Christian Ringli, Pastor "BewegungPlus"
Radiopredigt

Christian Ringli: Doktor Seibel oder die Kunst des Bittens

SRF-Radioprediger Christian Ringli stellt die Frage nach dem «selber machen» oder «um Hilfe bitten». Für ihn ist die Antwort klar: «Geht es nach der Bibel, ist es nicht das grosse Ziel des Lebens, alles selbst zu können.» Bereits in der Erschaffung der Welt sieht Ringli das Bitten des Schöpfers an die Menschen: «Ich habe ein Projekt, aber ich will das nicht alleine machen: Hilfst du mit? Diese Welt braucht Bewahrung, wartet auf verantwortliche Mitgestaltung.»

Christian Ringli*

Kennen Sie Doktor Seibel? Vermutlich nicht – es sei denn, Ihr Hausarzt heisst per Zufall auch so. Jener Doktor Seibel, den ich meine, war jedoch kein Meister der Medizin, sondern ein zweijähriger Junge, der in einer gewissen Phase vor rund 40 Jahren alles «selber» machen wollte. Das Schokopulver in die Milch rühren, die steile Treppe runtergehen, das schwere Telefonbuch (Sie erinnern sich?) aus dem Schrank nehmen. Selber machen! Weil der Knirps jedoch das Wort «selber» noch nicht richtig aussprechen konnte, sagte er zu allem, was er alleine machen wollte, vehement: «Seibel!» Und so nannten ihn seine Eltern gelegentlich liebevoll «Doktor Seibel».

Kindergesichter.
Kindergesichter.

Sie ahnen es vielleicht: Doktor Seibel war ich. Mittlerweile bin ich etwas älter geworden, habe drei eigene Kinder durch die «Seibelphasen» begleitet – und ja, sie darin auch unterstützt. Selbstständigkeit und Mut zum Ausprobieren sind für mich durchaus gute Werte. Auch selbst spüre ich immer noch gelegentlich den Doktor Seibel in mir: Ich will das selbst lernen, selbst können, nicht angewiesen sein auf andere, denn sonst … sonst müsste ich ja andere um Hilfe bitten. Und das widerstrebt mir.

Um Hilfe bitten

Wie haben Sie es mit dem «um-Hilfe-bitten»? Fällt es Ihnen leicht, andere um einen Gefallen zu bitten? Um gerade mal ein paar Widerstände zu benennen: Ich will niemandem auf die Nerven gehen. Die Anderen haben ja bestimmt selbst viel zu tun. Und wenn sie mir helfen, dann schulde ich ihnen nachher was. Wie unangenehm! Und überhaupt: Es kratzt an meinem Ego, dass ich das nicht selbst hinkriege. Es gibt gute Gründe, Dinge alleine bewältigen zu wollen. Es gibt aber auch – entgegen aller helvetischen Unabhängigkeit – gute Gründe, andere um Hilfe zu bitten und für diese Gründe möchte ich heute eine Lanze brechen, denn ich bin überzeugt, dass die Kunst des Bittens eine überaus kostbare Sache ist.

Ein Zauberwort im Neuen Testament

Im Neuen Testament – dem zweiten Teil der Bibel, der im Original in griechischer Sprache geschrieben wurde – gibt es eine Art Zauberwort: «parakaleo». Es kommt 110 mal vor, was für ein Verb ziemlich häufig ist, und Zauberwort nenne ich es deshalb, weil es ein Bedeutungsfeld hat, das auf Deutsch schwer zu erfassen ist. Als ich im Theologiestudium Griechischvokabeln büffeln musste, lernte ich als Bedeutung von «parakaleo»: bitten, auffordern, zu etwas aufrufen, ermahnen, ermutigen, trösten, bestärken, einladen, zu Hilfe rufen, um Hilfe bitten. Ich fragte mich: Wie um alles in der Welt kann ein Wort so viele Bedeutungen haben?

Symbolbild Heiliger Geist
Symbolbild Heiliger Geist

Wörtlich übersetzt «entlangrufen», «an die Seite rufen» scheint es sich um eine Art Freundschaftswort des gemeinsamen Unterwegsseins zu handeln: Freunde ermutigen, trösten, bestärken einander, sprechen auch mal ein Wort der Herausforderung oder laden einander ein. Und eben: Freunde bitten, sie bitten um Hilfe, sie rufen einander zu Hilfe. Dieses Bitten zieht sich denn auch durch die Texte des hinteren Bibelteils. In den Evangelien wird es oft für Menschen gebraucht, die zu Jesus kommen, um ihn um etwas zu bitten. Ein Vater mit seinem kranken Kind, eine Frau mit grossen Beschwerden, ein Priester mit einer Frage, die ihn umtreibt. Jesus ermutigte die Menschen regelrecht zum Bitten, indem er sie fragte: Was möchtest du, dass ich für dich tue? Als sagte er: Formulier doch eine Bitte!

Der rote Faden der jungen Kirche

In der Zeit nach Jesus geht es entsprechend weiter. Die Apostelgeschichte ist voll von gegenseitigen Hilferufen: Ein äthiopischer Kämmerer versteht das Jesajabuch nicht und bittet um Hilfe; ein reicher Römer in Cäsarea macht eine seltsame Erfahrung und bittet Petrus um Unterstützung, und auch die Briefe des Paulus sind voll von Bitten an seine Leser und Anfragen um Support. Es durchzieht das Leben der jungen Kirche wie ein roter Faden: bitten, um Hilfe bitten, zu Hilfe rufen.

Etwas hat mich an diesem Wort «parakaleo» besonders überrascht. Wie bereits erwähnt, kommt es ziemlich häufig vor im Neuen Testament. Nur Johannes verzichtet darauf. Er fällt generell durch seinen ganz eigenen Schreibstil auf, und darum verwundert es nicht, dass er auch bei parakaleo einen sprachlichen Sonderzug fährt. Doch dann kommt er an die Stelle, wo Jesus mit seinen Nachfolgern über den Heiligen Geist spricht – die Kraft, die er ihnen nach seinem Abschied senden wird. Und als es darum geht, ein treffendes Wort für diese Kraft zu finden, wählt Johannes: «Parakletos». «Und ich werde den Vater bitten,» lässt er Jesus sagen, «dass er euch an meiner Stelle einen anderen PARAKLETOS gibt, der für immer bei euch bleibt, den Geist der Wahrheit.» (Johannes 14,16) Mit dieser Wortwahl bringt er die Bibelübersetzer in arge Nöte: Wie nur das weite Feld dieses Begriffs übersetzen? In den deutschen Bibelübersetzungen ist von Tröster und Fürsprecher über Beistand, Sachwalter oder Anwalt bis hin zu Helfer oder Unterstützung alles zu finden. Nur eine Übersetzung ist mir für den Parakleten nicht begegnet: der «um Hilfe Bitter», der «zu Hilfe Rufer».

Mosaik zu Pfingsten.
Mosaik zu Pfingsten.

Das Parakleten-Bild der Schöpfung

Das ist schade, denn gerade diese Dimension des Begriffs würde unser Bild von «Gott gibt souverän – der Mensch empfängt demütig» womöglich erfrischend aufbrechen. Gottes Geist ist ein Geist des Bittens. Er kommt auf Augenhöhe, anklopfend, anfragend, bittet uns um Mithilfe. Schon bei der Schöpfungserzählung wird das sichtbar. Die Botschaft des Berichts ist nicht «Gott schafft eine Welt, und die läuft dann reibungslos und automatisch, weil er sie so vollkommen gemacht hat.» Nein, es ist, als würde Gott darin sagen «Ich habe ein Projekt, aber ich will das nicht alleine machen: Hilfst du mit? Diese Welt braucht Bewahrung, wartet auf verantwortliche Mitgestaltung, und deshalb habe ich euch in meinem Parakleten-Bild gemacht: Ich bitte euch um Hilfe.»

Ein Steilpass Gottes

Auch im Leben von Jesus Christus wird diese Kunst des Bittens sichtbar. Er kommt als bedürftiges Baby in diese Welt, bittet als erstes schreiend um Hilfe, Schutz, Ernährung. Aber auch als Erwachsener hört er mit Bitten nicht auf: Er bittet um Wasser am Brunnen, um Gastfreundschaft, um einen Raum fürs Passamahl, um Fische und Brote, um Gebet von seinen Freunden. Er taucht nicht als Doktor Seibel auf, der alles selber kann und macht, sondern er fragt um Hilfe – nicht, weil er es nicht selbst könnte (darum geht es überhaupt nicht), sondern weil es seinem Wesen entspricht, im gegenseitigen Nehmen und Geben, im Bitten und Antworten einer gemeinsamen Geschichte entlangzugehen; den Menschen einen Steilpass zuzuspielen: Jetzt du!

Die Kraft des Bittens

Wir sind Bittende, und wir sind Gebetene. Gerade das macht unsere menschliche Würde aus. Dies lässt sich auch in vielen Erfahrungen beobachten. Die Psychologie nennt es den «Franklin-Effekt», der besagt, dass, wenn wir Menschen um etwas bitten und sie uns helfen, dies ihre Haltung uns gegenüber massgeblich verbessert. Erkenntnisse der Soziologie bezeugen das Phänomen, dass wir Menschen nicht dann am meisten helfen, wenn wir alles für sie tun, sondern wenn wir sie (auch) um Hilfe bitten und ihnen die Würde zugestehen, etwas beitragen zu können, das wir brauchen. Paarbeziehungen gewinnen an Leben, wenn Wünsche und Bitten ausgesprochen statt nur gedacht oder erfüllt werden, und in der Erziehung betonen Fachleute, wie sehr Kinder aufblühen, wenn wir sie um etwas bitten, bei dem sie spüren, dass sie uns damit wirklich helfen können. Überall entdecken wir die schöne Kraft des Bittens.

Christian Ringli, Pastor "BewegungPlus"
Christian Ringli, Pastor "BewegungPlus"

Als Pastor einer Kirche habe ich früher darunter gelitten, dass die Freiwilligenarbeit, aus welcher Kirche hauptsächlich besteht, mit so viel Bitten verbunden ist. Ich habe manchmal heimlich Unternehmen benieden, bei denen klar war, dass Vorgesetzte anordnen und Untergebene gehorchen. Heute sehe ich einen grossen Schatz in dieser Bittkultur. Ja, sie ist manchmal mühsam und aufwändig, aber sie drückt aus meiner Sicht etwas von Gottes Art aus, nach der diese Welt geflochten ist.

Geht es nach der Bibel, ist es nicht das grosse Ziel des Lebens, alles selbst zu können, völlig selbständig, selbstversorgend, selbstgenügsam das Leben im Griff zu haben und keine Hilfe zu benötigen. Deshalb gebe ich meinem Doktor Seibel, so sehr ich seine neugierige und ehrgeizige Art auch schätze, immer mal wieder einen liebevollen Tritt in den Allerwertesten, denn die schönsten Dinge fangen oft an mit einem «Ich brauche deine Hilfe. Hilfst du mir?»

Wen könnten Sie in nächster Zeit um Hilfe bitten?

*Christian Ringli ist Pastor bei der BewegungPlus in Grenchen.

Bibelstelle: Johannes 14,16

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Christian Ringli, Pastor «BewegungPlus» | © Manuela Matt
11. Juni 2023 | 10:00
Lesezeit: ca. 6 Min.
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