Michael Gohl
Schweiz

Michael Gohl: «In der Musik wird Nächstenliebe gelebt!»

Zollikon ZH, 29.11.15 (kath.ch) Weihnachtssingen in multikulturellen Klassen? Ja, sagt Michael Gohl, Leiter der Musikschule Zollikon. Denn Musik schafft es, Momente absoluten Friedens zu schaffen, die jenseits der Konfessionen erfahrbar sind. Im Gespräch mit kath.ch beschreibt der Musikpädagoge, wie es ihm gelingt, bei Sängern und Publikum den «Kanal zum Herzen» anzuzapfen.

Sylvia Stam

Sie führen Weihnachtssingen mit Schulklassen durch. Ist das in unserer multikulturellen Gesellschaft noch möglich?

Michael Gohl: Es ist immer möglich, durchs Singen eine – wenn man so sagen will – «heilige» Stimmung zu schaffen, einen Moment, dem neben der geteilten Freude auch etwas Andächtiges innewohnt. Und das hat für mich im tiefsten Sinn mit Weihnachten zu tun. Im Allgemeinen wird von Andersgläubigen akzeptiert, dass da Weihnachten gefeiert wird, man spürt einen gewissen Respekt.

Kommt kein Widerstand von Andersgläubigen?

Gohl: Doch. Es kommt vor, dass ein Vater fragt, ob ich sein Kind dispensieren würde. Es gibt auch Väter, die sagen, ihr Kind dürfe schon dabei sein, es dürfe einfach ein bestimmtes Lied nicht singen. Dann sucht man individuelle Lösungen: Das Kind bleibt bei diesem Lied sitzen, oder es kommt etwas später herein, aber wir schliessen es nicht aus. Wenn gegenseitiger Respekt, christliche «Nächstenliebe» gelebt wird, dann kann ja niemand etwas dagegen haben. Und in der Musik ist es möglich, das direkt zu leben, ohne darüber zu sprechen.

Wie wird in der Musik Nächstenliebe gelebt?

Gohl: Die Nächstenliebe, die wir als Auftrag ja fast nicht erfüllen können, ist in dem Moment de facto präsent, wo alle ein perfektes Unisono singen, oder wo Sie die zweite Stimme singen und ich auf Sie höre. Wir müssen uns gar nicht gern haben, aber der «Einklang», die «Eintracht» sind gelebt: Wir versuchen, den Akkord abzustimmen, einen gemeinsamen Seelenzustand hinzukriegen. Es geht darum, einen kleinen Weg der Freude, des Berührt-Seins miteinander zu gehen.

Am Anfang das Singens mache ich jeweils eine Übung mit Klatschen: Stellen Sie sich vor, 300 Kinder klatschen einen Schlag exakt zusammen. Diese Aufmerksamkeit! In dieser Sekunde herrscht perfekte Harmonie und deshalb kurzzeitig Frieden. Ein absolutes Aufeinander-Hören! Das ist für mich das eigentliche Wunder. Und niemand denkt mehr: Muslime und Christen oder so.

Also fördert Singen die Gemeinschaft unter den Schulkindern.

Gohl: Ja. Und um diesen gemeinschaftsfördernden Geist des Singens zu erhalten, kann es bei Schulhäusern mit einem hohen Anteil an Andersgläubigen unter Umständen besser sein, das Singen nicht «Weihnachtssingen» zu nennen. Dann opfern wir lieber den Titel, aber nicht das Erlebnis. Und wir suchen auch die Lieder so aus, dass das geht.

Was heisst das konkret für die Liederauswahl?

Gohl: Gewisse Muslime dürfen zum Beispiel den Namen «Jesus» nicht aussprechen, aber «Herr» oder «Gott» geht, auch der Stall, die Krippe, das Kindlein und Bethlehem, Sterne und Engel sind kein Problem. Noch wichtiger ist das Liederprogramm: Mit einer guten Mischung erreichen wir die meisten Herzen. Wir machen das nicht nur mit Gospel. Ich habe zum Beispiel noch kein Schulhaus erlebt, in dem nicht «Maria durch ein Dornwald ging» zu einem besonders berührenden Moment wurde. Ein Grund dafür ist auch der Text, der nicht genau verstanden wird und deshalb einen geheimnisvollen Raum schafft.

Und wann ist die Mischung gut?

Gohl: Die Mischung muss etwa so gut sein wie die Mischung eines Buffets an einer Hochzeit. Meine Grundhaltung ist: «Offenheit für alle Stile und Sprachen». Zudem folgt das Programm einer inneren Dramaturgie. Zuerst Lieder zur Einstimmung, die allgemeine Freude ausdrücken. Zum Beispiel «Joy to the World» von Händel. Dann kommen zuerst Engelsgesänge, das Himmlische, und danach die Hirten, das Irdische. Und mit den Hirten können die Kinder auch tanzen, da kommt das Körperliche rein: Lieder, in denen sie klatschen oder tanzen dürfen. Dann kommt die innige Situation in Bethlehem: «En helle Schtern» von Andrew Bond zum Beispiel. Es folgen Königslieder. Das Königliche ist archetypisch, das können Sie auch mit Andersgläubigen singen. Da geht es ums Marschieren und Beschenken. Von den Königsliedern geht es zur Dankbarkeit. Und am Ende etwas zum Ausklang, ein «Alleluja» oder der Kanon «Da pacem Domine». Es braucht ein Programm, wo alles drin ist: das Körperliche, das Emotionale, das Andächtige.

Kommt das traditionelle Liedgut da nicht zu kurz?

Gohl: Schulmusik hat den Auftrag, dass die Kinder die tieferen Werte der Musik erleben dürfen. Dies ist nicht unbedingt damit erfüllt, dass man altes Liedgut vermittelt. Wenn ich den Kanal zum Herzen anzapfen kann, dann gelingt es mir, auch traditionelle Lieder zu bringen, aber es müssen gute sein. Nicht jedes alte Lied ist gut! Mein oberster Leitsatz ist: Musik ist Nahrung. Wenn ein altes Lied keine gute Nahrung ist, lassen wir es besser weg.

Gibt es Lieder, mit denen es besonders gelingt, diesen Kanal zum Herzen anzuzapfen?

Gohl: «Drü Ängel» (»Es sungen drei Engel») ist für mich mit kleinen Kindern fast ein Muss! Da kommt zwar «Jesus» drin vor, aber das kann eine Kleingruppe von nur drei Kindern singen. Dieses Lied hat eine ungeheure Intimität! Da stehen drei Kinder auf der Empore, zuerst spielt eine Flöte die Melodie, dann singen sie, begleitet von feinen Glöcklein. Und dann geschieht es! Das Mystische kommt dann durch.

Oder das bekannte «Gloria in excelsis Deo». Das berührt jeden! Die Strophen kann man mit dem Vorsingchor singen, aber alle singen den Refrain «Gloria». Da gehen einfach die Herzen auf!

Und das würden Sie als eine spirituelle Erfahrung bezeichnen?

Gohl: Man kann es so nennen. Viele Menschen erinnern sich in der Weihnachtszeit intuitiv, dass da doch mal was war. Etwas, was übergeordnet ist, oder etwas Tieferes. «Das Göttliche» ist so schnell hingesagt. Es gibt noch etwas anderes im Leben, etwas, das unaussprechbar und doch allen Menschen eigen ist.

Und dort versuchen Sie auch bei Schulklassen anzusetzen?

Gohl: Ich versuche sicher immer, dies anzustreben. Das ist für mich der Grund, warum ich Musiker bin. Musik versucht, etwas auszudrücken, was mit Worten nicht möglich ist. Und Musik vermag uns auf eine Weise zu berühren wie nichts anderes. Und wenn sie selber gemacht ist, noch viel mehr! Musik hat die Kraft, den Moment zu transformieren. Jeden Moment! (sys)

Michael Gohl ist Musikpädagoge, Chorleiter und Leiter der Musikschule Zollikon ZH. Er leitet die CAS-Ausbildung Kinderchorleitung an der Zürcher Hochschule der Künste und ist Mit-Herausgeber des Singbuchs «Advent – Lieder zum Advent für Schule und Familie».

 

 

 

 

 

 

Michael Gohl | © zVg
29. November 2015 | 07:24
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