Benedikt XVI.
Schweiz

Sterbeforscherin Monika Renz: Der Mensch stirbt nicht an sich selbst vorbei – auch Benedikt XVI. nicht

Wie stirbt ein Papst? Reflektiert Benedikt XVI. beim Sterben sein Versagen im Missbrauchskomplex? Die Sterbeforscherin Monika Renz (61) sagt: «Vielleicht weiss etwas auch in Benedikt XVI., dass er Schuld auf sich trägt.» Sie findet: «Lassen wir es Benedikts Geheimnis sein, wann er sterben wird.»

Raphael Rauch

Der Vatikan teilt mit, die Situation von Benedikt XVI. sei ernst, aber stabil. Italienische Medien berichten, neben dem Atmungssystem seien auch andere Organe, einschliesslich des Herzens, betroffen. Liegt Benedikt im Sterben?

Monika Renz*: Das kann durchaus sein.

Die St. Galler Sterbeforscherin Monika Renz
Die St. Galler Sterbeforscherin Monika Renz

Wie läuft ein Sterbeprozess ab?

Monika Renz: Ganz genau wissen wir das nicht. Wir können uns der Antwort allerdings annähern, denn wir haben Erfahrungswerte. Sterben ist ein Prozess. Es gibt Menschen, die mehrmals nahe an den Tod herankommen – und dann wieder etwas weiter weggehen. Das ist wie bei einer Spirale. Man kommt mal näher, mal ist man wieder weiter weg.

«Je näher Menschen an dieses Geheimnis Tod herankommen, desto mehr scheinen sie von etwas ergriffen zu sein.»

Und wenn jemand tatsächlich stirbt?

Renz: Schon bevor jemand stirbt, ändert sich die Wahrnehmung. Menschen scheinen gleichsam über sich hinauszugehen. Zunächst geht es dabei radikal um unsere menschliche Begrenzung, um Schmerzen, um den Verlust von Mobilität, um Endlichkeit. Ich weiss nicht, welche konkreten Schmerzen Benedikt XVI. gerade erlebt. Es geht auch um schöne Abschiede. Je näher Menschen an dieses Geheimnis Tod herankommen, desto mehr scheinen sie von etwas ergriffen zu sein, was für uns unsichtbar ist. Ich gehe von drei Stadien aus.

Archivbild: Monika Renz und Thomas Staubli im Romerohaus Luzern, 30.11.2015.
Archivbild: Monika Renz und Thomas Staubli im Romerohaus Luzern, 30.11.2015.

Was sind das für drei Stadien?

Renz: Ich spreche vom «Davor», dem «Hindurch» und dem «Danach». Die Sterbenden überschreiten eine Bewusstseinsschwelle. Im Davor schauen sie an ihr Ende heran und sehen nicht darüber. Vieles wird verschmerzt. Im Hindurch überschreiten sie diese Bewusstseinsschwelle, da erleben viele zwischendurch Angst: ein Schaudern, Frieren, Schwitzen. Aber auch ein: Es findet statt.

«Schwerkraft spielt keine Rolle mehr.»

Im Danach, was als äusserster Zustand im Diesseits zu nehmen ist, sind sie tief friedlich, sehen vielleicht etwas, Raum und Zeit sind wie aufgehoben. Schwerkraft spielt keine Rolle mehr. Bei vielen Menschen beobachten wir, dass sie sich beim Sterben gleichsam an einem Gegenstand festhalten, weil sie das Gefühl haben, sie fallen runter. Tatsächlich ändert sich allerdings das Gefühl für die Schwerkraft. Auch die Wahrnehmung und das Gefühl vom eigenen Ich erscheinen verändert. Diese Phasen werden von vielen mehrfach durchlebt, vielleicht werden sie da oder dort übersprungen.

Und am Ende dieses Zustands kommt der finale, nicht rückgängig zu machende Tod?

Renz: Ja. Darüber kann ich nichts sagen, weil ich nur mit Sterbenden im Kontakt sein kann – nicht mit Toten.

Papst Benedikt XVI. verkündet seinen Rücktritt am 11. Februar 2013.
Papst Benedikt XVI. verkündet seinen Rücktritt am 11. Februar 2013.

Benedikt ist 2013 zurückgetreten, weil er sich bald sterben sah. Warum hat er sich getäuscht?

Renz: Jetzt sind wir wieder bei der Spirale. Es kann sein, dass er dem Tode nahe war – und die Umkreisungen sich wieder geöffnet haben. Es kann sein, dass er ohne die Bürde des Papstamtes wieder zu Kräften kam. Die letzten Jahre können seelisch eine wichtige Zeit der Reifung gewesen sein. Es kann sein, dass die medizinische Betreuung das Entscheidende war. Er wird ja bestens versorgt.

«Es macht den Anschein, dass Benedikt XVI. Macht immer noch zu wichtig war.»

Vielleicht wollte er aber auch nicht sterben, zumindest macht es den Anschein, dass ihm Macht immer noch zu wichtig war. Er verhielt sich auch als emeritierter Papst als mächtig. Und er schien den gegenwärtigen Papst in Einigem zu verhindern. Letztlich aber ist wichtig, dass wir Aussenstehende weder wissen müssen noch wissen dürfen, welches Gründe für ein längeres Leben gewesen sein mochten. 

Warum ist es wichtig, das nicht zu wissen?

Renz: Weil das zum Geheimnis jedes Menschen gehört. 

Archivbild: Benedikt XVI. im Rollstuhl.
Archivbild: Benedikt XVI. im Rollstuhl.

Dürfte Benedikt XVI. beim Sterben sein Leben bilanzieren?

Renz: Das kann sein. Es gibt Sterbende, bei denen man das richtig miterleben kann. Sie sehen gleichsam über sich hinaus: Was ist gelungen – und was ist nicht gelungen? In anderen geschieht alles still, und auch das darf sein. Jedes Sterben ist persönlich.

Kardinal Joseph Ratzinger 2002 in Lugano
Kardinal Joseph Ratzinger 2002 in Lugano

Könnte Benedikt XVI. beim Sterben an sein Versagen im Missbrauchskomplex denken?

Renz: Davon gehe ich aus. Wenn Menschen im Sterben – wie Sie sagen – «bilanzieren», dann heisst das für mich: hier ereignen sich Reue und Gericht einerseits und Barmherzigkeit und Gnade andererseits. Beides in einem. Gleichzeitig ist da ein Gefühl von «ungut», von irgendeiner Reinigung oder Läuterung einerseits und zugleich ein Verstehen, warum man etwa so und nicht anders gehandelt hat und damit Gnade. Vielleicht weiss etwas auch in Benedikt XVI., dass er Schuld auf sich trägt. Dennoch darf es nicht unsere Absicht sein, das zu ergründen.

«Gericht ist meist ein positiver Wert und steht für Wahrheit und Würdigung.»

Durchlaufen die Sterbenden eine Art jüngstes Gericht mit sich selbst?

Renz: Ja und Nein. Es gibt Sterbende, da dürfen wir so etwas miterahnen. Das löst dann tiefe Dankbarkeit und Herzensweite aus. Bei andern wiederum bleibt alles verborgen. Wenn sie mich aber nach dem Gericht fragen, so ist zweierlei wichtig: Erstens, weil ich Barmherzigkeit und Gnade erfahre, kann ich mich dem Gericht stellen. Und das zweite: Gericht ist meist ein positiver Wert und steht für Wahrheit und Würdigung. Viele Sterbende erleben zum Beispiel eine Art Krönung, sehen eine Krone vor sich oder einen Thron und verstehen das vorerst nicht. Wenn ich sie dann auf so etwas wie eine mögliche Würdigung anspreche, sind sie ergriffen. Andere erleben so etwas wie einen grossen Hut und erleben sich als behütet. 

Seelsorge am Sterbebett
Seelsorge am Sterbebett

Ist das Sterben schmerzhaft?

Renz: Es gibt zum einen seelische Schmerzen. Papst Benedikt vor Augen könnte ich mir dies vorstellen, denn ich glaube an die Leidensfähigkeit dieses Menschen. So kann ich mir nicht vorstellen, dass er an seinen Schattenseiten vorbei sterben wird. 

«Dank Palliativmedizin wird immer wieder Schmerzlinderung bis hin zur Schmerzfreiheit erreicht.»

Ist die Palliativmedizin mittlerweile so fortgeschritten, dass wir ohne physischen Schmerz sterben können?

Renz: Nein. Sterben bedeutet oft auch physisches Leiden, zum Beispiel eskalierende Schmerzen an irgendeiner Stelle, Atemnot, Stress. Dank Palliativmedizin wird immer wieder Schmerzlinderung bis hin zur Schmerzfreiheit erreicht. Doch dann entgleist wieder die körperliche Situation – und die Palliativmedizin muss erneut darauf reagieren und die Schmerzen sogenannt einstellen. 

Spiritual Care
Spiritual Care

Was wirkt schmerzlindernd – ausser Medikamenten? 

Renz: Wichtig sind schöne Erfahrungen beim Sterben: ein ergreifendes, stilles Beisammensein mit den Nächsten, eine Segensspendung und innere Visionen. Sterbende sagen etwa: «Ohhh, so schön – grün», «Licht – ein Sternennetz», «schräg hinüber», «der rauchende Thron», «ein Engel mit Hirtenstab ruft». Die Bilder sind vielfältig, die Atmosphäre aber stets von unbedingter Art. 

Der emeritierte Papst Benedikt XVI. (l.) begrüsst Papst Franziskus 2022, dahinter Erzbischof Georg Gänswein.
Der emeritierte Papst Benedikt XVI. (l.) begrüsst Papst Franziskus 2022, dahinter Erzbischof Georg Gänswein.

Stimmt es, dass manche Menschen erst sterben, wenn niemand am Krankenbett sitzt? Könnte es sein, dass Benedikt noch lebt, weil Georg Gänswein nicht von seiner Seite weicht?

Renz: Auch das ist sehr unterschiedlich. Die einen warten und sterben im Kreise der Familie, wenn alle im Raum sind. Andere sterben genau in den fünf Minuten, wo alle einen Kaffee trinken gehen. Vielleicht sterben sie allein, weil sie das Sterben niemandem antun wollen. Oder weil sie dann am ehesten gehen können. Lassen wir es Benedikts Geheimnis sein, wann er sterben wird.

«So spricht Gott. Ich vergesse dich nicht.»

Wenn Sie an Benedikts Sterbebett sässen: Welche Passage aus Ihrer «Krankenbibel» würden Sie ihm vorlesen?

Renz: Ich würde aus dem Buch Jesaja vorlesen – es geht um die Frage, ob eine Frau ihr Kind vergessen kann: «So spricht Gott. Ich vergesse dich nicht. In meine Hände bist du eingezeichnet.» Und ich würde die Stelle über den guten Hirten aus dem Johannes-Evangelium vorlesen: «Sie hören seine Stimme und sie folgen ihm, weil sie seine Stimme kennen.»

Katholikinnen und Katholiken auf der ganzen Welt beten für Benedikt XVI. Beten die Menschen für die eigene Psyche– oder hat der sterbende Benedikt XVI. auch etwas davon?

Renz: Ganz sicher weist ein Gebet über uns selbst hinaus.

* Monika Renz (61) ist promovierte Theologin und Psychologin sowie Musik- und Psychotherapeutin. Sie leitet seit 1998 die Psychoonkologie am Kantonsspital St. Gallen und zählt zu den Pionierinnen der Spiritual-Care-Bewegung. Sie ist Autorin des Bestsellers «Hinübergehen: Was beim Sterben geschieht». Zuletzt erschien von ihr die «Krankenbibel: Sich selbst und Gott finden» im Herder-Verlag. 


Benedikt XVI. | © Keystone
29. Dezember 2022 | 14:29
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