Palliativmediziner Gian Domenico Borasio am Nationalen Palliative Care-Kongress in Biel.
Schweiz

Palliativmediziner Borasio: «Ein Tsunami von hochaltrigen Sterbenden kommt auf uns zu»

In der Schweiz leben immer mehr alte Menschen, viele davon leiden an Demenz. Ihre Pflege am Lebensende ist eine grosse Herausforderung. «Weder die Gesellschaft noch die Gesundheitseinrichtungen sind derzeit darauf eingerichtet, die palliative Pflege zu leisten», warnt Gian Domenico Borasio am Nationalen Palliative Care-Kongress in Biel. Präsent waren auch die meist kirchlich finanzierten Palliativ-Seelsorgenden.

Sabine Zgraggen*

Gegenüber des Kongresshauses in Biel wird an diesem Mittwoch gerade der Weihnachtsmarkt aufgebaut. Den ganzen Tag über wird gehämmert und gezimmert. Zeitgleich pilgern Scharen von Gesundheitsfachleuten zum zweitägigen Kongress für Palliative Care, um an einer menschenwürdigen Pflege und Behandlung der Zukunft zu zimmern. Das Motto in diesem Jahr ist «Gelebte Vielfalt», die den Blick auf besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen legt.

Vortragssaal: Rund 800 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den Bereichen Pflege und Medizin sind angereist.
Vortragssaal: Rund 800 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den Bereichen Pflege und Medizin sind angereist.

«Palliative Care» ist als Fachbegriff dabei noch immer nicht in der breiten Bevölkerung angekommen: Es geht um die bestmögliche Pflege bei Schwerkranken unter der besonderen Berücksichtigung einer optimalen Schmerzbehandlung, Wahrung von Autonomie und der darauf abgestimmten, ganzheitlichen Pflege. Dabei nehmen Krebserkrankungen nur ein Fünftel der Todesursache ein. Fast die Hälfte sind inzwischen hochaltrige Menschen mit Demenzerkrankungen, Tendenz steigend.

Gesundheitswesen ungenügend vorbereitet

Diese brauchen eine komplexe Behandlung und eine besonders aufmerksame Begleitung ihrer Angehörigen. «Weder die Gesellschaft noch die Gesundheitseinrichtungen sind derzeit darauf eingerichtet, die palliative Pflege zu leisten. Ein Tsunami von hochaltrigen Sterbenden kommt auf uns zu», warnt der Pallliativmediziner Gian Domenico Borasio vor den rund 800 Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kongresses.

Motto des Nationalen Palliative Care-Kongresses vom 22. und 23. November in Biel.
Motto des Nationalen Palliative Care-Kongresses vom 22. und 23. November in Biel.

Es ist ein Wiedersehen von national und international bekannten Grössen. Borasio, Professor für Palliativmedizin an der Universität Lausanne, wird an diesem Kongress mit Standing Ovation verabschiedet. Zwölf Jahre hat er verdienstvoll für die Schweiz gewirkt. Anne Vaandenhoeck, aus Belgien, ruft am Kongress allen zu: «Everyone is spiritual» – jeder Mensch ist spirituell. Diese Dimension des Menschseins gehört wesentlich in der Behandlung mit dazu.

Fragen, die sich angesichts von Tod und Sterben stellen.
Fragen, die sich angesichts von Tod und Sterben stellen.

Keine Infrastruktur fürs Sterben im Gefängnis

Manuela Weichelt tritt erstmals als neue Präsidentin des Vereins «palliative.ch» auf. Sie kritisiert, die Umsetzung der Pflegeinitiative sei «im Schlafwagen unterwegs». Und fordert: «Das muss sich ändern.» Hans Wolff, eine Koryphäe der Gefängnismedizin, weist auf einen wenig beachteten Umstand: «Auch die Inhaftierten werden älter und nicht wenige werden im Gefängnis sterben, dafür gibt es bisher keine Infrastruktur.»

Palliative Care-Kongress in Biel, mittendrin der Stand der Seelsorgenden.
Palliative Care-Kongress in Biel, mittendrin der Stand der Seelsorgenden.

Menschen mit Migrationshintergrund sind besonders benachteiligt, sagt Dagmar Demenig aus Olten in ihrem Referat. Sie befasst sich mit dem Zusammenhang zwischen Migration und Gesundheit. «Vorstellungen von einem guten Sterben sind sehr unterschiedlich. Unsere westlichen Vorstellungen passen nicht für alle. Wir müssen in einen echten Dialog eintreten, sonst folgt Diskriminierung.» Auf den Punkt bringt sie es mit dem Satz: «Empathische Kommunikation ist keine Zeitfrage».

Kriterien für die Seelsorge

Auch die Fachgruppe Seelsorge, unter der Leitung von Stefan Mayer (Aarau) und Mitwirkung von Annette Meyer (Lausanne), Renata Aebi (Chur) und Daniel Burger (Zürich) tagt im Rahmen des Kongresses. Sie verabschiedet demnächst Kriterien der Seelsorge als spezialisierte Spiritual Care in Palliative-Einrichtungen. Ausbildungsstandards, verlässliche Präsenzzeiten und Zusammenarbeit mit den Pflegeexpertinnen und Experten stehen hierbei im Mittelpunkt.

Vorstand der Fachgruppe Seelsorge (v. l. n. r.): Annette Meyer (Lausanne), Stefan Mayer (Aarau) und Renata Aebi (Graubünden).
Vorstand der Fachgruppe Seelsorge (v. l. n. r.): Annette Meyer (Lausanne), Stefan Mayer (Aarau) und Renata Aebi (Graubünden).

Die bisher meistens noch kirchlich finanzierte Spezialseelsorge hat sich bei der nationalen Gesundheitsversorgung eine wichtige Rolle erarbeitet und wird als Partnerin auf Augenhöhe im Medizinkontext akzeptiert.

Vielfalt von Sterben und Tod

In dem kleinen, aber feinen Atelier von Tina Braun werden Fotos im Zusammenhang mit dem Lebensende erforscht. 618 Fotos aus dem Internet wurden analysiert und zeigen eine erschreckende, klischeehafte Verengung in der Bildersprache.

Ein KI-generiertes Foto zum Thema Pflege.
Ein KI-generiertes Foto zum Thema Pflege.

Als Beispiel dient ein von ihr mittels KI generiertes Foto, das ein stereotypes Muster von Pflege zeigt. Dabei falle «Diversity» völlig unter den Tisch, sagt Tina Braun. Sterben und Tod habe wesentlich vielfältigere Facetten. Mit solchen Bildern werde nur «die Ideologie des guten Alterns» fortgesetzt. Braun empfiehlt die eigene Auseinandersetzung mit dem Thema und wirbt für eine neue, differenziertere Bildersprache.

*Sabine Zgraggen ist in der Gesamtleitung der katholischen Spitalseelsorge im Kanton Zürich tätig. Seit 2005 arbeitete sie als Psychiatrieseelsorgerin und leitete das katholische Seelsorgeteam der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich. In ihrem Erstberuf war sie als Pflegeexpertin während zehn Jahren auf einer Intensiv-Überwachungsstation aktiv.


Palliativmediziner Gian Domenico Borasio am Nationalen Palliative Care-Kongress in Biel. | © Sabine Zgraggen
25. November 2023 | 11:30
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