Oberster Kapuziner: «Wir müssen zu unseren Fehlern stehen»

Luzern, 16.2.17 (kath.ch) Ein Schweizer Kapuziner hat jahrelang Kinder sexuell misshandelt. Der höchste Kapuziner der Schweiz, Provinzial Agostino Del Pietro, nimmt im Interview mit kath.ch Stellung zu den Geschehnissen. Er erklärt, warum Joël Allaz nach wie vor Priester ist und im Kloster lebt.

Sylvia Stam

Was geht in Ihnen vor, wenn Sie die Schilderungen von Daniel Pittet lesen?

Agostino Del Pietro: Ich war erschüttert! Vor allem das Kapitel, in dem die Fälle mit Bruder Joël beschrieben werden, konnte ich fast nicht weiterlesen.

Was löst das in Ihnen als Provinzial der Kapuziner aus?

Del Pietro: Wir wussten schon über den Fall, bevor das Buch publiziert wurde. Er wurde 2008 vor Gericht untersucht und das Ergebnis an einer Pressekonferenz den Medien vorgestellt. 2012 wurde Joël von einem Gericht in Frankreich zu zweieinhalb Jahren Gefängnis bedingt verurteilt.

Jetzt stellen sich uns vor allem die Fragen: Welche Fehler haben wir damals gemacht? Warum haben wir diese Fehler gemacht? Was können wir heute tun? Wieder gut machen können wir das Geschehene nicht, aber wir können aus unseren Fehlern lernen. Deshalb müssen wir uns vor allem ebenso fragen: Wie können wir verhindern, dass solche Fehler wieder passieren?

Die Übergriffe geschahen zwischen 1968 und 1972. Was wusste der damalige Provinzial?

Del Pietro: Was die damaligen Verantwortlichen genau wussten, weiss ich leider nicht, da die Betroffenen inzwischen verstorben sind. Der Fall wurde 2008 während mehreren Monaten untersucht, bei dieser Untersuchung war der Fokus auf der Zeit, als Bruder Joël nach Frankreich versetzt wurde, das war 1989.

Warum wurde er nur versetzt?

Del Pietro: Es ist sehr zu bedauern, dass damals die Taten von Joël Allaz nicht direkt beim staatlichen Gericht angezeigt wurden. Das hätte vermutlich weitere Übergriffe verhindert. Aber in kirchlichen Kreisen glaubte man damals, dass man durch Versetzungen das Problem lösen könne; zudem glaubte man auch, auf diese Weise weiteres Aufsehen in der Gesellschaft zu vermeiden. Vermutlich fiel es der damaligen Ordensleitung schwer, zu glauben, dass Bruder Joël zwei Persönlichkeiten hat und ein Wiederholungstäter ist. Er war gut ausgebildet, kam bei den Leuten an. So jemand kann sich so verkaufen, dass man nicht dahinterkommt.

Er wurde also ordensintern nicht zur Rechenschaft gezogen?

Del Pietro: Auch Versetzungen waren eine Art von Strafmassnahmen. Nach 2002 wurden die seelsorgerlichen Tätigkeiten von Bruder Joël stark eingeschränkt. Als Bruder Joël 2005 in die Schweiz zurückkam, wurden wir uns dieser Problematik erst recht bewusst. Bruder Joël musste sich einer Therapie unterziehen, er wurde mit einem strikten Berufsverbot belegt, er darf seit 2006 keine seelsorgerlichen Aufgaben mehr übernehmen, keine Messe mehr lesen und keine Sakramente mehr spenden.

War eine Laisierung oder ein Ordensausschluss Thema?

Del Pietro: Eine Laisierung würde konkret keinen Unterschied machen. Das wäre nur ein «offizielles Wegnehmen» seiner priesterlichen Ämter, die er ohnehin nicht mehr ausführen darf. Ein Ordensausschluss ist ebenfalls kein Thema. Was wäre, wenn er frei in der Gesellschaft leben würde? Das Kloster bietet auch einen Rahmen, innerhalb dessen man ihn beobachten kann. Dass wir ihn versteckt hätten, wie einzelne Medien berichten, stimmt so keineswegs.

Ephrem Bucher war von 2001 bis 2004 Provinzial der Schweizer Kapuziner. Laut «Blick» hat er Joël Allaz’ Taten jahrelang vertuscht, obschon er davon wusste.

Del Pietro: «Vertuschen» ist nicht das richtige Wort. Mit den heutigen Kenntnissen kann man das so sehen. Bruder Joël war in Frankreich, während Bruder Ephrem Schweizer Provinzial war. Bruder Ephrem sagt heute selber, er hätte ihn anzeigen sollen. Ich möchte den ganzen Fall «Joël Allaz» von einer unabhängigen juristischen Kommission untersuchen und aufarbeiten lassen. Ziel ist es, zu erkennen, wo unsere Fehler sind. Wenn wir Fehler gemacht haben, müssen wir zu diesen Fehlern stehen.

Halten Sie es für vertretbar, dass Bucher Mitglied im Fachgremium «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld” der Schweizer Bischofskonferenz (SBK) ist?

Del Pietro: Vielleicht kann man Ephrem Bucher während der Zeit der Aufarbeitung dieses Falls von seiner Tätigkeit bei diesem Fachgremium suspendieren. Ich habe das mit ihm allerdings noch nicht besprochen. Für das Gremium zuständig ist letztlich die SBK.

Wo lebt Joël Allaz heute und wie geht es ihm?

Del Pietro: Er lebt heute im Kapuzinerkloster Wil SG. Er ist 76 Jahre alt, er hat seit Jahren eine schwache Gesundheit. Seit elf Jahren ist er in Therapie, er hat also einen Weg hinter sich. Aber Pädophilie ist praktisch unheilbar.

Sieht er seine Vergehen ein?

Del Pietro: Im Buch von Pittet kommt Bruder Joël zu Wort und nennt sich ein Monster. Somit glaube ich schon, dass er die Dramatik seiner Taten einsieht.

Halten Sie ihn für suizidgefährdet?

Del Pietro: Ja, und ich bin nicht der Einzige, der das so sieht.

Wie würden Sie heute reagieren, wenn jemand Ihnen gegenüber einen Verdacht auf übergriffiges Verhalten durch einen Kapuziner äussern würde?

Del Pietro: Ich würde die Sache sehr ernst nehmen und selber mit der Person reden. Sollte sich der Verdacht erhärten, gilt bei uns die Null-Toleranzregel und es gelten die Richtlinien zu den sexuellen Übergriffen im kirchlichen Umfeld der SBK und der Ordensobern. Mit Erlaubnis des Opfers muss der Täter beim Gericht angezeigt werden. Falls die Gefahr einer Wiederholung besteht, würde ich den Täter selber anzeigen, auch ohne Erlaubnis.

Und wie verhindern die Kapuziner, dass heute solche Übergriffe geschehen?

Del Pietro: Durch dauernde Prävention in der Aus- und Weiterbildung. Die Novizen müssen sich intellektuell mit der Dynamik des Themas auseinandersetzen, ebenfalls ist eine persönliche Auseinandersetzung mit den Themen «Nähe und Distanz» und «Sexualität» Teil ihrer Ausbildung. Dazu werden Fachreferenten eingeladen.

Und all die Brüder, die nicht mehr in Ausbildung sind?

Del Pietro: In den nächsten drei Jahren wird es dazu für alle Kapuziner in allen drei Sprachregionen eine Fortbildung geben. Um solche Katastrophen in Zukunft zu vermeiden müssen alle Brüder sensibilisiert werden. Es gilt, ihnen das heutige Wissen um Pädophilie und Pädosexualität zu vermitteln, wie auch die geltenden Regeln im Umgang mit andern Personen, sowie die Massnahmen, welche zu ergreifen sind, wenn Verdacht auf Übergriffe besteht.

Was bedeutet es für den Kapuzinerorden, dass ein solches Buch veröffentlicht wird?

Del Pietro: Wir hoffen, dass das Buch von Daniel Pittet ein Beitrag sein kann, damit die Komplexität von Pädophilie erkannt wird. Vielleicht realisieren auch andere Pädophile durch die Lektüre des Buches das Ausmass dessen, was sie anrichten.

Wie reagieren die anderen Brüder?

Del Pietro: Als Provinzial wusste ich, dass das Buch herauskommen wird und habe bei meinen offiziellen Besuchen, den Visitationen, in den Klöstern offen darüber informiert. Ein Teil war überrascht, dass der Orden so offen und ehrlich versucht, damit umzugehen. Bisher hat es intern keine Kritik dazu gegeben.


Agostino Del-Pietro, Provinzial der Schweizer Kapuziner | © 2016 Adrian Müller
16. Februar 2017 | 08:16
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