Der Dominikaner Marie-Dominique Philippe mit Papst Johannes Paul II.
Schweiz

Metaphysiker und Missbrauchstäter: Uni Freiburg und Dominikaner unter Druck

Der Dominikaner Marie-Dominique Philippe war von 1945 bis 1982 Professor für Metaphysik in Freiburg. Und offenbar ein Kleriker, der jahrzehntelang Frauen missbraucht haben soll. Was wusste die Freiburger Fakultät? Was wussten die Schweizer Dominikaner? Bischof Charles Morerod sagt: «Was jetzt herauskommt, übertrifft bei weitem das Schlimmste, was ich mir vorstellen konnte.»

Barbara Ludwig

Anfang Woche hat eine Studienkommission in einem Bericht neue Erkenntnisse zum Missbrauchsskandal um Jean Vanier (1928–2019) veröffentlicht. Der Kanadier gründete 1964 in Frankreich die christlichen Arche-Gemeinschaften für Menschen mit und ohne geistliche Behinderung – die unterdessen weltweit existieren. Das Ausmass der sexuellen Beziehungen von Vanier ist dem Bericht zufolge noch viel grösser als bislang angenommen.

Jean Vanier, Gründer der "Arche", im Jahr 2015.
Jean Vanier, Gründer der "Arche", im Jahr 2015.

Die Expertinnen und Experten untersuchten die Zeitspanne von der Geburt des Arche-Gründers bis zu dessen Tod und nahmen dabei auch sein Umfeld unter die Lupe. Dazu zählte insbesondere sein geistlicher Mentor, der französische Dominikaner Thomas Philippe (1905-1993). Vanier hatte sich einer sektenartigen Gruppe um Philippe angeschlossen, die dessen erotisch-mystischer Theologie folgte. Sowohl der Dominikanermönch als auch Jean Vanier, der nicht Priester war, missbrauchten Frauen.

Thomas Philippe als «Initiator»

Auch in der Schweiz sind Arche-Gemeinschaften gegründet worden. Der Verein Arche Schweiz betonte in einer Mitteilung an kath.ch, dass nicht Jean Vanier die sektenartige Gruppe gegründet habe. Vanier habe sich «den devianten Theorien und Praktiken» von Thomas Philippe «angeschlossen», sei aber nicht deren «Initiator» gewesen. «Thomas Philippe praktizierte diese bereits, bevor er Jean Vanier überhaupt kennenlernte.» Dies entspricht den Erkenntnissen der Untersuchung.

Die Arche habe sich seit 2019 sehr bemüht, «damit die Wahrheit ans Licht kommt und sie ihre Aufgabe für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen auf gerechte und klare Weise fortsetzen kann», heisst es in der Mitteilung weiter. Die Organisation hat denn auch den neusten Studienbericht selber in Auftrag gegeben.

Freiburger Professor unter Verdacht

Zum Kreis um Thomas Philippe und Jean Vanier hatte auch der Freiburger Theologieprofessor Marie-Dominique Philippe (1912–2006) Kontakt. Er war der leibliche Bruder von Thomas Philippe, ebenfalls Dominikaner, und lehrte von 1945 bis 1982 antike Philosophie und Metaphysik in Freiburg (Schweiz).

Universität Freiburg.
Universität Freiburg.

Über ihn heisst es in der deutschsprachigen Zusammenfassung des Expertenberichts, es gebe keine Beweise dafür, dass er der ersten Hälfte der 1950er-Jahre «ebenfalls zur Tat schritt, aber es besteht ein starker Verdacht gegen ihn». So soll er eines der Opfer seines Bruders zu weiteren sexuellen Handlungen ermutigt haben. Marie-Dominique Philippe war geistlicher Begleiter des betreffenden Opfers.

Glaubenskongregation ermahnte den Professor

Marie-Dominique Philippe wurde 1957 laut Bericht mit kirchlichen Sanktionen belegt, weil er die «Machenschaften» seines Bruders gedeckt habe. Aber auch wegen des dringenden Verdachts, «mystisch-sexuelle Beziehungen» mit Ordensfrauen unterhalten zu haben. «Er durfte die Beichte nicht mehr abnehmen, keine geistliche Begleitung mehr ausüben und nichts mehr lehren, was mit Spiritualität zu tun hatte.»

Die Verurteilung durch die Glaubenskongregation sei «geheim» geblieben und die Vollstreckung der Strafe sei auf Antrag des Ordensmeisters der Dominikaner «angepasst» worden. 1959 sei Marie-Dominique Philippe «im Namen einer Gnade der Barmherzigkeit und des Wohlwollens» der Glaubenskongregation vollständig rehabilitiert, aber «nicht entlastet» worden, so die Zusammenfassung des Berichts. Die Glaubenskongregation habe ihn ermahnt, von nun an ein «wahrhaft priesterliches Leben» zu führen.

Laut der «La Croix»-Journalistin Céline Hoyeau hat sich Marie-Dominique Philippe nicht geläutert. Er soll von den 1970er-Jahren an etwa 15 Frauen missbraucht haben. Er soll sie bei der Beichte oder bei der geistlichen Begleitung auf den Mund geküsst und seine Hände in den Intimbereich der Frauen gelegt haben, berichtete die Journalistin Céline Hoyeau mit Verweis auf Aussagen von Betroffenen. Der Freiburger Theologie-Professor habe dies spirituell begründet.

Schweizer Dominikaner nicht zuständig

Der Provinzial der Schweizer Dominikaner, Benoît-Dominique de La Soujeole, teilt auf Anfrage mit, er habe keine Kenntnis von «verwerflichen Handlungen», die Marie-Dominique Philippe in der Schweiz begangen haben könnte.

Benoît-Dominique de La Soujeole.
Benoît-Dominique de La Soujeole.

Er erklärt zudem, dass nicht die Schweizer Provinz für den verstorbenen Dominikaner zuständig gewesen sei, obschon dieser in der Schweiz lebte. Grund: Als Professor an der Theologischen Fakultät sei Marie-Dominique Philippe einzig dem Grossmeister des Dominikanerordens unterstellt gewesen. Der Grossmeister ist gleichzeitig Grosskanzler der Theologischen Fakultät. Im Albertinum, einem Kloster in Freiburg, leben die Dominikaner, die als Dozenten an der Fakultät unterrichten.

«Der Schweizer Provinzial hat keine Jurisdiktion über dieses Kloster und die dort lebenden Ordensleute, ebenso wenig wie er für die Angelegenheiten der Theologischen Fakultät verantwortlich ist», schreibt Benoît-Dominique de La Soujeole.

Der Fall Marie-Dominique Philippe bringt die Dominikaner und die Uni Freiburg in Bedrängnis. Ein von Rektorin Astrid Epiney für Donnerstagabend angekündigtes Statement blieb bis Redaktionsschluss aus. Inzwischen liegt es vor.

Auch für den Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg, Charles Morerod, ist der Fall heikel. Er selbst gehört dem Dominikaner-Orden an. Und als Ortsbischof hat er gegenüber der Freiburger Fakultät eine Aufsichtsfunktion.

Bischof Charles Morerod: «Ich hielt mich von Pater Marie-Dominique Philippe fern»

Gegenüber kath.ch zeigt sich Bischof Charles Morerod betroffen. «Ich begann mein Dominikanernoviziat im Februar 1983. Marie-Dominique Philippe hatte im Herbst 1982 aufgehört, in Freiburg zu lehren. Ich hatte im Jahr 1981/82 an der einen oder anderen seiner Vorlesungen teilgenommen», berichtet der Dominikaner-Bischof über seinen französischen Mitbruder. 

Bischof Charles Morerod
Bischof Charles Morerod

«Ich war sehr verblüfft darüber, wie ein Philosophieprofessor eine weitgehend erwachsene Zuhörerschaft zum Lachen brachte, indem er sich über Kant und Hegel lustig machte», sagt Bischof Charles Morerod. «Ich weiss, dass diese Stimmung andere Studierende von der Kirche fernhielt. Und was mich betrifft, so hielt diese Stimmung mich von Pater Marie-Dominique Philippe fern.»

«Was jetzt herauskommt, übertrifft bei weitem das Schlimmste»

Anfang der 2000er-Jahre habe er erste Gerüchte von Missbrauchstaten erfahren. «Was jetzt herauskommt, übertrifft bei weitem das Schlimmste, was ich mir vorstellen konnte», sagt Bischof Charles Morerod. «Sein Bruder, Thomas Philippe, hatte einen wesentlich schlechteren Ruf. Diese Taten, die sich über Jahrzehnte erstrecken, sind entsetzlich.»

3.2.2023, 10.00 Uhr: Wir haben den Artikel um einen Link zum Statement der Uni Freiburg ergänzt.


Der Dominikaner Marie-Dominique Philippe mit Papst Johannes Paul II. | © zVg
2. Februar 2023 | 18:40
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