Inge Jens ans Hans Küngs Beerdigung. Das Grab ihres Mannes Walter Jens ist in der Nachbarschaft von Hans Küngs Grab.
Schweiz

Für Inge Jens war Hans Küngs Sempachersee «das Paradies»

Walter und Inge Jens gehörten zum engen Freundeskreis von Hans Küng. Walter Jens starb 2013. Am 23. Dezember ist Inge Jens im Alter von 94 Jahren gestorben. Über eine letzte Begegnung im April.

Raphael Rauch

Wer in Tübingen studiert hat, kam lange Zeit an Hans Küng und Walter Jens nicht vorbei. Hans Küng, der grosse Theologe; Walter Jens, der grosse Rhetoriker. Am Tag vor Heiligabend ist Inge Jens gestorben – «unsere letzte intellektuelle Grande Dame», wie sie die «Welt» nun würdigte. 

Walter Jens starb 2013

Eine letzte Begegnung in Tübingen am 15. April 2021 – ein Tag vor Hans Küngs Beerdigung. Thema ist natürlich Hans Küng. Den Tee kocht Inge Jens nach wie vor selbst. Sie erzählt, was ihr Hans Küng bedeutet hat. Wie sie noch vor ein paar Tagen bei ihm war – wie jeden Samstag in den letzten Jahren.

Inge Jens im April 2021 in Tübingen.
Inge Jens im April 2021 in Tübingen.

2020 hat Inge Jens ihren Sohn Tilman verloren – er hatte mit 65 Jahren sich das Leben genommen. Ihr Ehemann, der grosse Rhetorik-Professor Walter Jens, ist 2013 mit 90 Jahren gestorben.

Eine Erinnerung an Sursee

Inge Jens erzählt von der tiefen Freundschaft zwischen Walter Jens und Hans Küng. Über die intellektuellen Gespräche, die sie geführt haben, aber auch über die Leichtigkeit des Seins. «Ungefähr acht Meter, primitiv im Keller», so beschreibt Inge Jens ein kleines Wasserbecken, das die Jens früher zuhause hatten. Als Hans Küng noch kein grosses Haus mit eigenem Schwimmbad hatte, kam er «jeden Tag angejoggt», um bei den Jens kleine Runden zu drehen.

Hans Küng auf seinem Grundstück in Sursee.
Hans Küng auf seinem Grundstück in Sursee.

Hans Küng revanchierte sich mit einer Einladung an den Sempachersee. Dort hatte er ein Ferienhaus, wohin er Freunde einlud. «Da ich sehr gerne schwamm, bin ich auch viel im See geschwommen. Das ist für mich das Paradies gewesen», erzählt Inge Jens. 

Entzug der Lehrerlaubnis

Freundschaften wachsen in Krisenzeiten. Das war auch 1979 so, als Johannes Paul II. Hans Küng die Lehrerlaubnis entzog. Küng war Beamter des Landes Baden-Württemberg – er konnte auch nach Entzug der Lehrerlaubnis Professor bleiben. Trotzdem machte er sich Sorgen. 

Inge Jens und Walter Jens mit Josef Tal an der Akademie der Künste (2004)
Inge Jens und Walter Jens mit Josef Tal an der Akademie der Künste (2004)

Inge Jens erzählt, sie könne sich noch genau an Hans Küngs Worte erinnern: «In dem Moment, wo ich keine Examina mehr abnehmen kann, wird kein Mensch mir mehr zuhören. Unsere Studenten sind auf das Examen ausgerichtet, die wollen ihr Studium durchziehen.»

Doch es gab andere Möglichkeiten. Statt dem überschaubaren Tübinger Theologicum füllte Hans Küng mit Walter Jens den grössten Saal der Universität im «Studium generale». Literatur und Religion, Dichtung und Wahrheit: Hans Küng und Walter Jens hatten ein neues Thema gefunden. Und Hans Küng fand mit dem «Weltethos» eine neue Berufung.

Die «zölibatäre Treppe»

Bundesverdienstkreuz für Hans Küng und Walter Jens 2003: Von links Johannes Rau; Marianne Saur, Hans Küng, Walter Jens, Inge Jens, Christina Rau.
Bundesverdienstkreuz für Hans Küng und Walter Jens 2003: Von links Johannes Rau; Marianne Saur, Hans Küng, Walter Jens, Inge Jens, Christina Rau.

Hans Küng lebte später mit der Witwe Marianne Saur zusammen. Beide im selben Haus, aber mit getrennten Wohnungen, die über eine Treppe verbunden waren. Ihr Mann Walter habe das Wort «zölibatäre Treppe» erfunden, sagt Inge Jens und lacht. Der Begriff sei im Freundeskreis zum Running Gag geworden.

«Wie ein Hund gelitten»

Inge Jens erzählt gerne von Hans Küng. Die Protestantin aus Norddeutschland kann der katholischen Hierarche wenig abgewinnen. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin zitiert aus Schillers Wilhelm Tell: «Eine Grenze hat Tyrannenmacht.» Küng erinnere sie an Wilhelm Tell. Und Küng habe «wie ein Hund gelitten, weil er bis zuletzt ein treuer Sohn der Kirche gewesen ist. Aber die Kirche hat es nicht begriffen.» 

Der versöhnliche Briefwechsel mit Papst Franziskus habe Hans Küng viel bedeutet. Doch die offizielle Rehabilitierung, die fehle.

Schweizer Schoggi für Walter Jens

Hans Küng und Walter Jens haben zusammen ein Buch geschrieben: «Menschenwürdig sterben – Ein Plädoyer für Selbstverantwortung». Beide haben von der aktiven Sterbehilfe nicht Gebrauch gemacht. Walter Jens erkrankte an Demenz, Hans Küng an Parkinson.

Tübingen trauert um Hans Küng.
Tübingen trauert um Hans Küng.

Die Demenz-Erkrankung hat Walter Jens verändert. «Hans Küng hat meinen Mann besucht, ihm rührend Schweizer Schokolade gebracht», erzählt Inge Jens. «Im Grunde stand er hilflos diesem kranken Freund gegenüber, der ihn ja auch nicht mehr erkannte.» Sie habe Hans Küng sagen müssen: «Du musst Walter die Schokolade auspacken, weil er sonst nicht weiss, was er mit der Schokolade machen muss.»

In den letzten Jahren: Samstag-Ritual bei Hans Küng

Am engsten sei ihre Freundschaft zu Hans Küng in den letzten Jahren geworden, erzählt Inge Jens – und zwar nach dem Tod ihres Mannes 2013. Samstags gab es ein Ritual: Mittagessen bei Hans Küng. Hans Küng, Marianne Saur und Inge Jens trafen sich zu dritt, irgendwann kamen alle mit dem Rollator, sagt Inge Jens und lacht wieder.

Zwei polnische Pflegerinnen (links) und die Hauswirtschafterin (rechts) haben Hans Küng umsorgt – und waren dabei, als er am Osterdienstag starb.
Zwei polnische Pflegerinnen (links) und die Hauswirtschafterin (rechts) haben Hans Küng umsorgt – und waren dabei, als er am Osterdienstag starb.

2018 starb Marianne Saur. Als die Reise mit Bus und Rollator zu beschwerlich wurde, holten Küngs polnische Pflegerinnen Inge Jens mit dem Auto ab. «Manchmal habe ich aus der Zeitung vorgelesen. Oft hatte Hans etwas vorbereitet und gesagt: Darüber würde ich gern noch mal mit dir sprechen. Am Ende sagte er nicht mehr viel, aber wir haben uns trotzdem verstanden», sagt Inge Jens.

Eine mutige Frau

Was am Tag vor Hans Küngs Beerdigung zu kurz kommt: Inge Jens’ Leben abseits von Walter Jens und Hans Küng. Wie sie als junge Literaturwissenschaftlerin Katia Pringsheim in Zürich traf, die Witwe von Thomas Mann.

Wie sie Briefe und Aufzeichnungen der Widerstandskämpfer Hans und Sophie Scholl und die Tagebücher von Thomas Mann herausgab. Wie sie sich in den 1980er-Jahren in der Friedensbewegung engagierte, Sitzblockaden vor einem Atomwaffendepot abhielt oder während des Golfkriegs desertierte US-Soldaten zuhause versteckte. Und wie die grossen Intellektuellen der Bundesrepublik bei den Jens ein- und ausgingen.

Küngs Grab in Tübingen.
Küngs Grab in Tübingen.

Am Tag vor Hans Küngs Beerdigung sagt Inge Jens: «Von mir kriegt Hans Küng Blumen, wenn die anderen verblüht sind.» Zwei Gräber neben Hans Küngs Grab liegen Inge Jens’ Mann Walter und der Sohn Tilman. Und bald auch Inge Jens, die «letzte intellektuelle Grande Dame».


Inge Jens ans Hans Küngs Beerdigung. Das Grab ihres Mannes Walter Jens ist in der Nachbarschaft von Hans Küngs Grab. | © Raphael Rauch
28. Dezember 2021 | 19:53
Lesezeit: ca. 4 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!