Matthias Wenk, römisch-katholischer Theologe
Schweiz

Matthias Wenk: Was den Menschen zum Menschen macht

Mitten im pulsierenden Leben der Stadt stellt sich SRF-Radioprediger Matthias Wenk der Frage nach dem Menschsein. Er kommt zum Schluss, «dass mir in jedem Menschen Gott, Göttliches begegnet». Er findet: «Diese Erkenntnis hilft mir immer wieder, mich zu orientieren.»

Matthias Wenk*

Ein sonniger Nachmittag im Frühling. Es ist warm genug, dass ich in der Wiese sitze. Die Löwenzähne und Gänseblümchen in der Bäckeranlage strecken ihre Köpfe der Sonne entgegen. Liebe Hörerin, lieber Hörer, wenn ich Zürich besuche, bin ich unglaublich gerne im Park dieses beliebten Quartierzentrums im Kreis 4! Warum? Nicht nur wegen der Löwenzähne und Gänseblümchen – die gibt es bei mir zuhause in St. Gallen auch. Hier in der Bäckeranlage pulsiert das Leben. So einige andere Menschen haben die gleiche Idee wie ich und sitzen unmittelbar neben mir auf dem Rasen, um den warmen Frühlingstag zu geniessen. Ich schaue mich um: so viele unterschiedliche Menschen.

Einzigartigkeit der Menschen

Kein Mensch ist wie der andere. Verschiedenste Lebensstile und -formen. Blonde, graue, braune, schwarze, rote oder gar keine Haare auf dem Kopf. Tätowiert und untätowiert. Familien, Einzelpersonen, alt, jung. Dazwischen feiert eine Hindufamilie das Dreimonatsfest ihres Kindes. Überhaupt: Menschen zahlreicher Vorlieben, Interessen, Nationalitäten, Religionen und Weltanschauungen treffen hier aufeinander. Spannend! Nicht immer reibungslos, aber so ist es nun mal unter uns Menschen.

Vielfalt der Menschen
Vielfalt der Menschen

Umfrage übers Menschsein

Jeder Mensch hier ist anders – aber jede hier ist Mensch. Was verbindet uns Menschen? Was macht einen Menschen zum Menschen? Das habe ich in den letzten Wochen Freundinnen, Freunde und Bekannte von mir gefragt und inspirierende Rückmeldungen erhalten, die sie mir als Sprachnachricht auf das Handy geschickt haben.

Menschenkinder

«Ein Mensch ist einfach ein Mensch, wenn er als Mensch gezeugt und geboren wird.» Ja, das verbindet uns alle: wir sind Kinder von Menschen – Menschen-Kinder – mit jeder Generation neu und in der heutigen Form seit rund 300›000 Jahren.

Menschenkinder spielen

Und als Menschen-Kind haben wir uns eine wesentliche Eigenschaft bewahrt: «Der Mensch kann spielen. Im Spiel vergisst er sich selbst und seine Sorgen.» Wie schön wäre es, diese menschliche Eigenschaft noch weiter auszubauen und zu bewahren!

Matthias Wenk, römisch-katholischer Radioprediger.
Matthias Wenk, römisch-katholischer Radioprediger.

Menschenkinder streben

Doch gibt es einen anderen Charakterzug von uns Menschen, der uns vielleicht noch ursprünglicher antreibt als das Spiel: «Das Streben danach, gesehen zu werden, das Streben nach Einflussnahme und Macht: Das macht uns Menschen aus.»

Menschenkinder reflektieren

Wir Menschen streben also nach Macht. Und dennoch verfügen wir über eine Eigenschaft, die diese grundlegenden Bedürfnisse steuert: «Der Mensch ist darum ein Mensch, weil er sich selbst reflektieren kann. Er ist nicht schutzlos seinen Trieben und seinem Verhalten ausgeliefert; er kann alles hinterfragen und kann – mit viel Willen – sich auch ändern.» Ja, die Fähigkeit, sich zu reflektieren, und sich und das eigene Verhalten dann daraufhin anzupassen, ist uns Menschen zu eigen. Dies hat ganz wesentlich mit dem Bewusstsein zu tun. Auch das ergibt meine kleine Umfrage übers Menschsein in meinem Freundeskreis.

Menschliches Bewusstsein hat Folgen

«Und weil ich dieses Bewusstsein habe und dazu noch ein reiches Wissen, so habe ich auch eine grosse Verantwortung gegenüber der Welt, in der ich lebe. Was ich tue und nicht tue, hat Folgen für die Erde, die Menschen, die Tiere, die Pflanzen, die Meere.» Das Bewusstsein von Menschen, dass das, was wir tun, Folgen für unsere Mitwelt hat, zeichnet uns Menschen aus.

Wie Menschen frei werden

Das heisst also, ich kann mich als Mensch ganz bewusst dafür entscheiden, wie ich mein Leben gestalten will: «Den Menschen macht aus, dass er bewusst wählen kann, wie er seine Gefühle und Gedanken leben will.» Das gelingt uns zwar manchmal besser und manchmal schlechter, aber dennoch gehört diese Fähigkeit zu uns Menschen dazu. Das Bewusstsein und die Begabung der Reflexion sind entscheidende Bestandteile, wenn wir davon sprechen, dass wir Menschen «frei» sind. Unsere Freiheit ist also rückgebunden an überlegte, abgewogene und bewusst getroffene Entscheidungen – oder das sollte sie zumindest sein.

Die Schöpfung - hier in der Kapelle des Uni-Spitals Zürich.
Die Schöpfung - hier in der Kapelle des Uni-Spitals Zürich.

Die biblischen Schöpfungsberichte

Wenn ich die Äusserungen von meinen Freund*innen und Bekannten, die wir bisher gehört haben, so auf mich wirken lasse, dann kommt mir eine der ältesten Aussagen in den Sinn, die Menschen über ihre eigene Art schriftlich festgehalten haben. Im 1. Buch Mose, der Genesis, lesen wir im ersten, dem jüngeren Schöpfungsbericht: Da sprach Gott: «Wir wollen Menschen machen – als unser Bild, etwa in unserer Gestalt. […] Da schuf Gott Adam, die Menschen, als göttliches Bild, als Bild Gottes wurden sie geschaffen, männlich und weiblich hat Gott sie geschaffen.»

Und der zweite, zeitgeschichtlich sehr wahrscheinlich ältere Schöpfungsbericht veranschaulicht dies so: «Da bildete Adonaj, also Gott, Adam, das Menschenwesen, aus Erde vom Acker und blies in seine Nase Lebensatem. Da wurde der Mensch atmendes Leben. Dann legte Gott im Osten, in der Landschaft Eden, einen Garten an. […] Gott, Adonaj, brachte nun den Menschen, den er gemacht hatte, in den Garten Eden. Er übertrug ihm die Aufgabe, den Garten zu pflegen und zu schützen.»

Biblische Aussagen über den Menschen

Schon zu Beginn trifft die Bibel also vier wesentliche Aussagen über den Menschen: Der Mensch ist Geschöpf Gottes, wie alles andere auch; der Mensch ist Abbild Gottes; Gottes Lebensatem belebt den Menschen und der Mensch hat die Aufgabe, seine Lebenswelt zu pflegen und zu schützen. Ich finde, das sind wundervolle Aussagen über uns Menschen. Und ich glaube, diese Eigenschaften verbinden uns Menschen tatsächlich wesentlich!

Die Würde des Menschen

Daraus lässt sich eine grundsätzliche Haltung ableiten, die wir gegenüber allen Menschen einnehmen können. Auch das wurde mir aus meinem Bekanntenkreis auf meine Befragung hin, was den Menschen ausmache, zurückgemeldet: «Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch eine unauslöschbare Würde hat. Und wenn man davon überzeugt ist, dann, glaube ich, drängt diese Würde zur Gleichbehandlung aller Menschen.»

Der Mensch ein Abbild Gottes

Ja, jeder Mensch hat eine Würde, die ihr und ihm niemand nehmen kann, eben weil jeder Mensch Abbild Gottes ist. Das ist eine ganz grundlegende Haltung, die uns die Bibel schon auf ihren ersten Seiten herausarbeitet. Deshalb ist sie auch für uns eine zentrale Glaubenshaltung, wenn wir uns an Gottes Wort ausrichten wollen. Gerade indem, wie wir leben und handeln, wie wir mit unserer Mitwelt, unseren Mitgeschöpfen und unseren Mitmenschen umgehen, spiegelt sich wider, ob wir den Menschen, den wir vor uns haben, als Abbild Gottes ansehen oder nicht.

Menschen - vielfältig und einzigartig
Menschen - vielfältig und einzigartig

Gott begegnet uns in den Menschen

«Menschlichkeit, Mitgefühl. Die Fähigkeit zu Freude, Traurigkeit, Hoffnung… Einen Traum im Herzen tragen zu können… das macht einen Menschen zum Menschen.» Wenn Gott uns in jedem Menschen begegnet, dann ist Gott auch die Verbindung zwischen allen Menschen. Dann wird also konkret, was Gott sich für uns wünscht: Miteinander und Gemeinschaft. Und dann kommen wir nicht darum herum, dass wir füreinander einstehen: «Was macht da den Menschen zum Menschen? Dass sich der Mensch für Menschen einsetzt, sprich Empathie und Solidarität, Einstehen für die Gerechtigkeit und Einschreiten bei Ungerechtigkeit, Einsatz für Frieden und Erhalt der Mitwelt.»

Menschen – Ebenbilder Gottes

Meine Gedanken bündeln sich wieder. Die Frühlingssonne wärmt noch immer mein Gesicht. Das Kind neben mir auf der Wiese weint. Ein Menschenkind – so wie ich auch, so wie die vielen verschiedenen Menschen hier in der Bäckeranlage in Zürichs Kreis 4. Was für mich den Menschen zum Menschen macht? Dass mir in jedem Menschen Gott, Göttliches begegnet. Diese Erkenntnis hilft mir immer wieder, mich zu orientieren und zu entscheiden – im Alltag oder eben auch bei Abstimmungen. Ich kann nicht den Menschen als Ebenbild Gottes sehen und gleichzeitig zulassen, dass Ebenbilder Gottes auf ihrer Flucht gewaltsam abgeschoben oder brutal zurückgewiesen werden. Ich kann nicht zulassen, dass die einen Ebenbilder Gottes sich in ihrem Wohlstand verschanzen und den anderen das Grundrecht auf Asyl immer mehr erschwert wird.

Das Menschenkind neben mir auf der Wiese weint nicht mehr. Es liegt in den Armen seines Vaters. Er tröstet es in einer Sprache, die ich nicht verstehe. Die beiden und ich: Menschenkinder – verbunden im Göttlichen. Welche Umstände sie wohl hierher in die Schweiz geführt haben? Egal. Es ist gut so, dass sie hier sind – denn sie sind Menschen!

*Matthias Wenk ist katholischer Theologe und arbeitet als Seelsorger in St. Gallen.

Bibelstellen:

1. Mose/Gen 1,26a.27

1. Mose/Gen 2,7-8

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Matthias Wenk, römisch-katholischer Theologe | © Manuela Matt
1. Mai 2022 | 05:10
Lesezeit: ca. 5 Min.
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