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Bericht: «Arche»-Gründer Jean Vanier missbrauchte Frauen in sektenartiger Gruppe
Der Skandal um Jean Vanier sprengt die bislang bekannte Dimension. Vanier war Mitglied einer sektenartigen Gruppe um den Dominikaner Thomas Philippe, der eine erotisch-mystische Theologie entwickelt hatte. Unter Verdacht steht auch ein ehemaliger Theologieprofessor in Freiburg.
Das Ausmass der sexuellen Beziehungen des Gründers der christlichen Arche-Gemeinschaften für Menschen mit und ohne geistige Behinderung soll noch viel grösser sein als bislang angenommen. Von 1952 bis zu seinem Tod 2019 sollen mindestens 25 Frauen ohne Behinderung eine Situation erlebt haben, die eine sexuelle Handlung oder intime Geste des Kanadiers Jean Vanier beinhaltete, heisst es in einem am Montag in Paris vorgestellten Bericht einer Studienkommission.
Opfer und «willige Partnerinnen»
Eine erste interne Untersuchung, die 2020 nach Vaniers Tod veröffentlicht wurde, hatte noch von sechs Fällen gesprochen. Menschen mit geistiger Behinderung waren laut der Untersuchung nicht von Missbrauchstaten betroffen. Dem nun veröffentlichten Bericht zufolge zeigten sich einige der Frauen als Opfer einer missbräuchlichen Beziehung. Andere als «willige Partnerinnen in einer regelwidrigen Beziehung».
Sektenartige Gruppierung
Vanier schloss sich als Laie einer sektenartigen Gruppe um den Ordenspriester Thomas Philippe (1905-1993) an, der als sein geistlicher Mentor fungierte. Die Gruppe folgte einer von Thomas Philippe vertretenen erotisch-mystischen Theologie. 1963 habe sie sich in Trosly bei Paris zusammengefunden, wo Vanier im Folgejahr die erste Arche gründete. Die Kommission habe zudem zwei weitere Personen aus dem Kreis um Philippe identifiziert, denen ebenfalls Missbrauchstaten vorgeworfen werden.
Die Studie belegt ferner, dass die vielen Personen, die sich nach 1964 der Arche anschlossen und zu ihrer schnellen weltweiten Verbreitung beitrugen hatten, keine Kenntnis von dem sektenähnlichen Kreis um Philippe und Vanier gehabt hätten.
Thomas Philippe missbrauchte Frauen
In einem Artikel des Westschweizer Portals cath.ch vom Montag ist die Rede von zwei umfangreichen Expertenberichten, die den Missbrauchsskandal rund um den Gründer der Arche-Gemeinschaften durchleuchten. Cath.ch beruft sich dabei auf die französische Tageszeitung «La Croix», die Einsicht in die Berichte nehmen konnte. Nicht nur Jean Vanier hatte demnach Sex mit Frauen, sondern auch sein Mentor, der Dominikaner Thomas Philippe.
Mystische Verklärung einer Abtreibung
Die Archive der Glaubenskongregation, die von den Ermittlern eingesehen wurden, bestätigen, dass er seit mindestens 1942 sexuelle Beziehungen zu Frauen unterhielt, die er spirituell begleitete. 1947 trieb eine der Frauen ein Kind ab, das Thomas Philippe gezeugt hatte. Die Abtreibung wurde mythisch verklärt.
Alle Eingeweihten seien aufgefordert worden «das tote Kind als etwas Heiliges zu verehren, aufgrund des Geheimnisses der Heiligen Jungfrau», schreibt cath.ch. Die Gottesmutter sei in den mystischen Wahnvorstellungen der Gruppe sehr präsent.
Prozess im Vatikan
Nach Beschwerden von zwei Frauen an die Ordensoberen gab es einen Prozess im Vatikan. 1956 wurde Thomas Philippe verboten, Sakramente zu spenden und ein Amt zu bekleiden. Doch nur die Verantwortlichen des Ordens wurden laut cath.ch über die Schwere der gegen ihn erhobenen Anschuldigungen informiert. Thomas Philippe und sein leiblicher Bruder Marie-Dominique Philippe (1912-2006), ebenfalls Mitglied des Dominikanerordens, hätten dieses Schweigen ausgenutzt und das Gerücht verbreitet, dass der Theologe Opfer ideologischer Kämpfe geworden sei.
Freiburger Theologieprofessor unter Verdacht
Was Marie-Dominique Philippe betrifft, so gebe es keine Beweise dafür, dass er in der ersten Hälfte der 1950er Jahre ebenfalls sexuelle Beziehungen unterhielt, schreibt cath.ch. Aber es bestehe ein starker Verdacht gegen ihn. Der Dominikaner ist Gründer der Gemeinschaft vom heiligen Johannes sowie der Frauengemeinschaft «Congrégation Saint-Jean». 1957 wurde er vom Vatikan verurteilt. Das Urteil sei vom Orden geheim behalten worden.
Marie-Dominique Philippe stand bereits im Zentrum des 2019 ausgestrahlten Dokfilms «Gottes missbrauchte Dienerinnen» des deutsch-französischen Fernsehsenders Arte. Laut Sendung soll er über mehrere Jahre Ordensfrauen missbraucht haben. Der Dominikaner war von 1945 bis zu seiner Pensionierung 1982 Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Freiburg (Schweiz), wo er antike Philosophie und Metaphysik lehrte.
Massnahmen gegen Missbrauch
Die Leiter der Internationalen Arche, Stephan Posner und Stacy Cates-Carney, verurteilten die Taten von Jean Vanier und Thomas Philippe erneut und baten die Opfer um Verzeihung. Die Arche habe als Reaktion auf die Fälle einen für alle Arche-Gemeinschaften weltweit geltender Referenzrahmen eingeführt, wie mit Missbrauch jeglicher Art umzugehen ist und wie Arche-Mitglieder dagegen geschützt werden können.
Ebenso sei eine zentrale Meldestelle eingerichtet worden, die mit der Untersuchung der ihr vorgelegten Fälle beauftragt ist. Zudem trete die Arche der «Kommission für Anerkennung und Wiedergutmachung» bei, die in Frankreich von der katholischen Kirche eingerichtet wurde und befugt ist, Anträge auf Wiedergutmachung für Missbrauch durch Kleriker oder Laien entgegenzunehmen.
Träger des Templeton-Preises
Der charismatische Katholik Vanier wurde 1928 in Genf geboren. 1964 gründete der Philosophie-Dozent und vormalige Marineoffizier in einem Dorf nördlich von Paris die erste von heute mehr als 150 Arche-Gemeinschaften, in der Menschen mit und ohne geistige Behinderung zusammenleben. 2015 erhielt Vanier den Templeton-Preis für Verdienste um die Menschlichkeit und Ende 2016 eine Ehrung der Französischen Ehrenlegion. (bal/kna; korrigiert, 02.02.23)
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