Der Nazi-Stein auf dem Friedhof in Chur
Schweiz

Nazi-Stein in Chur: Was soll mit dem umstrittenen Denkmal geschehen?

Auf dem Churer Friedhof Daleu entdeckte eine SRF-Journalistin ein Nazi-Denkmal. Das erste in der Schweiz. Nun wünscht sich Jonathan Kreutner vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) «nicht nur eine Tafel, sondern eine Debatte zur Thematik».

Sarah Stutte

Ende Januar deckte SRF in einer investigativen Reportage auf, dass mitten in Chur, und zwar auf dem Friedhof Daleu, ein Nazi-Denkmal aus dem Jahr 1938 steht. Angeblich war dieses Teil eines Totenkults der Nationalsozialisten, mit dem Adolf Hitler sein Drittes Reich stärkte und den Zweiten Weltkrieg rechtfertigte. Schliesslich sollte ein Sieg das Vermächtnis an die gefallenen deutschen Soldaten des Ersten Weltkriegs sein.

Ideologie auch in der Schweiz

Das Mahnmal in Chur gedachte der Internierten, die von 1914 bis 1918 im Ausland gestorben waren. Auftraggeber war damals der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, der sich ab 1933 den Grundsätzen des Nationalsozialismus anschloss.

Auf den ersten Blick ist die Vergangenheit des Denkmals nicht ersichtlich.
Auf den ersten Blick ist die Vergangenheit des Denkmals nicht ersichtlich.

Obwohl Hitler nie in der Schweiz einmarschierte, wirkte seine Ideologie auch in der Schweiz. Der Stein auf dem Friedhof Daleu wurde – laut einer Namensliste von 1943 – von drei Nazis realisiert, die zum Vorstand der Churer Volksbund-Ortsgruppe gehörten.

Vergessen und vermoost

Offenbar wurde das umstrittene Bauwerk über die Jahrzehnte in Graubünden vergessen. Sogar Stadtpräsident Urs Marti zeigte sich überrascht von dem nationalsozialistischen Hintergrund des Denkmals. Für die Stadt stellt sich nun die Frage, was mit dem 13 Tonnen schweren Granitklotz geschehen soll: Rückbau oder Umnutzung in einen Ort der Erinnerung? Die Verwaltung möchte zunächst einmal Reaktionen einholen – auch aus der Bevölkerung.

Der Friedhof Daleu in Chur
Der Friedhof Daleu in Chur

«Die Neuentdeckung und Diskussion zum Mahnmal bergen die Chance, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen und das Ganze aufzuarbeiten», sagt Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG). Eine Kontextualisierung anhand einer Tafel sei eine Möglichkeit, findet Kreutner. «Natürlich könnte das aber auch der Startpunkt zu einer umfassenderen Diskussion zum Thema Graubünden und der Zweite Weltkrieg sein», gibt er zu bedenken.

Lehren für die Zukunft ziehen

Kreutner ist deshalb auch entschieden gegen eine Entfernung des Denkmals: «Das führt nicht dazu, sich mit Geschichte zu beschäftigen, sondern sich das Leben einfach zu machen. Wir müssen daraus jedoch Lehren für die Zukunft ziehen können», meint der SIG-Generalsekretär.

SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner
SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner

Jonathan Kreutner bemerkt, dass der Gedenkstein nur bedingt als Nazi-Stein bezeichnet werden könne. «Es ist ein Gedenkstein für die deutschen Opfer aus dem Ersten Weltkrieg. Sehr deutliche nationalsozialistische Insignien findet man darauf nicht», sagt er.

Warum Gedenkstein an deutsche Kriegsopfer?

Doch der Fund werfe natürlich allerlei Fragen auf. «Wie kam man in Chur überhaupt in den 1930er-Jahren dazu, deutschen Kriegsopfern zu gedenken? Zu einer Zeit, als die Nazis in Deutschland schon an der Macht waren? Diesen Fragen kann man sich anhand des Fundes stellen und das ist begrüssenswert», meint Jonathan Kreutner.

Wie verbreitet war die Nazi-Ideologie in der Schweiz?
Wie verbreitet war die Nazi-Ideologie in der Schweiz?

Warum das Denkmal über lange Jahre in Vergessenheit geriet, erklärt sich der SIG-Generalsekretär  so: «Niemandem, der an diesem Stein vorbeiläuft, erschliesst sich dessen Herkunft oder zeitliche Einordnung.» Das habe vermutlich dazu geführt, dass sich nicht gross damit auseinandersetzten.

Aus allen Wolken gefallen

Dieser Meinung ist auch Stefan Theiler. Er macht in Chur Beisetzungen – auch auf dem Friedhof Daleu. Der Gedenkstein, den alle bei einem Friedhofsbesuch im Grunde passieren müssten, sei relativ unspektakulär. «Ich selbst bin so viele Male an diesem Stein vorbeigelaufen und habe nichts darüber gewusst. Das war für mich einfach ein Grabmal. Ich dachte ursprünglich, das sei der Gründungsstein des Friedhofs. Deshalb bin ich genauso wie alle anderen aus allen Wolken gefallen, als ich den Hintergrund erfahren habe.»

Eine SRF-Journalistin deckte den Nazi-Hintergrund auf.
Eine SRF-Journalistin deckte den Nazi-Hintergrund auf.

Obwohl sich seit der SRF-Reportage bereits einige Besucherinnen und Besucher das Denkmal angesehen haben, bemerkte Stefan Theiler keine riesige Zunahme an Menschen. «Ich hatte eher Angst vor einem Vandalenakt. Aber zum Glück ist nichts Derartiges passiert», sagt der Bestatter. Im Gegenteil: Inzwischen steht auf einem Stück Karton, das an den Stein gelegt wurde: «Gegen das Vergessen» – ein Herz ist darunter gemalt. Auch Blumen wurden niedergelegt. 

Für Stefan Theiler soll Daleu ein Ort des Friedens bleiben: «Der Friedhof ist überkonfessionell, deshalb gibt es hier auch keinen abgetrennten jüdischen Bereich. Wir sind doch alle die gleichen Menschen.»


Der Nazi-Stein auf dem Friedhof in Chur | © SRF
4. Februar 2023 | 17:42
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