Nicolas Betticher bezog sich bei seiner Aussage auf das Pressekommuniqué des Bistums.
Schweiz

Nicolas Betticher: «Eine von Angst geleitete bischöfliche Kommunikation ist zum Scheitern verurteilt»

Nicolas Betticher (61) war sechs Jahre lang Kommunikationschef der Schweizer Bischöfe. Konstruktive Kritik sei essenziell. Die Öffentlichkeitsarbeit des Netzwerkes «COMDIO» ziele auf Kontrolle und «ist zum Scheitern verurteilt». Der Veröffentlichung der nationalen Missbrauchsvorstudie im September sieht Betticher daher «mit grosser Besorgnis» entgegen.

Annalena Müller

Herr Betticher, Sie waren sechs Jahre lang für die Kommunikation der SBK verantwortlich. Müssen Bischöfe von ihren Kommunikationsverantwortlichen verteidigt werden?

Nicolas Betticher*: Diese Frage wirft bei mir eine andere auf. Nämlich die nach dem Ziel der bischöflichen Kommunikation. Das Ziel ist die Verkündigung des Evangeliums. Und dafür ist transparente Kommunikation zentral. Bischöfe sprechen nicht nur zu einigen Ausgewählten innerhalb der katholischen Kirche. Sie sprechen zu einer globalisierten Gesellschaft, in der es viele Akteure gibt. Dazu gehören auch Personen, die kritisch gegenüber der Kirche sind. Eine glaubwürdige bischöfliche Kommunikation spricht transparent, sie spricht zu allen und sie wählt eine Sprache, die alle verstehen.

Für diese Breitenkommunikation war die im März aufgelöste bischöfliche Medienkommission zuständig. An deren Stelle steht nun das diözesane Kommunikationsnetzwerk «COMDIO». Ist das ein guter Ersatz?

Betticher: Das eine kann das andere nicht ersetzen. Übrigens: An «COMDIO» ist nur der Name neu, nicht das Netzwerk an sich. Ich habe ein solches diözesanes Kommunikationsnetzwerk bereits im Jahr 2000 gegründet. Aber gleichzeitig war ich natürlich als Sprecher der SBK auch Mitglied der Medienkommission.

Ein Bild aus vergangenen Zeiten: Die Medienkommission der SBK war 2015 zu Besuch bei kath.ch (v.l. M. Savary, K. Brunner, D. Kosch, C. Martig)
Ein Bild aus vergangenen Zeiten: Die Medienkommission der SBK war 2015 zu Besuch bei kath.ch (v.l. M. Savary, K. Brunner, D. Kosch, C. Martig)

Es gab also zwei Gremien – ein diözesanes Kommunikationsnetzwerk und die breiter besetzte Medienkommission?

Betticher: Ja. Und von den beiden war die Medienkommission das wichtigere Gremium. In unserem internen Netzwerk ging es vor allem um pastorale Aufgaben. In der Medienkommission hingegen sassen auch Vertreter und Vertreterinnen des dualen Systems und der Medien. Die Medienkommission war daher der Ort, an dem Kommunikationsstrategien entwickelt wurden und wo der Austausch zwischen den verschiedenen Akteuren stattfand.

Würden Sie dem Generalsekretär der RKZ, Urs Brosi, zustimmen, dass ein diözesanes Kommunikationsnetzwerk durchaus wünschenswert ist, dass es aber die Arbeit der Medienkommission nicht ersetzen kann?

Betticher: Absolut. Die Medienkommission war ein ganz anderer Player. Eine der zentralen Aufgaben der Kommission war es, die Aussenwahrnehmung der Bischöfe zu beobachten und gegebenenfalls gegenzusteuern.

«Wir waren nicht da, um zu loben.»

Wie muss ich mir das konkret vorstellen?

Betticher: Ich war damals mit Simon Spengler in der SBK tätig. Jeden Samstag haben wir eine Presseschau für die Bischöfe gemacht. Und da ging es durchaus kritisch zu. Aber das war wichtig. Wir waren schliesslich nicht da, um zu loben. Lob interessiert niemanden. Sondern wir waren da, um den Bischöfen zur Seite zu stehen und ihnen gegebenenfalls zu sagen: «das müsste verbessert werden» und: «Hier kommen Herausforderungen auf uns zu, da müssen wir uns vorbereiten».

Das heisst: Ihre Aufgabe war es, eine Kommunikationsstrategie zu entwickeln und zu schauen, wo es Probleme gibt und wie man am besten darauf reagiert?

Betticher: Genau. Und das geht nicht ohne kritisches Feedback. Allerdings haben schon damals nicht alle verstanden, wie wichtig – und konstruktiv – Kritik ist. Eines Morgens haben Simon und ich eine E-Mail von einem Bischof bekommen. Der Bischof hat uns beide scharf angegriffen, weil wir immer so viel Kritik vorbrächten, anstatt uns auf das Positive zu fokussieren.

Nimmt kein Blatt vor den Mund: Simon Spengler war früher bei der SBK tätig.
Nimmt kein Blatt vor den Mund: Simon Spengler war früher bei der SBK tätig.

Simon Spengler ist gelernter Journalist, Sie sind Theologe. Die Medienarbeit der SBK und auch die Medienkommission selbst waren «interdisziplinär» besetzt. Warum war das sinnvoll?

Betticher: Weil dies schlicht den Fokus und damit auch das Verständnis erweitert hat. Wie gesagt: Bischöfe kommunizieren nicht nur mit einer katholischen Elite, sondern mit der gesamten Gesellschaft. Und das machen sie vor allem über die Medien. Der Umgang mit Medien wiederum läuft nach gewissen Regeln – Medien funktionieren nach anderen Grundsätzen als die Kirche. Das ist einfach eine Realität, die man akzeptieren muss, sonst misslingt die Kommunikation. Entsprechend waren in der Medienkommission verschiedene Fachleute vertreten. Es war ein Journalist des Schweizer Fernsehens dabei, Personen aus den staatskirchlichen und den kirchenrechtlichen Behörden, die Verbände waren vertreten und so weiter.

«Wenn wir im September gefragt werden: ‹Hat die Kirche in den letzten 50 Jahren versagt?› können wir ja schlecht sagen: ‹Moment, ich rufe mal bei meiner Diözese an und frage, was ich antworten darf.›»

Die Medienkommission wurde zum 31. März 2023 aufgelöst. Wäre eine solche gemischte Kommission im Hinblick auf die Veröffentlichung der nationalen Missbrauchs-Vorstudie am 12. September nicht besonders wichtig?

Betticher: Absolut! Die aktuelle Kommunikation der SBK scheint mir hier alles andere als ideal. Ich habe neulich von der SBK eine E-Mail erhalten. Ich weiss nicht, warum ich sie bekommen habe. Wahrscheinlich haben alle Pfarrer in der Schweiz die gleiche erhalten. In der E-Mail hiess es bezüglich des 12. Septembers: Ihr dürft nichts sagen, ohne mit dem Kommunikationsverantwortlichen eures Bistums gesprochen zu haben. Ich sehe den Sinn einer solchen Massnahme, aber das genügt nicht.

Julia Moreno hat ein anderes Verständnis von Kommunikationsarbeit als Nicolas Betticher und Simon Spengler
Julia Moreno hat ein anderes Verständnis von Kommunikationsarbeit als Nicolas Betticher und Simon Spengler

Wie meinen Sie das?

Betticher: In dieser Mail wurde eine Prozedur festgelegt, aber es fehlte jeglicher Inhalt. Was heisst das denn konkret? Wie soll ich reagieren, wenn ich – oder andere Pfarrer – nach der Messe von Kirchgängern oder einer Journalistin vom Lokalradio angesprochen werde? Neben den Bischöfen als oberste Verantwortungsträger sind es ja vor allem die Pfarrer, Vikare und Seelsorgenden, die im September Rede und Antwort stehen müssen. Wenn wir im September gefragt werden: «Hat die Kirche in den letzten 50 Jahren versagt?» können wir ja schlecht sagen: «Moment, ich rufe mal bei meiner Diözese an und frage, was ich antworten darf.» Wir brauchen jetzt dringend eine inhaltliche Vorbereitung auf den 12. September.

Wünschen Sie sich vorgefertigte Antworten für solche Fragen?

Betticher: Nein, das würde auch nichts bringen. Es geht vielmehr um Leitlinien, an denen sich auch diejenigen orientieren können, die sich nicht mit allen Einzelheiten des Themas auskennen. Inhaltliche Leitlinien im Sinne von: Was bedeutet Prävention? Was sagen Kirchenrecht, Staatskirchenrecht und der Rechtsstaat? Aber auch kommunikative: Wie reagiert man auf kritische Fragen? Verteidigt man dann die Kirche? Entschuldigt man sich? Oder übernimmt man Verantwortung? Ich plädiere für letzteres. Aber hier wären Leitlinien sehr wichtig. Sonst kommt es zu einem kommunikativen Chaos – und das ist vermeidbar.

Und diese inhaltliche Vorbereitung könnte ein interdisziplinäres Gremium besser leisten als eines, das aus diözesanen Kommunikationsbeauftragten besteht?

Betticher: Ja. Schlicht, weil ein interdisziplinäres Gremium eine grössere Expertise und einen breiteren Blickwinkel hat.

«Es gibt den Wunsch, Kommunikation zu drosseln.»

Neben der einseitigen Besetzung des COMDIO-Netzwerkes erscheint auch dessen Kommunikationsstrategie befremdlich. Während der Recherchen zu den Mitgliedern des Netzwerkes wurde mir gesagt, dass zuerst intern abgeklärt werden müsse, ob man die Namen der Kommunikationsbeauftragten bekannt machen dürfe. Ist Geheimnistuerei und Öffentlichkeitsarbeit nicht ein Widerspruch in sich?

Betticher: Ich muss sagen, dass ich eine solche Reaktion nicht verstehe. Vier Monate nach Auflösung der Medienkommission und wenige Wochen vor dem 12. September müsste es auf den Homepages der SBK und der Diözesen eine Liste mit den Namen aller diözesanen Kommunikationsverantwortlichen und des COMDIO-Netzwerkes geben. Wenn jemand Ihnen sogar auf Nachfrage sagt, das müsse erst intern abgeklärt werden, dann heisst das für mich: Es gibt den Wunsch, Kommunikation zu drosseln. Das wiederum kann ich mir nur mit Angst erklären.

Angst wovor?

Betticher: Angst, dass die Kommunikation in alle Richtungen geht. Und das führt zu dem Wunsch, Kommunikation kontrollieren zu wollen, um so alles im Griff zu behalten. Aber das ist der schlechteste Ansatz für eine saubere Öffentlichkeitsarbeit.

Wieso?

Betticher: Man versucht, die Kirche durch Kommunikation zu führen, im Sinne von: Einheit wahren und das Ganze straff leiten. Ich denke, dieser Weg ist zum Scheitern verurteilt. Es ist immer besser, zu sagen, wie es ist. Soll heissen: Wir müssen Fragen auf uns zukommen lassen und das Beste daraus machen. Aber natürlich muss man dafür geschult sein. Und darum komme ich auf den Punkt von vorhin zurück: Es fehlen mir die Inhalte.

Nicolas Betticher.
Nicolas Betticher.

Wie schauen Sie dem 12. September aus kommunikativer Sicht entgegen?

Betticher: Mit grosser Besorgnis. Natürlich wird Bischof Felix Gmür als Präsident der SBK den Medien Rede und Antwort stehen. Aber das genügt nicht. Je nachdem, was im Bericht der Forschungskommission steht, werden auch die Bistümer selbst Rechenschaft ablegen müssen. Ich kann nur hoffen, dass es hier eine strategisch gute Öffentlichkeitsarbeit gibt, dass sich die sechs Bischöfe und die beiden Territorialäbte haben schulen lassen und dass sie gute Leute an ihrer Seite haben. Diese Art der komplexen Öffentlichkeitsarbeit, die im September anstehen wird, kann ein loses Kommunikationsnetzwerk wie COMDIO nicht leisten.

* Nicolas Betticher (61) war von 1995 bis 2000 Sprecher der Schweizer Bischofskonferenz. Danach war er Mitarbeiter von Bundesrätin Ruth Metzler, bevor er 2001 Kanzler des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg wurde. 2009 ernannte ihn Bischof Bernard Genoud zum Generalvikar. Nach der Amtsübernahme durch Charles Morerod ging Betticher nach Bern als Sekretär der Nuntiatur. Seit 2015 ist er Pfarrer und Pfarreileiter von Bruder Klaus in Bern. Er ist ausserdem Offizial am interdiözesanen Gericht.

Mitteilung der SBK zu COMDIO vom 4. April 2023:


Nicolas Betticher bezog sich bei seiner Aussage auf das Pressekommuniqué des Bistums. | © Screenshot SRF
28. Juli 2023 | 08:59
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