Christian Ringli, Pastor "BewegungPlus"
Radiopredigt

SRF- Radioprediger Christian Ringli: Nicht zu fassen

Das Hohelied ist eines der Bücher in der Bibel, das lange umstritten war. Zu Unrecht findet Christian Ringli. Der Radioprediger nimmt uns mit unter den Sternenhimmel und sinniert über die Gotteserkenntnis nach. Er kommt zum Schluss, «Wir kennen einander, und doch bleiben wir einander auf ewig ein Geheimnis».

Christian Ringli*

Haben Sie schon einmal unter freiem Himmel übernachtet? In dieser Zeit der lauen Nächte bietet sich das besonders an. Ich erinnere mich an Biwakiernächte in den Alpen, und dabei besonders an das überwältigende Sternenmeer, das in der lichtfreien Umgebung noch viel eindrücklicher leuchtet. Das Universum mit seiner Mischung von unglaublicher Schönheit und beklemmender Weite strahlt für mich eine faszinierende Kraft aus.

Der Blick in die Sterne

Ich erinnere mich, wie ich als Teenager in diesen Himmel starrte und mich dabei ein Phänomen besonders erstaunte. Da gab es neben dem Sternbild Orion einen Fleck, der ganz leicht schimmerte – wenn ich richtig nachgelesen habe, handelt es sich dabei um den Orionnebel. Fasziniert hat mich dieser Nebel deshalb, weil ich ihn nur dann sehen konnte, wenn ich an ihm vorbeischaute und in den Augenwinkeln nach ihm schielte. Sobald ich jedoch meine Augen auf ihn fokussierte, war er verschwunden. Es schien mir wie ein Zauberstern, der sich immer dann verflüchtigte, wenn ich ihn genauer betrachten wollte. Unterdessen habe ich gelernt: Der Orionnebel ist kein Zauberstern. Es liegt an unseren Augen, dass wir bei sehr schwachem Licht Dinge im Zentrum unseres Blickfelds nicht erkennen können, da es dort im Auge, wo dieses schwache Licht hinfällt, keine Stäbchensehzellen gibt. Wenn wir aber daran vorbeischauen, taucht er wieder auf, denn an der Seitenwand des Auges gibt es offenbar mehr von diesen Stäbchen.

Liebesgedichte in Sternennacht

Doch zurück zur milden Sommernacht unter freiem Sternenhimmel. Ganz abgesehen von optischen Phänomenen gibt es wohl kaum eine inspirierendere Naturkulisse, um ein Liebesgedicht zu verfassen. Mögen Sie Liebesgedichte? Hier wäre eines:

Ich habe mein Kleid abgelegt, wie könnte ich es wieder anziehen? Ich habe meine Füsse gewaschen, wie könnte ich sie wieder beschmutzen? Mein Geliebter streckte seine Hand durch die Öffnung, da bebte mein Inneres ihm entgegen. Ich stand auf, meinem Geliebten zu öffnen, und meine Hände troffen von Myrrhe und meine Finger von flüssiger Myrrhe an den Griffen des Riegels. Ich öffnete meinem Geliebten, doch mein Geliebter war gegangen, war fort. Ausser mir war ich, dass er sich weggewandt hatte. Ich suchte ihn und fand ihn nicht, rief ihn, doch er gab nicht Antwort. (Hohelied 5,3-6)

Das «Lied der Lieder»

Bei diesen dramatischen Zeilen handelt es sich nicht etwa um Worte aus der Hochromantik. Nein, es ist ein Text aus der Bibel. Einer aus einer Reihe von Jahrtausende alten Liebesgesängen, die im Buch «Hohelied» zu lesen sind. Liebeslieder – nicht gerade das, was die meisten erwarten dürften, wenn sie die Bibel aufschlagen. Im «Lied der Lieder», wie der Titel wörtlich übersetzt heisst, wird auf leidenschaftliche, wunderschöne, teilweise ziemlich freizügige Weise die Dynamik zwischen zwei sich liebenden Menschen beschrieben. So freizügig, dass es in der jüdischen Geschichte lange Zeit umstritten war, ob ein solches Buch zur Heiligen Schrift gehören kann oder nicht. Auch die neuere Theologie weiss oft nicht so recht was anfangen mit diesem Buch. Entsprechend handelte von den über tausend Radiopredigten der letzten fünfzehn Jahre gerade mal eine einzige über einen Abschnitt aus dem Hohelied.

Liebe zwischen Gott und Mensch

Das war nicht immer so. Nachdem nämlich das Hohelied dann doch in den jüdischen Kanon aufgenommen worden war, wurde es sogar zu einer der fünf «Festrollen» auserkoren und wird seither jährlich zu einem der wichtigsten jüdischen Feste, dem Pessachfest, gelesen. Und auch im ersten Jahrtausend der Kirchengeschichte galt das Hohelied als eines der Herzstücke für die Theologen. Denn beide, das Judentum wie auch die frühchristliche Kirche, waren überzeugt, dass sich in diesen Gedichten über die Liebe zwischen König Salomo und der Sulamitin eine noch tiefere, unerschöpfliche Liebe widerspiegelt. Dass sie das Abbild, der Ausdruck der unergründlichen Liebe zwischen Gott und den Menschen sind.

Verliebt unterwegs.
Verliebt unterwegs.

Unbegreifbarer Gott

Unergründlich – das war denn auch das Fazit von Gregor von Nyssas Auslegung des Hohelieds. Gregor, ein Kirchenleiter des 4. Jahrhunderts, war auch überzeugt, dass im Hohelied die Liebe zwischen Gott, dem Schöpfer, und den Menschen, seinen Geschöpfen, bildhaft beschrieben wird. Als er zu jener Passage kommt, die ich vorher gelesen habe – jener, in der die Freundin ihren Liebhaber vor der Türe hört, doch als sie aufsteht und die Türe öffnet, ist er verschwunden —, da schlussfolgert Gregor: So ist es auch mit Gott. Wir hören ihn, erfahren ihn, spüren etwas von seiner Gegenwart, aber wenn wir ihn fassen, festhalten wollen, ist er wieder verschwunden.

Gregor tut das nicht so platt wie ich gerade, sondern in viel schöneren Worten. Hören Sie selbst: «Nicht im Begreifen wird die Grösse der göttlichen Natur einsichtig, sondern im Entgleiten aus jedem zugreifenden Vorstellungsbild.» Oder nochmals Gregor in anderen Worten: Gott bleibt unserem «einkreisenden Denken in Flucht hindurch-entwischend».

Im Fokus unsichtbar…

Nun gut, aber was, bitte sehr, soll das heissen: «Entgleiten aus jedem zugreifenden Vorstellungsbild»? «Dem einkreisenden Denken in Flucht hindurch-entwischend»? Wenn ich Gregors Interpretation dieses Liebeliedes richtig verstehe, sagt er: Immer, wenn wir etwas von Gottes Gegenwart erfahren, entzieht er sich gleichzeitig unserem Fassungsvermögen. Eben hörten wir ihn noch an der Tür, aber kaum öffnen wir sie, ist er nicht mehr da. Wir können ihn nicht festhalten, fassen. Es ist wie mit dem Orionnebel: Wenn wir ihn in den Fokus nehmen, sehen wir ihn nicht mehr. Nur aus den Augenwinkeln erkennen wir, dass er da ist.

…die Natur Gottes

Das tut Gott nicht etwa, um sadistische Spielchen mit uns zu spielen. Vielmehr liegt es in der Natur Gottes, dass er viel zu gross und unfassbar ist, als dass wir ihn verstehen könnten. «Wenn du es verstanden hast, ist es nicht Gott,» da waren sich schon die Kirchenväter einig. Aber dass er da ist, stand für sie trotzdem ausser Frage, so dass sie ihr ganzes Leben auf ihn ausrichteten, und zwar in einer Intensität, die heutzutage ihresgleichen sucht.

Christian Ringli, Pastor "BewegungPlus"
Christian Ringli, Pastor "BewegungPlus"

Gotteserkenntnis

Doch gerade diese «sich dem einkreisenden Denken in Flucht hindurch-entwischende» Art Gottes und damit auch des Glaubens, halten wir heute, so scheint es mir, schlecht aus. Stattdessen bilden sich zwei Lager:

«Das ist doch alles ganz klar!», sagen die einen – und ja, als Vertreter der Freikirchen beobachte ich das öfters auch in meinen Kreisen. Sie meinen, genau zu wissen, wie, wo und wer Gott ist und die Wahrheit über ihn zu besitzen. Solches «explizite Reden von Gott», wie es ein Freund von mir einmal nannte, geht meines Erachtens oft an Gott vorbei. Auch in zwischenmenschlichen Beziehungen ist es ja so: Wenn wir meinen, das Gegenüber ganz zu kennen, es festlegen zu können, ist die Beziehung meistens am Ende.

«Wir können von Gott nichts erkennen!», behaupten die anderen. Die Unschärfe in Glaubensfragen lässt sie den Schluss ziehen, dass das alles gar nichts bringt und verlustfrei weggelassen werden kann. «Ich glaube nur, was ich klar erfassen kann.» Oder dann wird zwar an einen Gott geglaubt, aber über ihn lässt sich eigentlich gar nichts sagen. Das führt in letzter Konsequenz zum selben Resultat, wie überhaupt nicht an Gott zu glauben. 

Das Hohelied – ein dritter Weg

Das Hohelied lädt uns auf einen dritten Weg ein. Gott ist da, er lässt sich erfahren an tausend Ecken und Enden, echt und real. Und er hat sich so zu erkennen gegeben, dass wir ihn durchaus kennen können. Aber diese Erfahrungen sind gleichzeitig Einladungen zum Weitersuchen, Weitergehen, da sich Gott ständig dem ihn einkreisenden Denken entzieht. So ist es doch auch zwischen liebenden Menschen: Wir kennen einander, und doch bleiben wir einander auf ewig ein Geheimnis.

Das wünsche ich Ihnen, liebe Zuhörerin, lieber Zuhörer, dass Sie, wenn Sie das nächste Mal den nächtlichen Sternenhimmel bestaunen und vielleicht darin den Orionnebel orten, sagen können: «Gott, du bist da. Du bist nicht zu fassen. Ich habe dich nicht begriffen, sondern du hast mich ergriffen. Führe mich weiter auf meinem Weg als von dir geliebter Mensch. Da, wo ich etwas von dir erfahre. Und da, wo du meinem einkreisenden Denken in Flucht hindurch-entwischst.»

Amen.

*Christian Ringli ist Pastor bei der BewegungPlus in Grenchen.

Bibelstelle: Hohelied 5,3-6

Die SRF-Radiopredigten sind eine Koproduktion des Katholischen Medienzentrums, der Reformierten Medien und SRF2 Kultur.

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Christian Ringli, Pastor «BewegungPlus» | © Manuela Matt
30. Juli 2023 | 10:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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