, fühle ich mich dem Wunsch nach Frieden und der Philosophie der Waffenniederlegung verpflichtet und näher als den Rachegedanken von Victor Dessauer, obwohl ich sie nachvollziehen kann.

Dessauer im Gespräch mit einem Freund: Filmstill aus "Schächten".
Dessauer im Gespräch mit einem Freund: Filmstill aus "Schächten".

Zudem ist die Geschichte von Victors Familie angelehnt an diejenige des Münchner Produzenten Michel Wagner. Er rief mich eines Tages an, als ich mich schon mit dem Fall Gogl beschäftigte und erzählte mir von seinem Grossvater, der vor den Nazis aus Wien nach Paris geflohen ist und dort in den Widerstand ging.

«Zwei reale Fakten und eine fiktionale Rachestory.»

Anfang der 60er-Jahre kehrte er aber wieder nach Österreich zurück und erstritt sich sein von den Nazis arisiertes Textilunternehmen in einem dreijährigen Prozess zurück. Mit dieser Geschichte und dem Fall Gogl hatte ich zwei reale Fakten, auf denen ich mein Drehbuch aufbauen konnte. Bei der Arbeit daran entstand die Rachestory, die also fiktional ist.

Was hat Sie persönlich an diesem Film gepackt?

Roth: Zum einen, den Blick auf diese Zeit, die 60er-Jahre in Österreich zu werfen und wie man da mit dem Thema Nationalsozialismus umgegangen ist. Für mich war das als Kind etwas, worüber kaum gesprochen wurde. Selbst im Unterricht in der Schule nicht.

Szene aus dem Film «Schächten»
Szene aus dem Film «Schächten»

Aus dieser Atmosphäre des Schweigens heraus hat mich schon lange die Frage interessiert, wie jemand, der für den systemgesteuerten Tod unzähliger Menschen verantwortlich ist, danach ganz normal etwa auf einem Bauernhof in der Steiermark weiterleben konnte.

«Was hätte jeder Einzelne selbst gemacht?»

Spannend fand ich andererseits die Vorstellung, wie jemand, der durch die Willkür eines Regimes im KZ seine gesamte Familie verliert, seine ganze Identität und seine Herkunft, es dann schafft, den Täter dieses fürchterlichen Verbrechens vor Gericht zu bringen und dieser Mörder kommt dann frei.

Ich wollte das Publikum dazu anregen, sich in die Lage von Victor Dessauer zu versetzen und sich zu fragen, was jeder Einzelne von ihnen in dieser Situation selbst gemacht hätte.

Der Täter Gogl wird im Film nicht durchweg als Monster dargestellt. Er lässt Victor in direkten Konfrontationen einige Male ziehen.

Roth: Der Horror ist ja, dass diese Verbrecher keine Monster waren, sondern Menschen. Und das Schlimme ist weiter, dass wir anhand ihrer Taten immer vermuten, dass sie Maschinen und Monster gewesen sein müssen, aber in Wahrheit waren es zum Beispiel die Nachbarn, die man in Uniformen gesteckt hat und die plötzlich gedacht haben, sie sind jetzt dadurch jemand. Die Figur Gogl sagt das ja auch in einer Szene meines Films, dass er erst durch dieses Regime einen Charakter und eine Persönlichkeit bekommen hat. Plötzlich war er «Jemand».

Dessauer in der Klemme: Filmstill aus "Schächten".
Dessauer in der Klemme: Filmstill aus "Schächten".

Was passierte mit ihm im realen Leben?

Roth: Er war Uhrmacher im Salzkammergut. Irgendwann ist er eines natürlichen Todes gestorben. Ungestraft und ungesühnt.

Gab es wirklich grosse Unterschiede im Umgang mit den Tätern in Österreich im Vergleich zu Deutschland? In der ehemaligen DDR wurden doch auch viele Täter einfach in hohe Stasi-Ämter überführt.

Roth: Das stimmt. Das ist in Österreich und in Deutschland so gelaufen. Weil man diese Täter hier wie dort, wie gesagt, für den Wiederaufbau eines funktionierenden Staates benötigte, versuchte man sie wieder zu integrieren.

«Die katholische Kirche versuchte es eher mit Anpassung als mit Opposition.»

In der DDR wurden Ex-Nazis als Parteigenossen und damit Wähler in der SED gerne aufgenommen und dann häufig auch bei der Stasi engagiert. Viele Täter haben sich aber auch dem Zugriff entzogen, weil sie geflohen und untergetaucht sind.

Über die sogenannte Rattenlinie gelangten Tausende NS-Verbrecher auch mit Hilfe des Vatikans nach Lateinamerika.

Roth: Ja, ich glaube, Johannes Paul II. wollte das, trotz medialer Aufmerksamkeit, nicht weiter verfolgen lassen. Die katholische Kirche versuchte es in dieser Zeit auch eher mit Anpassung als mit Opposition. Um es höflich zu formulieren.

Papst Johannes Paul II. im Jahr 1979.
Papst Johannes Paul II. im Jahr 1979.

Waren die Gerichtsprozesse eigentlich von Anfang an für die Kläger chancenlos?

Roth: Ich weiss nicht. Vielleicht nicht für alle. Nach 1955, als der Gesetzesrahmen in Österreich, wie erwähnt, gelockert wurde, vermutlich schon. Doch trotzdem hing es wohl auch noch davon ab, welcher Art und wie schwer das Verbrechen, wie überzeugend die Zeugenaussagen, wer der jeweilige Richter und wie der politische Hintergrund des Angeklagten war. Doch unter den Voraussetzungen, wie ich sie in meinem Film zeige, hatte es ein jüdischer Kläger vermutlich schon sehr schwer.

«Der Film wurde in nur 25 Tagen gedreht.»

Der Film scheint sehr detailgetreu die 60er-Jahre wieder aufleben zu lassen. Wie aufwendig war die Vorbereitung der Settings?

Roth: Das war sehr schwierig. Der Film ist während der Pandemie entstanden. Wir hatten einen deutschen Co-Produzenten, der aus wirtschaftlichen Gründen wieder aus dem Projekt aussteigen musste. Wir standen also vor der Wahl, diesen Film für 2,6 Millionen Euro zu realisieren oder nicht.

Gedenkstein für Margot und Anne Frank auf dem Gelände der Gedenkstätte Bergen-Belsen am 4. November 2022 in Lohheide.
Gedenkstein für Margot und Anne Frank auf dem Gelände der Gedenkstätte Bergen-Belsen am 4. November 2022 in Lohheide.

Schlussendlich haben wir ihn in 25 Tagen gedreht. Das ist extrem wenig für so einen grossen, aufwendigen, historischen Film. Wir haben gewusst, dass wir alle Kraft in die Vorbereitungen stecken müssen und haben mit einem grossen Team an Ausstattern, Kostüm – und Maskenbildnern sehr akribisch alles ganz genau geplant. In «Schächten» steckt also wirklich sehr viel Herzblut und Seele.

Was sagt die Thematik des Filmes über die heutige Zeit? Mit der Pandemie wurde das jüdische Feindbild ja wieder heraufbeschworen.

Roth: Der Film behandelt viele Themen, die aktuell und universell relevant sind: Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Homophobie, Antisemitismus, den Krieg in der Ukraine, den Stellenwert der Frau in der Gesellschaft. Daran wird leider ersichtlich, dass wir aus der Geschichte offenbar nicht soviel gelernt haben, wie wir hätten lernen sollen.

«Politische Systeme können in Katastrophen führen.»

Der Rechtspopulismus und die rechtsextreme Politik schweben momentan in ganz Europa über uns. Filme wie «Schächten» dienen deshalb nicht nur dazu, schonungslos die Vergangenheit zu beleuchten, sondern auch, und das hoffentlich vor allem für jüngere Zuschauerinnen und Zuschauer, zum Nachdenken anzuregen und aufzuzeigen, in welche Katastrophen politische Systeme führen können.

Schuhe von KZ-Häftlingen in Auschwitz. © KNA
Schuhe von KZ-Häftlingen in Auschwitz. © KNA

Wie schätzen Sie die Rolle der Schweiz in Sachen Aufarbeitung ein?

Roth: Als Österreicher und EU-Bürger weiss ich davon und darüber nicht wirklich viel. Ich glaube, die Schweiz war in erster Linie ein Devisenumschlagplatz für die Nazis, was sicher auch mehr als fragwürdig ist. Auf der anderen Seite gab es viele jüdische Immigranten, die in die Schweiz flüchteten und von hier aus auswandern konnten.

«Die jüdische Gemeinschaft scheint hier sehr lebendig zu sein.»

Ich weiss nicht, wieviel hier inzwischen passiert ist an Vergangenheitsbewältigung, aber ich hoffe, dass sie auch in der Schweiz stattfindet. Die jüdische Gemeinschaft scheint hier aber sehr lebendig zu sein. Und das ist erfreulich und schön zu sehen.

Gerade wird hier über eine nationale Gedenkstätte für Nazi-Opfer verhandelt. Kommt diese nicht reichlich spät?

Roth: Als EU-Bürger höre ich auch davon leider erst jetzt von Ihnen zum ersten Mal. In Österreich hat die Aufarbeitung auch erst sehr spät begonnen. In Deutschland war da, glaube ich, offener und konsequenter im Umgang mit dieser belastenden Vergangenheit. Wenn in der Schweiz eine Gedenkstätte entstehen soll, ist das nur zu begrüssen.

Thomas Roth* (58) ist ein österreichischer Regisseur und Drehbuchautor. Sein Film «Falco – Verdammt, wir leben noch», zählt zu den bestbesuchten österreichischen Kinofilmen der letzten 20 Jahre. In Zürich stellte er am Yesh! – dem jüdischen Filmfestival – seinen neuen Film «Schächten» persönlich vor. Dieser wird am Mittwoch, den 7. Juni um 12 Uhr nochmals im Kino Houdini gezeigt.


Regisseur Thomas Roth stellte seinen Film in Zürich persönlich vor. | © Madlaina Lippuner
5. Juni 2023 | 15:23
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