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Staatlich geförderter Selbstmord für ältere Menschen: eine Zukunftsvision?!

Ein japanischer Wissenschaftler schlug kürzlich vor, Senioren sollten den Freitod wählen, um Japans Überalterung zu stoppen. Im Spielfilm «Plan 75» werden Menschen ab 75 Jahren vom Staat zum freiwilligen Suizid ermutigt. Das Sozialdrama ist damit erschreckend nahe an der Realität.

Sarah Stutte

Japan hat schon lange ein Demografie-Problem. Dank der besonders hohen Lebenserwartung werden die Menschen immer älter, die Geburtenrate ist konstant niedrig. Seit dem Jahr 2010 geht die Bevölkerungszahl zurück. Zählte das Land damals noch 128 Millionen Einwohner, waren es 2020 noch rund 125,5 Millionen.

Bevölkerungsschwund: jeden Tag verschwindet ein Dorf

Prognosen gehen davon aus, dass die japanische Bevölkerung bis 2060 um weitere rund 40 Millionen schrumpft. Im Moment verringert sich die Zahl etwa um 2000 Personen pro Tag oder, um es bildlicher auszudrücken, jeden Tag verschwindet ein Dorf.

Wirtschaftsprofessor Yusuke Narita von der Universität Yale in der Talkshow. Screenshot.
Wirtschaftsprofessor Yusuke Narita von der Universität Yale in der Talkshow. Screenshot.

Die abnehmende Bevölkerung verbunden mit einer parallel damit einhergehenden stetigen Überalterung bringt weitere Probleme mit sich: eine Schieflage beim Rentensystem, fehlende Arbeitskräfte und – als Folge daraus – ein ausbleibendes Wirtschaftswachstum.

Eine Gesellschaft, die immer älter wird – diese Entwicklung beschäftigt uns in der Schweiz ebenfalls. Doch im Gegensatz zu Japan ist hier, trotz sinkender Geburtenraten, aber höheren Einwanderungszahlen, das generelle Wachstum der Bevölkerung steigend. Deshalb wirkt sich der demografische Wandel hierzulande noch nicht so dramatisch aus wie in Japan.

«Überflüssige» Alte entsorgen

Schon heute hat Japan die weltweit älteste Bevölkerung. Laut Prognosen steigt der Anteil der über 65-Jährigen im Land der aufgehenden Sonne bis im Jahr 2050 auf über 37%. In Japan sucht man deshalb händeringend nach Lösungen, um dieser Zukunftsvision entgegenzusteuern und ist deshalb auch offen für kontroverse Theorien.

Einleitung zum Videobericht über Naritas Vorschlag. Screenshot.
Einleitung zum Videobericht über Naritas Vorschlag. Screenshot.

Eine solche eher beängstigende Idee teilte Yusuke Narita Ende 2021 in einer japanischen Talkshow mit. Die «New York Post» berichtete im Februar dieses Jahres davon. Der aus Japan stammende Yale-Professor schlug in der Talkshow vor, dass sich ältere Menschen am besten selbst umbringen sollten, damit Japan die Überalterung in den Griff bekommt. Dabei spielte er auf das historische Seppuku-Freitodritual der Samurai an.

NY Post kommentiert Yusuke Naritas Vorschlag. Screenshot.
NY Post kommentiert Yusuke Naritas Vorschlag. Screenshot.

Die Äusserung ging schnell viral und löste weltweit gleichzeitig Entsetzen wie Zuspruch aus. Verbindliche Euthanasie als Zukunftsmodell? Das diese Vorstellung gar nicht einmal so abwegig ist, wird gerade auch in einem Film erschreckend verdeutlicht, der derzeit in den Schweizer Kinos läuft.

Im Film gibt es Geld für den Freitod

In dem Sci-Fi-Sozialdrama «Plan 75» der Erstlingsregisseurin Chie Hayakawa wird der Vorschlag von Yusuke Narita nämlich in Extremo und absolut ironiefrei durchexerziert und offenbart dabei alle Gründe, warum ein solches Vorhaben eine schlechte Idee ist.

In Hayakawas abschreckendem Film hat die Regierung in naher Zukunft ein Programm entwickelt, das ältere Menschen ab 75 Jahren dazu ermutigen soll, ihr Leben freiwillig zu beenden. Als Anreiz dazu dient nicht nur die demütige japanische Haltung, als Einzelner zum Wohle der Gesamtheit beizutragen. Für den Freitod gibt es obendrauf einen Batzen Geld, mit dem sich ein letzter Wunsch erfüllt werden kann.

Eindrückliche, filmische Kritik

Es ist eine grimmig-pragmatische Sichtweise auf das Alter und den gesellschaftlichen Umgang miteinander, die Hayakawa selbst nicht teilt. Das wird schon in der ersten Szene klar, in dem ein bewaffneter junger Mann in einem Altersheim ein Blutbad anrichtet. Ein deutliches Zeichen dafür, dass sich die Stimmung in der Öffentlichkeit gegen die ressourcenverschlingenden betagten Menschen des Landes wendet.

Auch alte Menschen müssen einkaufen.
Auch alte Menschen müssen einkaufen.

Die Regisseurin geht der Sache auf den Grund und versucht, die Logistik (wie die Tat ausgeführt wird, von den Beratungstelefonaten im Vorfeld bis hin zu den Sterbestationen, in denen die Patienten vergast werden) sowie die Auswirkungen des ganzen Konstrukts auf die reale Welt zu erahnen. Hiyakawa nähert sich dabei sehr einfühlsam ihren Figuren und deckt Schicksale auf, die nachdenklich stimmen.

Dabei zeigt sich einerseits, dass viele ältere Menschen, die noch fit sind und über ihr Pensionsalter hinaus arbeiten wollen, irgendwann quasi dazu genötigt werden, sich dem Regierungsplan zu unterwerfen. Klar wird aber in «Plan 75» auch, dass junge Menschen genauso mit den Folgen der Idee hadern, vor allem, wenn sie persönlich davon betroffen sind.

Maria (Stefanie Arianne) hat ein Problem mit dem Plan 75.
Maria (Stefanie Arianne) hat ein Problem mit dem Plan 75.

Was wäre wenn…?

Die Fragen, die der Film aufwirft, sind absolut zwingend. Sicherlich würde ein solches Gesetz neue Arbeitsplätze schaffen, aber wer würde diese Jobs annehmen? Was geschieht mit den Angelegenheiten der Verstorbenen? Könnte man den zuständigen Behörden zutrauen, dass sie die Leichen wirklich anständig beerdigen oder landen diese irgendwo, um Geld zu sparen?

Beunruhigend ist auch diese Vorstellung: Wenn die Bevölkerung einen solchen Plan akzeptiert, erleichtert das die Verabschiedung späterer Versionen mit immer tieferem Mindestalter? Müssen sich die Menschen irgendwann schon mit 50 Jahren umbringen? Ab wann ist man zu alt für die Gesellschaft?

Arbeit trotz hohen Alters: Seniorin Michiko (Chieko Baishô)
Arbeit trotz hohen Alters: Seniorin Michiko (Chieko Baishô)


Sicherlich ist «Plan 75» als Science-Fiction-Film ausgewiesen, doch der realistische Grundton des Sozialdramas, das Züge von Ken Loach trägt, verunsichert angesichts der tatsächlich existierenden Problematik. Wieviel Fiktion ist hier tatsächlich zu sehen und wieviel realistisches Szenario? Würde Japan ein Programm wie «Plan 75» wirklich annehmen? Und wie sähe es in der Schweiz aus? Die AHV sichern durch einen ähnlichen Plan? Wie würden die Landeskirchen reagieren?

Zurück bleibt man als Zuschauerin und Zuschauer mit einem äusserst unbequemen Gefühl und mit den eigenen Gedanken über die Einsamkeit, den Tod, die Freiheit der Selbstbestimmung und die Qualität des Lebens.

«Plan 75» ist derzeit im Kino zu sehen.


Karaoke-Singen als Rückzugsmöglichkeit in bessere Zeiten. | © First Hand Films
6. Mai 2023 | 05:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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