Sexuelle Übergriffe: Kapuziner weisen Vorwurf der Untätigkeit zurück

Luzern, 30.3.17 (kath.ch) Im Gegensatz zu anderen Ordensgemeinschaften haben die Schweizer Kapuziner bislang keine umfassende Untersuchung sexueller Übergriffe durch eine externe Instanz durchführen lassen. Provinzial Agostino Del-Pietro wehrt sich dennoch gegen den Vorwurf, nichts zur Aufarbeitung von Missbrauchsfällen unternommen zu haben.

Barbara Ludwig

Im Februar erschien das Buch des Freiburgers Daniel Pittet «Mon Père, je vous pardonne», in dem er die sexuellen Übergriffe durch den Kapuziner Joël Allaz beschreibt. Gleichzeitig kündigten die Schweizer Kapuziner eine Untersuchung des Falls durch eine unabhängige juristische Kommission an. Gäbe es dieses Buch nicht, würde man die Kommission nicht einsetzen, sagte der Schweizer Provinzial Agostino Del-Pietro auf Anfrage gegenüber kath.ch.

Del-Pietro begründete dies damit, dass der Fall bereits 2008 gründlich durch eine Freiburger Richterin analysiert worden war. Durch die damalige Untersuchung und die damit verbundenen polizeilichen Ermittlungen konnten 24 Opfer von Joël Allaz ausfindig gemacht werden, hiess es damals in der Pressedokumentation zum Abschluss der Untersuchung.

«Nach dieser Untersuchung, an der die Richterin während acht Monaten arbeitete, und nachdem Joël Allaz 2012 durch ein Gericht in Frankreich verurteilt worden ist, konnte der Fall aus juristischer Sicht als abgeschlossen betrachtet werden», sagte Del-Pietro weiter. Das Buch von Pittet, mit dem die damaligen Ereignisse erneut einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden, könne jedoch zu neuen Erkenntnissen führen. «Eine der ersten Arbeiten der geplanten Kommission wird darin bestehen, den Inhalt des Buches mit den Ergebnissen der Untersuchung von 2008 zu vergleichen. Es wird Aufgabe der Kommission sein, eine umfassende Darstellung der damaligen Vorgänge aufzuarbeiten.»

Vergangenheit nicht nach heutigen Massstäben beurteilen

Besonderes Augenmerk würde dabei auf allfällige neue Elemente gerichtet, so Del-Pietro. In der gemeinsamen Pressemitteilung der Schweizer Bischofskonferenz und der Kapuziner vom 13. Februar zum Buch von Pittet hiess es, der Orden würde durch eine «unabhängige juristische Instanz» abklären lassen, wie weit sich aus dem Buch «neue Verdachtsfälle von Verschleierung ergeben und ob noch weitere Opfer gefunden werden könnten».

Dann habe die Kommission auch die Aufgabe, die «tragische» Serie sexueller Übergriffe durch den Kapuziner, die über Jahrzehnte hinweg stattgefunden habe, unter Berücksichtigung des historischen Kontextes zu untersuchen. Der Provinzial räumte ein, dass im Umgang mit dem Täter damals Fehler gemacht wurden. «Die getroffenen Massnahmen waren anfänglich ungenügend, so dass es zu weiteren Übergriffen kommen konnte.»

Del-Pietro machte jedoch geltend, dass 1990 noch nicht dieselbe Sensibilität gegenüber dem Thema «Missbrauch» vorhanden war wie heute. «Die damaligen Massnahmen dürfen nicht nur aus heutiger Sicht beurteilt werden. Heute gelten zum Glück viel strengere Regeln im Umgang mit Übergriffen und Tätern.»

Kommission soll Rolle der Verantwortlichen bewerten

Es werde Aufgabe der Kommission sein, die Massnahmen der damaligen Beteiligten zu bewerten, versprach Del-Pietro. Dazu gehörten der Schweizer Kapuziner Provinzial Gervais Aeby, der damalige kirchliche Richter der Diözese Lausanne-Genf-Freiburg Jean-Claude Périsset und der damalige Bischof von Lausanne-Genf-Freiburg Pierre Mamie. Weil Allaz 1989 nach Frankreich versetzt wurde, soll auch die Rolle des dortigen Bischofs und des Kapuzinerprovinzials von Frankreich untersucht werden.

Konkret werde die Kommission eruieren, welche Beteiligten zur Vertuschung der Übergriffe von Allaz beitrugen, so Del-Pietro. Sie werde aber auch untersuchen, welche Präventionsmassnahmen ergriffen wurden und welche Unterstützung den Opfern angeboten wurde.

Provinzial wehrt Vorwurf der Untätigkeit ab

Verschiedene Orden haben umfassende Untersuchungen durch eine unabhängige Instanz durchführen lassen, um sexuellen Übergriffen durch Ordensangehörige auf die Spur zu kommen. Das Kloster Einsiedeln etwa liess 2010 durch eine externe Kommission einen Zeitraum von 65 Jahren untersuchen. Auch die Ingenbohler Schwestern setzten 2011 eine unabhängige Expertenkommission ein. Diese prüfte, ob in den Kinderheimen, in denen Ingenbohler Schwestern arbeiteten, sadistische Erziehungsmethoden angewendet wurden und ob es zu sexuellen Übergriffen gekommen war.

Die Schweizer Kapuziner, die früher an verschiedenen Orten Schulen führten, haben dies bislang nicht gemacht, räumte Del-Pietro ein. Der Provinzial lässt aber den Vorwurf der Untätigkeit nicht gelten. Die Kapuziner hätten selber einiges unternommen, um weitere Missbrauchsfälle aufzuarbeiten. «Mit Aufrufen in Tageszeitungen wurden Opfer von Übergriffen gebeten, sich zu melden.» Dies geschah 2008, als der Fall Allaz von der Freiburger Justiz untersucht wurde. Bei der Aufarbeitung dieser Fälle hätte der Orden mit kirchlichen und staatlichen Fachgremien zusammengearbeitet, so der Provinzial. «Und wo es möglich war, wurde mit den Opfern gesprochen und Hilfe angeboten.»

Kapuziner wissen über alle Täter Bescheid

Zum Glück hätten sich nur wenige Personen auf die Aufrufe hin gemeldet, sagte Del-Pietro weiter. Die betreffenden Übergriffe waren laut dem Provinzial «für die Opfer sicher auch traumatisierend, aber zahlenmässig und in der Schwere der Übergriffe nicht vergleichbar mit dem Fall Joël Allaz».

«Ich kann mir vorstellen, dass das damals einer der Hauptgründe dafür war, auf weitere Massnahmen zu verzichten», erklärte Del-Pietro. Wie viele Opfer sich meldeten, kann der aktuelle Provinzial nicht sagen. Er geht aber davon aus, dass den Kapuzinern heute «all jene Personen bekannt sind, welche sich damals Übergriffe zuschulden kommen liessen. Wo uns Klagen erreichten oder Verdachtsmomente auftauchten, sind wir diesen nachgegangen».

Dennoch dürfe man nie ausschliessen, dass sich ein Opfer erst nach vielen Jahren dazu entschliessen könne, Anklage zu erheben. In einem solchen Fall sei die Anklage zu prüfen.

Was die Aufarbeitung von sexuellen Übergriffen durch das Kloster Einsiedeln betrifft, geht Del-Pietro zudem davon aus, dass ein grosser Teil der «Pionierarbeit» des Klosters Einsiedeln dem früheren Abt Martin Werlen zuzuschreiben sei. «Er war besonders sensibel gegenüber dieser Problematik.»

Komplexe Ordensstruktur

Der Kapuzinerprovinzial nennt die komplexere Ordensstruktur als weiteren Grund, der die Kapuziner von einer umfassenden Aufarbeitung durch eine externe Instanz abhielt. «Der Kapuzinerorden in der Schweiz besteht nicht nur aus einem Kloster. Wir haben noch 16 Klöster in der Schweiz. Eine Aufarbeitung ist deshalb viel aufwendiger.»

Del-Pietro schliesst nicht aus, dass die geplante Kommission dennoch einen Gesamtüberblick über sämtliche sexuelle Übergriffe durch Kapuziner während eines bestimmten Zeitraumes erarbeiten werde. «Dies könnte eine zusätzliche Aufgabe für die Kommission sein. Viel wird davon abhängen, was sie zunächst im Fall Joël Allaz herausfindet.»

Oberster Kapuziner: «Wir müssen zu unseren Fehlern stehen»

Agostino Del-Pietro, Provinzial der Schweizer Kapuziner | © 2016 Adrian Müller
30. März 2017 | 12:12
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