Die Waadtländer Kantonalkirche FEDEC hat einem afrikanischen Priester gekündigt. Aber durfte sie es?
Story der Woche

Sexuelle Belästigung oder Rassismus? Die Absetzung eines Priesters im Kanton Waadt wirft viele Fragen auf

Ein Priester hat eine Frau am Knie berührt. Ihm ist nichts aufgefallen. Sie fühlt sich sexuell belästigt. Ohne die Schuldfrage zu klären, kündigt die Waadtländer Kantonalkirche dem Priester. Nun droht ihm die Ausschaffung. Einblicke in ein Kirchensystem, das zuweilen unmenschlich erscheint.

Annalena Müller

In der Kirchgemeinde oberhalb des Lac Léman kocht es. Es geht um den Vorwurf der sexuellen Belästigung. Und um einen abgesetzten Priester, der sich keiner Schuld bewusst ist. Es geht um Missverständnisse und Vorurteile. Um ausländische Priester, die man in die Schweiz holt. Und die man bei Problemen erschreckend einfach loswerden kann.

Ein Treffen mit Konsequenzen

Das Ereignis, um das es hier geht, trägt sich am 12. Dezember 2022 zu. Ort des Geschehens ist die Kirche der Gemeinde. Ein Neubau aus der Konzilszeit, der Offenheit ausstrahlt. Idyllisch gelegen in Weinbergen mit Blick auf den See. Hier trifft sich der Priester mit einer Katechetin gegen 17 Uhr. Sie wollen das anstehende Krippenspiel besprechen.

Ärger am Genfersee - Die Pfarreien stellen sich hinter ihren Priester.
Ärger am Genfersee - Die Pfarreien stellen sich hinter ihren Priester.

Der Priester stammt aus einem Drittstaat, also aus keinem EU- oder EFTA-Land. Seit einem knappen Jahr ist er Vikar. Davor hat er im Tessin doktoriert. Sein theologischer Hintergrund ist – selbst für Westschweizer Verhältnisse – ein konservativer. Vieles ist ihm noch immer fremd hier: Die selbstbewussten Laiinnen und Laien und das duale System. Die Stelle im Kanton Waadt ist sein erstes Amt in einer Pfarrei.

Zwei Welten kollidieren

Angestellt ist der Priester, wie im Kanton Waadt üblich, bei der «Fédération ecclésiastique catholique romaine du canton de Vaud» (FEDEC). Die FEDEC ist auch Arbeitgeber der örtlichen Katechetinnen. Mit ihnen arbeitet der Priester eng zusammen. Das Verhältnis zwischen dem Priester und den Frauen ist wechselhaft. Sie sind sich oft uneinig. Über den Umgang mit Sakramenten und den Umgang mit Kindern.

In der Waadtländer Pfarrei treffen zwei unterschiedliche Welten aufeinander. Der strikt-lehramtstreue Priester trifft auf pragmatische örtliche Katechetinnen. Und am Abend des 12. Dezember kollidieren diese Welten in der Kirche oberhalb des Sees.

Stupser oder Streicheln?

Kath.ch konnte die Protokolle der FEDEC einsehen. Der Priester und die betroffene Katechetin berichten übereinstimmend: Es gab ein Treffen in der Kirche. Für ihre Unterhaltung nahmen sie in einer Kirchenbank Platz. Sie sprachen über das Krippenspiel und den Religionsunterricht.

Krippenspiel in einer Kirche
Krippenspiel in einer Kirche

Danach gehen die Berichte auseinander. Die Katechetin gibt zu Protokoll: der Priester «hat meinen Oberschenkel gestreichelt». Beim Abschied habe er ihr ausserdem die Hand auf den Nacken gelegt.

Die Erinnerung des Priesters ist eine andere. Als sich beide über die Aufteilung der Katechismus-Stunden uneinig waren, habe er ihr «auf Höhe des Knies», einen «Stupser» gegeben. Es sei «eine freundschaftliche Geste» gewesen. «Keinesfalls ein Streicheln». Dass er sie am Nacken berührt habe, streitet er ab.

Spannungen zwischen Katechetinnen und Priester

Des Weiteren gibt der Priester bei der FEDEC zu Protokoll: Es habe bereits seit Sommer immer wieder Spannungen mit dem Team der Katechetinnen gegeben. Es sei dabei um sakramentale Fragen gegangen. Sie betreffen die Gemeinde afrikanischer Katholiken und Katholikinnen, für die der Priester ebenfalls zuständig ist.

«Dass sich die Katechetinnen gegen einen Priester durchsetzen, stösst auf Unverständnis.»

Konkret geht es um mehrere Kinder im Alter zwischen acht und 16 Jahren, die noch nicht getauft sind. Die Katechetinnen wollen, dass die Sakramente der Taufe, Kommunion und Firmung in einer gemeinsamen Zeremonie gespendet werden. Die betroffene Gemeinde, wie auch der Priester, sind gegen den Vorschlag. Sie verweisen auf das Kirchenrecht. Dieses sieht vor, dass die Firmung in einer getrennten Zeremonie gespendet wird. Allerdings sind Ausnahmen möglich.

Zwischen den kulturellen Stühlen

Die Katechetinnen setzen sich durch. Die Kinder erhalten im Juli 2022 in der gleichen Zeremonie Taufe, Erstkommunion und Firmung. Der eingeladene Weihbischof, Alain de Raemy, sei vor vollendete Tatsachen gestellt worden. Er habe das Pontifikalamt wie von den Katechetinnen geplant, gefeiert. Eine Nachfrage bei de Raemy bliebt bisher unbeantwortet.

Immer wieder steht der Priester zwischen den kulturellen Stühlen. Er hat Schwierigkeiten, der afrikanischen Gemeinde das duale System zu vermitteln. Dass sich die Katechetinnen gegen einen Priester durchsetzen, sei dort auf Unverständnis gestossen.

Auch auf der anderen Seite eckt er an. Bei der FEDEC wird er im Dezember 2022 zu Protokoll geben: Einige der hauptamtlichen Laiinnen hätten ihn seit dem Vorfall «loswerden wollen». Man habe ihm nachgesagt, dass er «autoritär» sei, «Klerikalismus praktiziere und sich zu sehr am kanonischen Recht orientiere».

Fremde Priester leben prekär

Solch ein kultureller Spagat ist in der Schweiz keine Ausnahme. Weil immer weniger Männer Priester werden wollen, rekrutieren die Bistümer im Ausland. Ungefähr die Hälfte der hier tätigen Priester hat einen ausländischen Pass. Die meisten von ihnen stammen aus Osteuropa, Afrika und Indien. Inkardiniert sind sie in den Bistümern ihrer Heimatländer.

Priesterweihe in der Kathedrale in Chur, März 2023
Priesterweihe in der Kathedrale in Chur, März 2023

Während ihrer Tätigkeit in der Schweiz unterstehen sie dem örtlichen Bischof. Dafür schliesst dieser einen Vertrag mit dem entsendenden Bischof. In dem Vertrag verpflichtet sich der Bischof, den fremden Priester wie «seine eigenen Priester» zu behandeln. Gegenüber dem entsendenden Bischof verpflichtet er sich, diesen regelmässig über die Arbeit des Priesters zu unterrichten.

Wie Leihspieler im Fussball

Man kann die Situation mit der eines Fussballers vergleichen, der an einen Verein ausgeliehen wird. Wenn er Tore schiesst, gehört er dazu. Wenn er versagt, dann ist er schnell wieder weg.

Bei Priestern aus Drittstaaten kommt hinzu: Ihre Aufenthaltsgenehmigung hängt am Arbeitsvertrag. Wenn dieser ausgesetzt wird – aus welchen Gründen auch immer –, erlischt ihr Wohnrecht in der Schweiz. Es ist eine prekäre Lebenssituation. Denn viele Faktoren haben die betroffenen Personen nicht selbst in der Hand.

Wenn Priester und Gemeinde nicht zusammenfinden

Diese Situation ist auch die Ausgangslage des Waadtländers Priesters. Erst Anfang 2022 hat er seine Priesterstelle angetreten. Er ist lehramtstreu, kennt die Doktrinen der Kirche und er folgt ihnen aufs Wort.

Frimlinge in Martigny
Frimlinge in Martigny

Der in vielen Schweizer Landeskirchen gelebte, pragmatische Katholizismus ist ihm fremd. Dazu kommt die Situation des protestantischen Kanton Waadt. Hier ist der praktizierte Katholizismus für Westschweizer Verhältnisse besonders offen. Er steht dem «Synodalen Weg» mitunter näher als dem «Dikasterium für Glaubenslehre».

Grosse kulturelle Unterschiede

Auch einigen Mitarbeitenden der Gemeinde dürfte das Religions- und Amtsverständnis ihres neuen Priesters befremdlich anmuten. Zum Beispiel wenn er darauf besteht, dass man nicht drei Sakramente in einer Zeremonie spenden kann. Weil das, strenggenommen, gegen Kirchenrecht verstösst.

Vielleicht haben beide Seiten die grossen kulturellen Unterschiede unterschätzt. Über so etwas spricht man nicht gerne. Schliesslich möchte niemand des Rassismus verdächtigt werden. Wobei es wichtig ist, zwischen Rassismus und kulturellen Unterschieden zu unterscheiden.

«Im Tessin gibt es kein duales System.»

Mit ihren grossen kulturellen Unterschieden sehen sich Gemeinde und Pfarrer früh konfrontiert – nicht nur in doktrinären Fragen. Das duale System der Schweizer Kirche gibt Laiinnen und Laien deutlich mehr Einfluss als in anderen Teilen der Welt. Das ist für den Priester gewöhnungsbedürftig. Zwar hat er im Tessin doktoriert. Aber das Tessin ist eine Schweizer Ausnahme: dort gibt es kein duales System.

Auch kommt der junge Priester aus einem Land, in dem kurze Berührungen in Gesprächen normal sind. Im Gespräch mit der FEDEC wird der Priester später sagen: Ihm sei bis dato nicht bewusst gewesen, dass die Berührung unpassend war. Er habe aber mittlerweile verstanden, dass «man Leute nicht anfassen darf».

Beide sagen die Wahrheit

Der Fall ist auch deshalb so kompliziert, weil es durchaus möglich ist, dass beide Parteien die Wahrheit sagen. Es kann sein, dass sie aufgrund ihrer kulturellen Unterschiede die gleiche Situation völlig verschieden erlebt haben. Und: dass der Priester keinerlei Annäherung gesucht hat. Aber, dass die Frau die Berührung trotzdem als sexuelle Belästigung empfand.

Das Kündigungsschreiben
Das Kündigungsschreiben

Aus weiblich-europäischer Perspektive ist es nachvollziehbar, dass eine Grenzüberschreitung stattgefunden hat. Denn in der Schweiz sind Berührungen nicht Teil der akzeptierten Kommunikation. Gleichzeitig kann man dieses kulturelle Wissen nicht als gegeben voraussetzen. Da sich gerade an solch subtilen Dingen kulturelle Unterschiede manifestieren.

Rechtlich folgenlos, menschlich katastrophal

Anders gesagt: Ein kulturelles Missverständnis muss als Erklärung zumindest in Erwägung gezogen werden. Doch das scheint zu keinem Zeitpunkt geschehen zu sein. Im Gegenteil. Die FEDEC hat ihm gekündigt.

Rein strafrechtlich steht zu erwarten, dass der Fall keine Konsequenzen haben wird. Allein weil Aussage gegen Aussage steht. Für den Priester ändert das allerdings nichts. Ab dem 30.04. steht er ohne Arbeitsvertrag da.

Agiert die FEDEC rechtswidrig?

Die FEDEC spielt in der Tragödie eine sehr unglückliche Rolle. Sie ist der zivile Arbeitgeber des Priesters und der Katechetin. Diese wendet sich am 14. Dezember 2022, zwei Tage nach dem Ereignis, an die Kantonalkirche. Am 15.Dezember 2022 führt die FEDEC zwei Gespräche. Vormittags mit der Frau, nachmittags mit dem Priester.

Am Ende des Gesprächs unterschreibt der Priester ein ihm vorgelegtes Schreiben. Darin verpflichtet er sich «keinen Kontakt zu Frau […] aufzunehmen und auch keine andere Person aus der Pfarrei zu kontaktieren, mit Ausnahme des Pfarrei-Moderators […]».

«Ob die Kündigung rechtswidrig war, wird ein Arbeitsgericht klären müssen.»

Im Gespräch bestätigt der Generalsekretär der FEDEC, Cédric Pillonel, diesen Passus im Schreiben. Pillonel präzisiert weiter: Der Priester habe sich nicht an die Abmachung gehalten. Er habe in den folgenden Wochen den Kontakt zu Pfarreimitgliedern gesucht.

Aus Sicht der FEDEC habe dies einen unüberbrückbaren Vertrauensbruch dargestellt. Deswegen habe man ihm Ende Januar gekündigt. Ob die Kündigung rechtswidrig war, wird ein Arbeitsgericht demnächst klären müssen.

Der Kündigungsgrund erscheint fragwürdig. Zu fordern, dass der Priester die Vorweihnachtszeit und den Jahreswechsel ohne Kontakte zu seiner Gemeinde verbringen solle, wirkt drastisch. Auch darf man annehmen, dass der plötzliche Rückzug des Vikars Fragen bei den Pfarreimitgliedern aufgeworfen hat.

Blossstellung des Priesters

Auf Nachfrage bestätigt der Priester, dass die lokale Gerüchteküche sofort zu brodeln begann. Es sei gar über eine angebliche Vergewaltigung gemutmasst worden. Aus diesem Grund habe er schliesslich doch Kontakt zu ausgewählten Gemeindemitgliedern aufgenommen.

Der Priester sucht den Kontakt zu seiner Gemeinde
Der Priester sucht den Kontakt zu seiner Gemeinde

Für die FEDEC sind die Gründe des Priesters irrelevant. Sie spricht die Kündigung aus. Ausserdem prangert sie den Priester am 29. Januar 2023 im Pfarreiblatt an. Sie wirft ihm «inadäquates Verhalten» vor. Die gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe habe der Priester während «der im Dezember durchgeführten Anhörungen nicht zerstreuen können». Die Veröffentlichung der FEDEC komme einer Vorverurteilung gleich. Der Priester erstattet Strafanzeige wegen Verleumdung. Die Ermittlungen laufen noch.

Schweigen und Mauern

Die genauen Umstände des Vorfalls am 12. Dezember 2022 bleiben bis heute ungeklärt. Die betroffene Katechetin möchte sich nicht äussern. Der Priester streitet jegliche Belästigung ab.

Cédric Pillonel, Generalsekretär der FEDEC, besteht auf die Rechtmässigkeit der Kündigung. Er sieht daher keine Notwendigkeit einer unabhängigen Untersuchung. Oder gar den Versuch einer Mediation zwischen beiden Parteien. Pillonel verweist auf die Möglichkeit des Priesters, vor dem Arbeitsgericht gegen die Kündigung zu klagen.

Unterstützung für den Priester

Aus dem Umfeld der beiden Gemeinden gibt es hingegen Unterstützungserklärungen für den Priester. Telefonisch gegenüber kath.ch, allerdings mit Bitte um Anonymität.

«Er ist zugänglich, jovial und hat einen besonderen Sinn für Humor.»

Ende Februar wenden sich ausserdem zehn Mitglieder der afrikanischen Gemeinde schriftlich an Bischof Charles Morerod. Sie beschreiben den Charakter des Priesters als «zugänglich», «jovial». Er habe einen «besonderen Sinn für Humor». Weiter heisst es: «auch ist er, wie fast alle [Name des Herkunftslands], taktil. Jemand, der mit Gesten und mit Berührungen kommuniziert. Etwas, das in Europa nicht mehr üblich ist.»

Bischöfe fühlen sich nicht zuständig

Und die betroffenen Bischöfe? Sein Heimat-Bischof schreibt dem Priester, dass er ihm glaube. Aber auch: dass es dem örtlichen Bischof obliege, die Sache zu beurteilen. Und der Bischof von Lausenne, Genf und Freiburg, Charles Morerod, verweist im Gespräch mit kath.ch auf die FEDEC als verantwortlichen Arbeitgeber.

Wie bei einem ausgeliehenen Fussballer, der keine Tore schiesst: Niemand will für den Priester verantwortlich sein.

Die Namen aller Personen sind der Redaktion bekannt. Der Anwalt des Priesters wird in den nächsten Tage Klage vor dem Arbeitsgericht auf Nichtigkeit der Kündigung einreichen. Für alle Beteiligten gilt die Unschuldsvermutung.

Die Waadtländer Kantonalkirche FEDEC hat einem afrikanischen Priester gekündigt. Aber durfte sie es? | © KNA
14. April 2023 | 05:00
Lesezeit: ca. 8 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!