Darf sich aktuelle nicht äussern: der Kirchenstrafrechtler Stefan Loppacher
Schweiz

Stefan Loppacher: «Bis zu 15'000 Fälle»

Stefan Loppacher, Kirchenrechtler, Präventionsbeauftragter und Sprecher des Gremiums «Sexuelle Übergriffe» der SBK äussert sich gegenüber Medien. Die Räson gewisser Bischöfe sei «totaler Schwachsinn». Sex mit einer Frau sei lange als schlimmer bewertet worden als Missbrauch eines Buben. Er erwartet bis zu 15’000 Fälle sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Umfeld.

Annalena Müller

«Man wird für den Zeitraum der letzten gut 70 Jahre wohl von 10’000 bis 15’000 Fällen ausgehen müssen, die tatsächlich geschehen sind.» Das sagte Stefan Loppacher im Interview mit dem «Boten der Urschweiz». Gesichert sind in der Vorstudie bisher 1002 Missbrauchsfälle im Umfeld der katholischen Kirche. Dass die Zahl noch steigen wird, gilt allgemein als sicher. Eine genaue Prognose hat bisher noch niemand gewagt.

Loppacher kennt sich aus

Stefan Loppacher wagt nun als erster eine Zahl auszusprechen. Und Loppacher weiss, wovon er spricht. Er ist nicht nur Experte für Kirchenstrafrecht und Präventionsbeauftragter im Bistum Chur, sondern auch Geschäftsführer des Fachgremiums «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der Schweizer Bischofskonferenz.

Das Kirchenrecht regelt die Meldepflicht eindeutig: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen in Rom gemeldet werden.
Das Kirchenrecht regelt die Meldepflicht eindeutig: Missbrauchsfälle, die Minderjährige betreffen, müssen in Rom gemeldet werden.

Dass Missbrauch lange ungeahndet blieb, liegt laut Stefan Loppacher auch am kirchlichen Strafrecht. Dieses habe zu einer Vermischung von Moral und Recht geführt. Mit einer Frau zu schlafen, sei als schlimmer betrachtet worden als der sexuelle Missbrauch von Buben durch Priester, sagte er.

«Totaler Schwachsinn»

Die Räson gewisser Bischöfe und Priester sei «natürlich totaler Schwachsinn», sagte Loppacher im am Freitag publizierten Interview mit Tamedia. Der Kirchenrechtler leitet das Fachgremium «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» der Schweizer Bischofskonferenz. Zudem ist er Präventionsbeauftragter im Bistum Chur.

Schatten eines Mannes mit Kreuz.
Schatten eines Mannes mit Kreuz.

Sexuelle Handlungen mit Buben seien mit Homosexualität begründet und im kirchlichen Kontext als moralisch verwerflich eingeordnet worden. Als gravierender sei Sex zwischen Mann und Frau gewertet worden, sagte Loppacher. Das wäre ein «richtiger Zölibatsbruch». Loppacher habe entsprechende Akten gesichtet.

Selbstschutz über alles

Die Frau werde aus biblischen und kultischen Reinheitsvorstellungen heraus als weniger rein gesehen. Bis heute präge dies die Sexualmoral und das Frauenbild der Kirche. «Abstruse Moralvorstellungen haben hier einen direkten Einfluss auf die Verharmlosung eines schweren Verbrechens», sagte Loppacher.

Wollust ohne echte Liebe ist den Augen des Papstes verwerflich.
Wollust ohne echte Liebe ist den Augen des Papstes verwerflich.

Das kirchliche Strafrecht sei über Jahrhunderte ein reines Disziplinarrecht gewesen. «Es ging darum, die Täter zu ihrem eigenen Heil vor sich selbst zu schützen und zur Umkehr zu bewegen», sagte er. Unrecht zu benennen und dieses wieder gut zu machen, sei nicht Teil davon. «Das tönt natürlich so naiv, dass einem fast schwindlig wird», sagte der Kirchenrechtler. Doch basiere das kirchliche Strafrecht auf moralischen und theologischen Überzeugungen.

Kirche stellt sich über Staat

Die Kirchenverantwortlichen seien es sich zudem gewohnt gewesen, sich über den Staat zu stellen. «Die katholische Kirche kennt keine Fehlerkultur», sagte Loppacher. Aus Sicht des Staates existiere das Kirchenrecht nicht.

Eine grosse Zahl kirchlicher Mitarbeiter habe aber nur darauf gewartet, dass man diese Themen anspreche. Für einen Kulturwandel braucht es nach Auffassung Loppachers die Masse. Dass sich Schweizer Kirchenvertreter durchgerungen haben, eine Aufklärung in Auftrag zu geben, zeuge von Einsicht.

Die Universität Zürich hatte am Dienstag in einer Studie 1002 Fälle von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche in der Schweiz seit der Mitte des 20. Jahrhunderts dokumentiert. (sda/ch media)


Darf sich aktuelle nicht äussern: der Kirchenstrafrechtler Stefan Loppacher | © Kath. Kirche im Kanton ZH
15. September 2023 | 09:30
Lesezeit: ca. 2 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!