"Origen"-Intendant Giovanni Netzer
Schweiz

Theologe und Theatermann: Giovanni Netzer dient als Priester im Musentempel

Ohne Giovanni Netzer gäbe es das Festival «Origen» nicht: das Kulturfestival am Fusse des Julier-Passes. Die Theologie-Professorin Hildegard Scherrer ist ebenso «Origen»-Fan wie der Bündner Regierungspräsident Mario Cavigelli. An der Theologischen Hochschule Chur hat es Netzer nicht lange ausgehalten.

Mayka Frepp

Giovanni Netzer plant den höchsten Turm, der je in einem 3D-Verfahren von Robotern gedruckt wurde. Er verschob eine Villa aus dem 19. Jahrhundert in Mulegns GR um ein paar Meter. Er baute den roten Kulturturm auf dem Julierpass. Der 53-Jährige organisiert längst nicht mehr nur Theateraufführungen.

Kulturelle Oase

Der fein gekleidete Netzer ging bei einem Treffen mit der Schreiberin dieser Zeilen bedacht durch das Bündner Bergdorf Riom. Es fiel auf: An zahlreichen Gebäuden hängt ein goldenes Schild mit einer schwarzen Burg. Es ist das Logo seiner Stiftung Origen. Sie hüllt die Region an der Julierpassstrasse in einen kulturellen Schutzschirm.

Der Turm  des "Origen"-Festivals am Julierpass.
Der Turm des "Origen"-Festivals am Julierpass.

Bereits zehn Gebäude rettete die Stiftung vor dem Zerfall. In einigen werden Gäste beherbergt und verköstigt. In anderen werden Theaterstücke und Konzerte aufgeführt. Weitere fünf Gebäude unterhält Origen im Baurecht. So auch die im Logo enthaltene Burg Riom.

Kurzes Intermezzo an der Theologischen Hochschule in Chur

«Aus meinem Kinderzimmer in Savognin hatte ich beste Aussicht auf die Burg Riom. Ich träumte davon, hineinzugehen. Als es dann soweit war, war ich enttäuscht. Sie war einfach leer», erzählte Netzer mit sanfter Stimme.

Das Priesterseminar des Bistums Chur, Sankt Luzi, am 20. Juli 2021 in Chur.
Das Priesterseminar des Bistums Chur, Sankt Luzi, am 20. Juli 2021 in Chur.

Der junge Giovanni Netzer wollte Priester werden. In Chur hielt er es nicht lange aus. Stattdessen ging er nach München, studierte Theologie und im Anschluss Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte. Es folgte eine Promotion. Als Heimwehbündner kehrte er nach Savognin zurück und organisierte Freilufttheater. Dann aber brauchte er eine trockene Bühne. Die Burg. Sie war das erste Gebäude der Stiftung.

Fliesst Geld, werden Gegenstimmen laut

Finanziert würden die Gebäude und deren Sanierungen mit Kosten in Millionenhöhe aus Spenden und Beiträgen der öffentlichen Hand, etwa von der Denkmalpflege, erklärte der Origen-Intendant.

Rorate-Premiere auf dem Julierpass
Rorate-Premiere auf dem Julierpass

Netzer bekomme alles was er wolle, während andere nicht unterstützt würden, hiesse es ab und zu in der Gemeinde, sagte der Kulturvorsteher der Region, Giancarlo Torriani auf Anfrage.

«Netzer ist für die Bündner Seele bedeutend»

In einer SRF-Sendung von Anfang Jahr meinte etwa eine Einwohnerin: «Für solchen Egoismus ist in diesen kleinen Dörfern kein Platz.» Mehrheitlich würde die Bevölkerung sein Tun jedoch schätzen, sagte Torriani. «Er bringt Leben in die Dörfer. Wir sind froh, dass wir ihn haben. Netzer hat die Fähigkeit, Dinge zu tun, statt nur davon zu sprechen.»

Eine Benediktinerin des Klosters Müstair begrüsst Bundespräsident Guy Parmelin (Mitte) und den Bündner Regierungspräsident Mario Cavigelli.
Eine Benediktinerin des Klosters Müstair begrüsst Bundespräsident Guy Parmelin (Mitte) und den Bündner Regierungspräsident Mario Cavigelli.

«Netzer ist für die Bündner Seele bedeutend», findet Regierungspräsident Mario Cavigelli. «Sein kulturelles Gesamtkunstwerk setzt für eine ganze Region wirtschaftliche und gesellschaftliche Werte. Die Kantonsregierung ist von ihm überzeugt.»

Aus kulturellem Erbe Neues entstehen lassen

Netzers Gebäude spielen mit der Umgebung: Der Lichteinfall, Vögel, die durch Spalten und Ritzen den Weg ins Innere finden, Luft die zirkuliert, Geruch, Hitze und Kälte. «Theater soll mit der Umgebung verschmelzen», erklärte Netzer.

Rorate-Premiere auf dem Julierpass
Rorate-Premiere auf dem Julierpass

In den grossen Theatern dieser Welt würden das Publikum und letztlich auch die Künstlerinnen und Künstler von der Aussenwelt abgeriegelt. «Hier nicht. Hier dringt die Natur in die Gebäude. Natürliches Licht flutet die Bühnen. Die Darsteller agieren in unmittelbarer Nähe zum Publikum. «Hier sehen sie den Tänzer schwitzen», lacht Netzer.

Hebräisch und Latein

Die Verschmelzung mit der Aussenwelt sei letztlich auch ein Grund, weshalb Origen in Graubünden zuhause sei. «Auf dem Land werden die Natur und ihre gewaltige Kraft erlebbar», gestikulierte Netzer. Weiter fessle ihn hier die Historie. Als Theologe habe er Hebräisch und Latein gelernt und dies öffne ihm Tore zu Vergangenem. Darauf versucht er Neues zu schaffen und Erbe zu wahren.

Das Priesterseminar St. Luzi und die Theologische Hochschule Chur.
Das Priesterseminar St. Luzi und die Theologische Hochschule Chur.

Theologie, Theater und Kunst hätten für ihn immer zusammengehört. Als Kind ministrierte er. Sein Vater dirigierte den Kirchenchor in Savognin. Eine Offenbarung in einem historischen Gebäude. «Kunst muss offenbaren. Kunst muss immer wahr sein. Das ist meine Meinung», sagt Netzer bestimmt. «Und dabei stellen wir uns doch die gleichen Fragen wie vor 2000 Jahren.» So überrascht es auch nicht, dass der rätoromanische Begriff Origen Ursprung bedeutet. In dessen lateinischem Wortstamm ist die Schöpfung enthalten.

Wie machte es der Zuckerbäcker?

Sich in die Zeit zurückversetzen, sie verstehen und daraus zu schaffen. Dies scheint Netzer anzutreiben. So wagt er sich auch an ein noch nie dagewesenes Bauwerk im einstigen Zuckerbäckerdorf Mulegns. «Die Zuckerbäcker wirkten alle in der Belle Époque. Eine Zeit, in der man sehr fantasievoll, manchmal extravagant gebaut hat. Dabei hat man immer neuste Technologien genutzt», erklärte Netzer.

Theaterturm auf dem Julierpass
Theaterturm auf dem Julierpass

Deshalb plant er dort einen Zuckerbäckerturm – einen 29 Meter hohen Bau, gedruckt mit weissem Beton. Er bietet während fünf Jahren Platz für Kunstinstallationen, Hörspieltouren und Theateraufführungen. Für die Projekt-Präsentation reiste gar der Bundespräsident Guy Parmelin nach Graubünden.

Das Theater als Kraftort

«Wir haben ihn einfach gefragt, ob er kommt», lächelte Netzer, dessen unternehmerisches Tun der ganzen Region und deren Wirtschaft zugutekommt. Letztlich ist es dann aber das Theater, das ihm Kraft gibt. «Sehe ich mir ein Stück an, weiss ich, weshalb ich das alles mache», schwärmte Netzer. (Keystone-SDA)


«Origen»-Intendant Giovanni Netzer | © Keystone
3. August 2021 | 18:10
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