Tania Oldenhage
Schweiz

Tania Oldenhage: Ich wünschte, Dorothee Sölle wäre noch am Leben

«Nie wieder Krieg», »Frieden schaffen ohne Waffen», «Schwerter zu Pflugscharen»: Solche Sätze wirken auf Pfarrerin Tania Oldenhage plötzlich wie leere Floskeln. Der Prophet Elia oder die Prophetin Dorothee Sölle helfen ihr, trotz allem neue Hoffnung schöpfen.

Tania Oldenhage*

Seit einigen Wochen gehen mir Worte der evangelischen Theologin Dorothee Sölle durch den Kopf. Es sind Worte über die Hoffnung in katastrophalen Zeiten: Wir dürfen nicht aufhören, daran zu glauben, dass es gut ausgeht mit unserer Welt. Wir dürfen nicht aufhören, für die Welt zu hoffen. 

Dorothee Sölle – eine prophetische Stimme

Wir sind es uns und unseren Nachkommen schuldig, nicht zu resignieren und niemals dürfen wir einfach nur zusehen, wie die Dinge ihrem Unglück entgegentreiben. 

Dorothee Sölle
Dorothee Sölle

Dorothee Sölle wurde nach ihrem Tod oft als Prophetin bezeichnet. Ihre Stimme ist für mich heute noch eine prophetische Stimme. Damit meine ich nicht, dass Sölle in die Zukunft schauen konnte, sondern dass sich Sölle – ähnlich wie die Propheten und Prophetinnen der Bibel – leidenschaftlich und unbeirrbar für Gottes gute Schöpfung einsetzte. Eine Prophetin zu sein, das bedeutet, trotz aller schlechten Nachrichten daran zu glauben, dass es gut ausgeht mit unserer Welt und dass es sich lohnt, dafür zu kämpfen.

«Schwerter zu Pflugscharen»

Sölles prophetische Stimme – ich begegnete ihr zum ersten Mal in den 1980er-Jahren. Das war die Zeit der Friedensbewegung, der Ostermärsche und der politischen Nachtgebete. Ich war damals noch eine Schülerin, aber ich erinnere mich noch gut an die Mischung von Zorn und Energie, von Gesellschaftskritik und Hoffnung auf eine bessere Welt.

Schwester Monika Hüppi mit der Fahne des Forum für Friedenskultur Ilanz beim Ostermarsch in Bregenz.
Schwester Monika Hüppi mit der Fahne des Forum für Friedenskultur Ilanz beim Ostermarsch in Bregenz.

Ich erinnere mich, dass meine Eltern damals bunte Aufkleber auf unser Auto klebten. Auf denen standen Sätze wie «Atomkraft – nein danke» oder »Schwerter zu Pflugscharen». Ich erinnere mich an Demonstrationen und an die Botschaften auf den Transparenten.

Wäre Dorothee Sölle noch am Leben…

«Nie wieder Krieg.» «Frieden schaffen ohne Waffen.» Mit diesen Sätzen bin ich aufgewachsen. An diese Sätze habe ich geglaubt. Mit diesen Sätzen ringe ich nun. Ich wünschte, Dorothee Sölle wäre noch am Leben und könnte mir sagen, was ich denken soll.

Können Prophetinnen scheitern? In der Bibel, ja, da scheitern sie immer mal wieder. Elia zum Beispiel ist ein Prophet, der scheitert. Wie kein anderer hatte sich Elia eingesetzt für das, was er als richtig ansah, leidenschaftlich, unbeirrbar und mit bewundernswerter Kraft. Aber plötzlich ist die Kraft zu Ende. Elias Leben ist bedroht auf eine Weise, die ihm allen Wind aus den Segeln nimmt. So massiv, so überwältigend ist die Lebensgefahr, dass Elia jede Hoffnung verliert. Er zieht sich aus allen menschlichen Zusammenhängen zurück, er geht in die Wüste, er setzt sich unter einen Ginsterstrauch und will sterben. 

«Ich bin nicht besser als meine Vorfahren»

«Es ist genug, Gott, nimm nun mein Leben, denn ich bin nicht besser als meine Vorfahren», sagt Elia zu seinem Gott. 

Die Geschichte von Elia unter dem Ginsterstrauch wird in unserer Zeit oft als Geschichte über ein Burn-out gelesen. Für mich, heute, bringt die Geschichte einen Zustand zum Ausdruck, der eine ganze Gesellschaft betreffen kann. «Wir sind nicht besser als unsere Vorfahren.» Das ist auch der erschrockene Satz einer Generation, die plötzlich erkennt, dass sie nicht genug aus der Vergangenheit gelernt hat, dass Fortschritt ein Trugschluss war, dass man von den Fehlern der Väter- und Müttergeneration rasant eingeholt werden kann. 

Wiederholt sich die Geschichte?

Elia – das sind alle unter uns, die unter den Eindrücken des Kriegs in der Ukraine nicht mehr glauben können, dass es wirklich gut ausgeht mit unserer Welt.

Elia – das sind alle, die einmal zu viel gesehen haben, dass sich die Geschichte wiederholt. Dass den Worten «nie wieder» nicht zu trauen ist.

Prophetische Stimmen verstummen

Auch wenn sie einmal gut klangen: Nie wieder Krieg. Frieden schaffen ohne Waffen. Solche Sätze wirken plötzlich wie leere Floskeln.

Elia – das sind alle, die plötzlich nicht mehr sicher sind: wie, mit welchen Schritten kann der Frieden wieder hergestellt werden.

Elia – das sind auch all diejenigen, deren prophetische Stimme verstummt ist, die tief verunsichert sind darüber, was heute richtig ist und was falsch.  

Elia klagt Gott sein Leid

Wobei: Elia weiss noch nicht, dass der Platz in der Wüste, der Platz unter dem Ginsterstrauch nicht das Ende der Geschichte ist. Könnte er sich selbst beobachten, dann würde er vielleicht ahnen, dass sich neben dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit noch etwas anderes in Bewegung setzt.

Elia legt sich unter den Ginsterstrauch und schläft ein. Ein Engel kommt, bringt ihm Brot und Wasser und Elia isst und trinkt. Elia ist verzweifelt, aber er schläft. Er will sterben, aber er lässt sich ernähren. Er versteht seinen Gott nicht mehr, aber er klagt ihm sein Leid.

Gegen die Ohnmacht ankämpfen

Du hörst Nachrichten und verlierst den Glauben, dass es noch einmal gut kommt mit uns Menschen, aber dann bringst du die Kinder zu Bett oder kümmerst dich um die Kranken. Diese Welt ist nicht mehr zu retten, denkst du dir, aber dann meldest du dich als Freiwillige beim Deutschkurs an oder verteilst Flyer für ein Benefizkonzert. 

Du fühlst dich ohnmächtig gegenüber dem Klimawandel, und dann fährst du mit dem Velo zum Laden und rettest Lebensmittel. Wir fürchten den Untergang der Menschheit, und dann essen wir und schlafen irgendwann ein.

Trotz allem aufstehen

Wer Nahrung zu sich nimmt, lebt weiter. Wer Grund hat zur Klage, bleibt offen für Veränderung. Wer schläft, der träumt auch und mit jedem Traum kommt ein neuer Gedanke, ein neues Gefühl in dein Herz und verändert dich unmerklich.  

Der Platz unter dem Ginsterstrauch ist ein Ort der Rekonvaleszenz, der Genesung. Unter dem Ginsterstrauch kommt der Prophet Elia wieder zu Kräften, und auch wenn er es zunächst nicht merkt, kommt etwas wieder, das er verloren hatte, etwas kommt wieder, vielleicht so, dass er es nicht gleich erkennen kann, nämlich die Hoffnung, dass es sich lohnt, trotz allem aufzustehen und noch einmal aufzubrechen.

Zeichen der Hoffnung

«Steh auf, iss, denn der Weg, der vor dir liegt, ist weit», sagt ihm der Engel.

Liebe Zuhörerin, liebe Zuhörer, wenn wir angesichts lebensbedrohender Ereignisse den Glauben an eine bessere Welt verlieren, dann ist das nicht nur aus psychologischer, sondern auch aus biblischer Sicht verständlich. Wenn wir angesichts nuklearer Bedrohung, Krieg und Klimawandel nicht mehr sicher sind, dass es gut kommt mit uns Menschen, wenn uns Sätze im Hals stecken bleiben, die uns früher getragen haben und die wir heute nicht mehr sagen können – nie wieder Krieg, Frieden schaffen ohne Waffen –, dann lässt uns Gott nicht allein, sondern sucht uns auf, gibt uns Nahrung, selbst wenn wir das nicht oder erst nach einer Weile spüren.

Suchen wir uns einen Ginsterstrauch

Der Engel kommt nicht nur einmal zu Besuch. Der Engel gibt Elia Zeit. Elia isst, er schläft noch einmal ein, er wird wieder wach, er isst und trinkt noch einmal, er isst und trinkt so oft wie er es braucht bis für ihn die Zeit gekommen ist, um aufzustehen und wieder aufzubrechen.

Tania Oldenhage
Tania Oldenhage

Ich wünsche uns, dass auch wir unter dem Ginsterstrauch sein können, solange es nötig ist. Bis wir wieder zu Kräften kommen, um das zu tun, von dem Dorothee Sölle vor einem Vierteljahrhundert sprach: gegen alle Hoffnung neue Hoffnung schöpfen.

* Tania Oldenhage ist evangelisch-reformierte Pfarrerin in Zürich.

Bibelstelle: 1. Könige 19,1-8

Die SRF-Radiopredigten sind eine Koproduktion des Katholischen Medienzentrums, der Reformierten Medien und SRF2 Kultur.

Zu den SRF-Radiopredigten geht es hier.

Das Archiv der Radiopredigten und weitere Informationen über die Radiopredigten finden Sie hier.


Tania Oldenhage | © Sibylle Hardegger
15. Mai 2022 | 09:54
Lesezeit: ca. 5 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!