Spital-Nachttisch mit Christus-Ikone
Theologie konkret

Sabine Zgraggen: Wir dürfen Demenzkranke und ihre Angehörigen nicht vergessen

Religion ist für viele Demenz-Kranke eine Ressource, sagt die Spitalseelsorgerin Sabine Zgraggen (53) am Welttag der Kranken. Denn Rituale geben Menschen auch dann Halt, «wenn das Gedächtnis rückwärts gelöscht wird». Ein Gespräch über Scham, Fahrdienste für Demenzkranke – und warum eine reformierte Pfarrerin mitten im Gottesdienst eine Zigaretten-Pause einlegte.

Raphael Rauch

Hatten Sie ein Schlüssel-Erlebnis im Umgang mit Demenz-Kranken?

Sabine Zgraggen*: Demenz heisst: Das Gedächtnis wird rückwärts gelöscht. 80-Jährige erinnern sich an ihre erste Liebe, aber auch an ihren ersten Liebeskummer. Mir erzählte ein älterer Mann, dass er gestern von seiner grossen Liebe zurückgewiesen worden sei. Ich fragte, wie alt er sei. Er sagte: 18. Dann weinte er.

Sabine Zgraggen, Leiterin der Dienststelle Spital- und Klinikseelsorge, Zürich
Sabine Zgraggen, Leiterin der Dienststelle Spital- und Klinikseelsorge, Zürich

Letzten Herbst gabelte die St. Galler Polizei einen Priester aus Deutschland auf. Er war völlig verwirrt. Seine Angehörigen wussten nicht, dass er an Demenz erkrankt war.

Zgraggen: Ich kenne den Fall nicht und kann daher nur allgemein antworten: Demenz ist kein plötzliches Ereignis! Die Krankheit kommt nicht von heute auf morgen. Eine Demenz kommt schleichend, kann aber durch atypisches Verhalten plötzlich ins Bewusstsein der Öffentlichkeit treten. Demenz bleibt lange unerkannt, weil die Menschen Strategien entwickeln, ihre Gedächtnislücken zu verschleiern.

«Die Menschen merken, dass etwas nicht mehr stimmt.»

Zum Beispiel?

Zgraggen: Sie schreiben Listen, die sie abhaken, und hängen Notizzettel auf. Das gibt Orientierung. Sie finden für ihre Vergesslichkeit Ausreden oder haben allgemeingültige Standardsätze. Teilweise ist die räumliche Orientierung noch intakt, aber das Zeitgefühl geht verloren. Die Folge ist: Betroffene ziehen sich immer mehr zurück, um unangenehme Situationen zu vermeiden. So bleiben sie dann auch dem Gottesdienst fern. Leider ist Demenz mit Scham verbunden. Die Menschen merken, dass etwas nicht mehr stimmt. Sie schämen sich – und igeln sich ein.

Demenz-Fachtagung in Bern: Laurence Pesenti zeigt, wie dank des Geruchssinns mit Demenzkranken kommuniziert werden kann.
Demenz-Fachtagung in Bern: Laurence Pesenti zeigt, wie dank des Geruchssinns mit Demenzkranken kommuniziert werden kann.

Was bedeutet Demenz für die Seelsorge?

Zgraggen: Zunächst einmal das Wissen darum, dass rund 150’000 Menschen in unserer Gesellschaft Direktbetroffene sind. Wenn man pro Erkranktem noch fünf Angehörige dazu rechnet, haben wir viele Menschen, die davon betroffen sind. In jeder Pfarrei sind viele krank! Die Angehörigen, die die Last und Auswirkungen tragen müssen, sollten uns aufwecken. Niemand sollte sich dafür schämen müssen, dass Unterstützung und Hilfe nötig werden. 

«Eine demenzfreundliche Pfarrei könnte zur Enttabuisierung beitragen.»

Was ist zu tun?

Zgraggen: Die Seelsorgenden brauchen Fortbildungen in diesem Bereich und Wachsamkeit. Eine demenzfreundliche Pfarrei mit spezifischen Angeboten könnte zur Enttabuisierung beitragen. 

Spitalbett im Kunsthaus Zürich
Spitalbett im Kunsthaus Zürich

«Demenzfreundlich» – verharmlost das nicht eine Krankheit, die Menschen zum Teil aus dem Leben reisst?

Zgraggen: Unter einer demenzfreundlichen Pfarrei verstehe ich, dass es eine gewisse Kompetenz im Umgang mit Demenzkranken gibt und ihnen konkret geholfen wird. Demenz ist umgangssprachlich ein Synonym für Vergesslichkeit. Das reicht für die komplexen Krankheitsbilder nicht. Mit der Krankheit gehen schleichend Persönlichkeitsveränderungen einher. Es treten Eheprobleme auf, lange bevor es eine Diagnose gibt. Alzheimer ist zum Beispiel nur eine Variante. Demenz-Kranke kann man nicht in eine Schublade stecken. Es gibt Formen, die beginnen mit 30 oder 40 Jahren. Es trifft Menschen in ihrem Berufsleben. Sie durchleben Mobbing und werden teilweise arbeitslos, weil die kognitiven Leistungen nicht mehr stimmen und man ihre Krankheit nicht erkennt. All das muss in einer demenzfreundlichen Pfarrei Platz haben.

Inge Jens ans Hans Küngs Beerdigung. Das Grab ihres Mannes Walter Jens ist in der Nachbarschaft von Hans Küngs Grab.
Inge Jens ans Hans Küngs Beerdigung. Das Grab ihres Mannes Walter Jens ist in der Nachbarschaft von Hans Küngs Grab.

Hans Küng hatte Mühe, zu beobachten, wie die Demenz seinen Freund und Weggefährten Walter Jens stark verändert hat. Der grosse Rhetorik-Professor Walter Jens interessierte sich am Ende vor allem für Katzen – und für Hans Küngs Schokolade.

Zgraggen: Es ist ein Schock, wenn Menschen ihre Liebsten und besten Freunde nicht mehr erkennen. Nicht wenige sagen: Da geht die ganze Persönlichkeit verloren. Nach der Diagnose besteht nicht selten der Reflex, die Möglichkeiten für Suizidbeihilfe abzuklären, weil der Kontrollverlust Angst macht. Doch zeigen die Erfahrungen, dass die Menschen durchaus sie selbst bleiben – allerdings anders. 

Bundesverdienstkreuz für Hans Küng und Walter Jens 2003: Von links Johannes Rau; Marianne Saur, Hans Küng, Walter Jens, Inge Jens, Christina Rau.
Bundesverdienstkreuz für Hans Küng und Walter Jens 2003: Von links Johannes Rau; Marianne Saur, Hans Küng, Walter Jens, Inge Jens, Christina Rau.

Wie meinen Sie das?

Zgraggen: Auf der emotionalen Ebene, über unsere Sinne, bleiben sie erreichbar. Jemand, der vorher vielleicht sehr rational war, entdeckt plötzlich andere Seiten, wird sanfter und öffnet sich für neue Welten. Vielleicht verliebt er sich neu. Für die Ehepartner ist das eine Katastrophe! Jede Situation ist anders und jedwede Verklärung, aber auch Verurteilung ist fehl am Platz. Als Seelsorgende stärken wir immer die Ressourcen, die Betroffene haben. Wir schauen nicht nur aufs Defizit, sondern darauf, was dem Menschen Freude macht. Das kann bedeuten, die Weltpolitik beiseitezulassen und die Katze zu streicheln. Anderes wird wichtiger.

«Ein Fahrdienst könnte Demenzerkrankte abholen, damit sie weiterhin am Gottesdienst-Ritual teilnehmen können.»

Was können Pastoralteams machen – ausser Fortbildungen besuchen?

Zgraggen: Die Fortbildungen sind jetzt am Kommen, diese sollten besucht werden. Ansonsten: Die Angebote der Kirchen für Gläubige sind schon heute sehr vielseitig. Sie könnten auf Angehörige von Demenzbetroffenen ausgeweitet werden, denn diese brauchen Entlastung. Auch die Liturgie gibt mit ihren bekannten Abläufen lange Halt. Ein Fahrdienst könnte Demenzerkrankte abholen, damit sie weiterhin am Gottesdienst-Ritual teilnehmen können. 

Marienbild am Spitalbett
Marienbild am Spitalbett

Was ist noch zu tun?

Zgraggen: Wichtig ist das gegenseitige Interesse: Wenn Menschen, die immer kamen, plötzlich wegbleiben, darf uns das nicht egal sein. Auffälliges Verhalten, egal ob es sich um Kindergeschrei oder ein unruhiges Herumlaufen handelt, sollten nicht per se als negative Störungen angesehen werden. Jemand, der immer höflich und korrekt war und nun plötzlich unwirsch reagiert, ist nicht böse, sondern vielleicht überfordert. Was ist, wenn ein Demenzbetroffener während einer Eucharistiefeier laut ruft, weil er vergessen hat, wo er ist? Es gibt diesen Grundsatz aus der Psychologie: Störungen haben immer Vorrang! Wir sollten uns für das interessieren, was dahintersteckt.

«Mensch, eine Zigi-Pause würde mir jetzt auch guttun!»

Fällt Ihnen ein Beispiel ein, wie ein Demenz-Kranker in der Pfarrei für Irritationen sorgen kann?

Zgraggen: Ich war auf einer Demenz-Tagung in Bern. Eine Referentin erzählte, dass einmal in einem Gottesdienst eine Frau nach vorne zum Altar ging und sich an der Kerze eine Zigarette anzündete. Es war klar, dass die Frau verwirrt war. Ein Mann stand auf und wollte ihr die Zigarette entreissen. Doch die Pfarrerin reagierte geistesgegenwärtig und sagte: Mensch, eine Zigi-Pause würde mir jetzt auch guttun! Sie hat den Gottesdienst unterbrochen und mit der Frau eine Zigi geraucht – und so die Situation entdramatisiert. Überhaupt ist Entdramatisierung in vielen Situationen das richtige Stichwort. Mir fällt noch ein Beispiel ein.

Luftballon-Start
Luftballon-Start

Welches?

Zgraggen: Die Referentin berichtete auch, wie an einem 100. Geburtstag die Geburtstagsrunde auf die demenzkranke Jubilarin anstiess. Plötzlich sagte diese: «Heil Hitler!» Alle schauten betreten drein. Die Pfarrerin rettete auch hier die Situation und sagte der erstarrten Gästeschar: «Das hat man früher gesagt und heute sagt man: Hoch soll sie leben!» Dann wurde eine Runde gesungen und der Fauxpas war vom Tisch. Mit Demenz-Kranken gibt’s oft viel Situationskomik, auf die man adäquat und schnell reagieren muss.

«Menschen sind grundsätzlich anstrengend (lacht).»

Ist es nicht furchtbar anstrengend, wenn Demenz-Kranke immer dasselbe fragen? Und man immer dasselbe erzählen muss?

Zgraggen: Menschen sind grundsätzlich anstrengend (lacht). Klar zerren die stetigen Wiederholungen an den Nerven. Aber es ist auch nervig, wenn bei einem Baby die Windel schon wieder voll ist. Das Wickeln hat ein nettes Image – aber die Care-Arbeit mit Demenzkranken, oder gebrechlichen Menschen allgemein, ist uns lästig. Da stimmt doch was in unserer Gesellschaft nicht! Es gibt übrigens ein Verfahren, das sich «Validierung» nennt. 

Die Bibel auf den Punkt gebracht.
Die Bibel auf den Punkt gebracht.

Was ist eine «Validierung»?

Zgraggen: Wenn die immer gleichen Fragen kommen, gibt es eine Technik, das emotionale Bedürfnis, das dahintersteht, aufzugreifen und die richtige Intervention zu starten. Ich war mal auf einer Demenzabteilung, als eine Frau immerzu schrie: «Da hinten verbrennen Kinder.» Es half ihr nichts, wenn man ihr sagte: «Da hinten brennt nichts.» Der Frau ging es um etwas anderes – womöglich um ein Trauma aus dem Zweiten Weltkrieg.

Das Graffito "Trauma-Tomico" des Künstlers Sirante  zeigt Papst Franziskus weinend mit einer Hand vor den Augen, über ihm ein Atompilz.
Das Graffito "Trauma-Tomico" des Künstlers Sirante zeigt Papst Franziskus weinend mit einer Hand vor den Augen, über ihm ein Atompilz.

Wie haben Sie darauf reagiert?

Zgraggen: Validierung bedeutet, die Emotion ernst zu nehmen und darauf empathisch zu reagieren. In so einer Situation könnte man sagen: «Das ist ja furchtbar! Wir schauen jetzt gemeinsam da hinten nach.» Die Frau hatte Todespanik – doch danach war sie zufrieden und beruhigte sich. Wir müssen die Sorgen von demenzkranken Menschen ernst nehmen.

«Über Berührung und Duft, etwa mit Ölen, ist eine intensive Kommunikation möglich.»

Welche non-verbalen Seelsorge-Möglichkeiten gibt es bei Demenz-Kranken?

Zgraggen: Das Gehör ist bis zum Schluss bei allen Menschen immer noch für Musik und sanfte Töne empfänglich. Darum ist es entscheidend, dass sich der Stress des Personals und der Angehörigen möglichst nicht gefühlsmässig überträgt. Singen und Musizieren wirkt manchmal Wunder. Lieder, aber auch bekannte Gebete, geben Heimat. Über Berührung und Duft, etwa mit Ölen, ist eine intensive Kommunikation möglich. Das gilt auch für Schwerkranke. Demenz-Kranke haben oft einen hohen Bewegungsdrang. 

Duftende Öle von Seelsorgerin Laurence Pesenti, biblische Bezüge und Wohlgeruch – so kann Seelsorge für Demenzkranke aussehen.
Duftende Öle von Seelsorgerin Laurence Pesenti, biblische Bezüge und Wohlgeruch – so kann Seelsorge für Demenzkranke aussehen.

…und es gibt zu wenig Pflegepersonal, um mit ihnen ständig spazieren gehen zu können…

Zgraggen: Die Architektur entdeckt hier neue Möglichkeiten, mit Lichthöfen und langen Handläufen, so dass Betroffene lange allein ihre Bahnen ziehen können – ganz selbstbestimmt. 

«Viele Leiden bleiben unentdeckt. Nicht wenige Menschen sind verzweifelt.»

Was ist Ihr Appell zum Welttag der Kranken?

Zgraggen: Demenz ist eine Volkskrankheit. In der Schweiz gibt’s jedes Jahr 30›000 neue Demenz-Diagnosen. Es wird Zeit, dass wir das Thema Demenz nicht nur als Nischenthema der Spital- oder Betagtenseelsorge sehen, sondern als Mainstream-Thema, das uns alle betreffen kann. Wichtig ist mir, dass die Seelsorgenden Mechanismen lernen, wie man Demenz besser erkennen und Angehörige unterstützen kann. Wichtig ist auch: Es ist keine Schande, auf Hilfe angewiesen zu sein! Wir tun oftmals so, als wäre es da höchste Gut, alleine mit allem klarzukommen. Doch das stimmt nicht. Menschlich ist es, gemeinsam Probleme zu bewältigen, einander ehrlich zu sagen, wie es einem geht. Über Ängste und Sorgen auszutauschen und die eigene Schwachheit annehmen zu lernen. Darin sind wir leider keine Helden. Viele Leiden bleiben unentdeckt. Nicht wenige Menschen sind verzweifelt.

* Sabine Zgraggen (53) leitet die Spital- und Klinikseelsorge der katholischen Kirche im Kanton Zürich. Rund 40 Spital- und Klinik-Seelsorgende sind im Kanton Zürich an 33 Standorten präsent. Am 5. März begeht die katholische Kirche in der Schweiz den Tag der Kranken.


Spital-Nachttisch mit Christus-Ikone | © Sabine Zgraggen
5. März 2023 | 06:41
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